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[88] 1. Die Entwicklung des Vorstellungslebens bringt zunächst Vorteile für das organische, insbesondere für das vegetative Leben mit sich. Gewinnt aber das Vorstellungsleben ein zu großes Übergewicht über das Sinnenleben, so kann es gelegentlich auch zum Nachteil des organischen Lebens ausschlagen. Die Seele wird dann zum Parasiten des Leibes, welcher das Öl des Lebens verzehrt, wie Herbart sich gelegentlich ausdrückt. Wir verstehen dies, wenn wir bedenken, daß die Association, auf welcher die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen beruht, wie dies schon durch Beispiele erläutert wurde, Zufälligkeiten unterliegt. Haben günstige Umstände die Vorstellungen so gelenkt, daß ihr Lauf den Tatsachen folgt oder vorauseilt, so gewinnen wir Erkenntnis. Ungünstige Umstände können aber die Aufmerksamkeit auf Unwesentliches lenken und Gedankenverbindungen befördern, welche den Tatsachen nicht entsprechen und irre führen. Gedanken, welche nach wiederholter Prüfung den Tatsachen entsprechend gefunden worden sind, können als Regulativ der Handlung nur fördern. Nimmt man aber unter besonderen Umständen zufällig entstandene Gedankenverbindungen ohne Prüfung als den Tatsachen allgemein entsprechend hin, so ergeben sich daraus schwere Irrtümer, und bei Leitung der Handlungen durch dieselben die schlimmsten praktischen Folgen. Dies soll nun hier zunächst durch einige Beispiele aus der Kulturgeschichte erläutert werden.
2. Kinder schlagen nach dem Bilde einer unbeliebten Person, geben ihren Unwillen wohl auch laut in Worten Ausdruck. Sie mißhandeln das Bild des Raubtieres, suchen das Bild des angegriffenen Tieres vor demselben zu schützen. Mit steigender Entwicklung wird eben das erstarkte Vorstellungsleben selbstständig[88] und gewinnt zuweilen das Übergewicht über die Sinne. Es ist anzunehmen, daß wenig kultivierte Menschen, Wilde, sich ähnlich verhalten werden. Wenn nun ein solcher das Bild eines Feindes mißhandelt und verwünscht, der Feind aber nun zufällig wirklich erkrankt oder gar stirbt, so kann er leicht den Gedanken fassen, daß seine Handlungsweise, sein Wunsch, den Tod des Feindes zur Folge gehabt hat. Dieser Glaube wird sich um so leichter halten können, als auf diesem unkontrollierbaren Gebiet der Gegenbeweis sehr schwer zu erbringen ist. In der Tat ist das Verfahren, eine Puppe des Feindes oder einen Körperteil desselben, Haare, Nägel zu mißhandeln und Verwünschungen auszusprechen, ebenso wie der Glaube an die Wirksamkeit dieser Handlung ungemein weit verbreitet. Dr. Martius teilt folgende nächtliche Beobachtung aus einer Indianerhütte mit:114 »In einem dunklen Winkel erhob sich ein altes Weib, nackt, mit Staub und Asche bedeckt, ein Jammerbild des Hungers und Elends; sie war die Sklavin meiner Wirte, eine Gefangene, die man einem andern Stamme entführt hatte. Sie schlich sich vorsichtig zum Herde und blies das Feuer an, brachte einige Kräuter und Abschnitzel von Menschenhaar zum Vorschein, murmelte etwas in ernstem Tone und grinste und gestikulierte seltsam gegen die Kinder ihrer Herren. Sie kratzte einen Schädel, warf Kräuter und Haare zu Kugeln geballt ins Feuer u.s.f. Eine Zeitlang konnte ich nicht begreifen, was dies alles bedeutet, bis ich endlich, aus meiner Hängematte springend und dicht zu ihr hingehend, aus ihrem Schrecken und ihrer flehenden Geberde, sie nicht zu verraten, erkannte, daß sie Zauberkünste übte, um die Kinder ihrer Feinde und Unterdrücker zu vernichten. Dies war nicht das erste Beispiel von Zauberei, dem ich unter den Indianern begegnet war.« Hier lernen wir die einfachen psychologischen Grundlagen der unter den wilden Stämmen weit verbreiteten Zauberei verstehen und begreifen auch, daß man auf dieser Stufe sich vor den Hexen zu schützen suchte, indem man dieselben, wie es noch heute in Afrika üblich ist, zu Asche verbrannte. Es ist bekannt, wie dieser alte Glaube der wilden Völker seit dem 13. Jahrhundert unter der Autorität der Kirche (!)[89] auch in Europa wieder stärker hervortrat, wie derselbe durch die Bulle des Papstes Innozenz VIII (1448) förmlich sanktioniert wurde, wie dem durch den »Hexenhammer« geregelten teuflischen Prozeßverfahren im 15., 16. und 17. Jahrhundert Tausende von Menschen jeden Alters, Standes und Geschlechtes, namentlich aber arme alte Weiber zum Opfer fielen, wie endlich zu Ende des 17. Jahrhunderts die Vernunft zum Worte kam, so daß 1782 (!) zu Glarus die letzte Hexe hingerichtet wurde. Dieser furchtbare, Jahrhunderte währende Wahn mit seinen schrecklichen verwüstenden Folgen sollte die Menschheit warnen, sich von irgend einem Glauben die Lebenswege vorschreiben zu lassen.115
Daß solche Vorstellungen selbst den gebildeteren Kreisen der antiken Kulturvölker nicht allzufern lagen, ersehen wir z.B. aus der Satyre des Petronius (Werwolfgeschichte des Niceros, Hexenabenteuer des Trimalchio). Die ersten 3 Bücher der allerdings zur Unterhaltung dienenden »Metamorphosen« des Apuleius sind ganz von diesem Stoff erfüllt. Lucians beißender Spott über gebildete Leute, die solche Dinge ernst nehmen, bricht in der Erzählung der Unterhaltung bei dem kranken Eukrates rückhaltlos hervor.116
3. Im allgemeinen ist es ja richtig, daß was sinnlich sich nahe berührt, sich auch gedanklich verbindet. Da aber Gedanken durch Association leicht in mannigfaltige und zufällige Verbindung treten, so ist man häufigen Irrtümern ausgesetzt, wenn man umgekehrt auch alles gedanklich Verknüpfte für sinnlich verknüpft hält. Das Wort ist ein Associationszentrum, in welchem vielfältige Gedankenfäden zusammenlaufen. Es wird dadurch zur Quelle eines sonderbaren und sehr verbreiteten Aberglaubens, des Wortaberglaubens.117 Wer ein Wort ausspricht, erinnert sich lebhaft[90] des Bezeichneten und aller seiner Beziehungen. Den genannten gefürchteten Feind sieht er herankommen; er hütet sich denselben zu nennen. »Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt.« Man will »den Teufel nicht nennen«, den »Teufel nicht an die Wand malen«. »Dii avertite omen« riefen die Römer, wenn ein Wort von böser Bedeutung gesprochen wurde. Umgekehrt tritt ein ausgesprochener Wunsch lebhafter ins Bewußtsein, erscheint der Verwirklichung näher. Hat der Mensch doch oft den Wunsch anderer erfüllt, und haben ja andere seinem Worte Folge geleistet. Warum sollte nicht irgend ein Dämon, den der Naturmensch immer und überall vermutet, auch den ausgesprochenen Wunsch erfüllen? Der Name der Person erscheint dem Wilden als ein Teil derselben; er wird vor dem Feind geheim gehalten, um diesem keine Macht über die Person, keinen Anknüpfungspunkt für Zaubereien zu geben. Der Name wird bei Krankheiten geändert, um den Dämon der Krankheit zu täuschen. Der Name des Verstorbenen und Worte, die an denselben anklingen, dürfen nicht ausgesprochen werden; sie sind »Tapu«. Wer den großen, geheim gehaltenen Namen Gottes kennen würde, meinen die Mohammedaner, könnte durch Aussprechen desselben die größten Wunder verrichten. Um Mißbrauch hintanzuhalten, muß derselbe geheim gehalten werden. »Den Namen Gottes nicht eitel nennen!« Der Gedanke reicht weit zurück bis in das alte Ägypten. Die schlaue Göttin Isis bezwingt den Gott Re, indem sie ihm durch List das Geheimnis seines eigentlichen Namens entlockt. (A. Erman, Ägypten II, S. 359.)
Der Wilde weiß, daß seine Glieder seinem Willen folgen und seine Umgebung nach seinem Wunsche ändern; er täuscht sich aber, indem er die genaue Grenze verkennt, die seinem Willen gezogen ist. So sehen wir auch am Sonntag den kegelschiebenden Bauer sich unwillkürlich nach der Seite neigen, nach welcher die längst losgelassene Kugel laufen soll. Und ähnliches beobachtet der Aufmerksame am eifrigen Billardspieler. Die Nichtbeachtung der Grenze, welche wir U genannt haben, ist überhaupt eine Hauptquelle der schon besprochenen und noch zu besprechenden Verirrungen.
4. Ein Mensch liegt schlafend regungslos da und erwacht dann. In der Zwischenzeit hat er aber von einem Gang in ferner[91] Gegend geträumt, wohin sein Leib tatsächlich nicht gekommen ist; vielleicht hat er im Traume auch mit seinem längst verstorbenen Vater verkehrt, mit diesem Gespräche geführt. Nehmen wir den Fall der Ohnmacht, des Scheintodes, des Todes hinzu. Bei naiven Menschen, die wie die Kinder zwischen Träumen und Wachen keine scharfe Grenze ziehen, entsteht notwendig die Vorstellung eines zweiten, schattenhaften Ich des Menschen, welches sich von dem Leibe trennen und mit demselben wieder vereinigen kann, wobei im ersten Fall der Leib leblos, im zweiten wieder belebt wird. Es bildet sich so die Vorstellung von einer Seele,118 die ein selbständiges Leben führt. Besteht die Vorstellung von einem zweiten schattenhaften Leben nach dem Tode länger, so wird sie im einzelnen ausgemalt. Die Menschen träumen von diesem Leben, von dem Schattenreich, von dem sie so oft reden gehört haben, und die Vorstellungen hiervon werden immer reicher und mannigfaltiger. Eine solche Erzählung des Neuseeländers Te Wharewera teilt Tylor119 mit: »Eine Tante dieses Mannes starb in einer einsamen Hütte nahe den Ufern des Rotorua-Sees. Da sie eine Dame von Stande war, so wurde sie in ihrer Hütte gelassen, Tür und Fenster wurden geschlossen und die Wohnung aufgegeben, da der Todesfall sie zum Tapu gemacht hatte. Aber einen oder zwei Tage nachher ruderte Te Whare wera mit einigen anderen in einem Boote nahe bei jenem Orte und sah am frühen Morgen eine Gestalt am Ufer sitzen, die ihm zuwinkte. Es war die Tante, die wieder zum Leben zurückgekehrt war, aber schwach und frierend und halb verhungert. Als sie durch ihre rechtzeitige Hilfe wiederhergestellt war, erzählte sie ihre Erlebnisse. Ihre Seele hatte, den Leib verlassend, ihren Flug nach dem Nordkap genommen und war am Eingange von Reigna angekommen. Dort hielt sie an bei dem Stamme der kriechenden Akike-Pflanze, stieg den Abhang hinab und befand sich am sandigen Ufer eines Flusses. Als sie um sich schaute, erblickte sie in einiger Entfernung[92] einen ungeheuren Vogel (Moa), größer als ein Mensch, der in schneller Bewegung auf sie zukam. Dieser furchtbare Anblick setzte sie so in Schrecken, daß ihr erster Gedanke war den Versuch zu machen, die steile Klippe wieder zu übersteigen; als sie aber einen alten Mann ein kleines Boot auf sich zurudern sah, eilte sie ihm entgegen und entkam so dem Vogel. Als sie sicher hinüber gebracht worden war, fragte sie den alten Charon, indem sie ihren Familiennamen nannte, wo die Geister ihrer Verwandten wohnten, und als sie den Pfad, den der alte Mann ihr bezeichnet hatte, verfolgte, war sie überrascht, gerade so einen Weg zu finden, wie sie ihn auf Erden gegangen war; der Anblick der Gegend, die Bäume, Sträucher und Kräuter, das war ihr alles bekannt. Sie erreichte das Dorf und unter der versammelten Menge fand sie ihren Vater und viele nahe Verwandte. Sie begrüßten sie und bewillkommneten sie mit dem Klagegesange, den die Maoris immer anstimmen, wenn sie mit Bekannten nach langer Trennung wieder zusammentreffen. Aber als ihr Vater sie nach seinen noch lebenden Verwandten und besonders nach ihrem eigenen Kinde gefragt hatte, erklärte er ihr, daß sie auf die Erde zurückkehren müsse, denn es wäre keiner übrig geblieben, um für seinen Enkel Sorge zu tragen. Auf seine Veranlassung weigerte sie sich, die Nahrung zu genießen, welche die Toten ihr anboten, und trotz ihrer Anstrengungen, sie zurückzuhalten, brachte ihr Vater sie sicher in das Boot, setzte mit ihr über und gab ihr zwei ungeheure Bataten, die er unter dem Mantel hervorholte, damit sie dieselben zur besonderen Nahrung seines Enkels zu Hause einpflanze. Als sie aber anfing, den Abhang wieder emporzuklimmen, hielten sie zwei nachgefolgte Kinderseelen fest, und sie entkam nur dadurch, daß sie die Bataten nach ihnen warf, bei deren Verzehren sich jene aufhielten, während sie mit Hilfe des Akikestammes den Felsen emporstieg, bis sie die Erde wieder erreichte und dann dahin zurückflog, wo sie ihren Körper verlassen hatte. Bei der Rückkehr zum Leben befand sie sich im Dunkeln, und was vorgefallen war, schien ihr wie ein Traum, bis sie wahrnahm, daß sie verlassen und die Türe fest verschlossen war, woraus sie den Schluß zog, daß sie wirklich gestorben und zum Leben zurückgekehrt sei. Als der Morgen dämmerte, drang ein[93] schwaches Licht durch die Spalten des verschlossenen Hauses herein und sie sah auf dem Flur in ihrer Nähe einen Flaschenkürbis, der zum Teil mit roter Ockererde und mit Wasser gefüllt war; dies trank sie begierig bis zum Bodensatze aus, worauf sie sich ein wenig gekräftigt fühlte; es gelang ihr, die Tür zu öffnen und zum Ufer hinabzukriechen, wo sie ihre Freunde bald nachher auffanden. Diejenigen, welche ihrer Erzählung zuhörten, waren fest von der Glaubwürdigkeit ihrer Abenteuer überzeugt, doch bedauerte man sehr, daß sie nicht wenigstens eine der ungeheuren Bataten als Beweis ihrer Reise in das Land der Geister mit zurückgebracht hatte.« Diese poetische und anheimelnde Erzählung hört sich wie ein Märchen von Baumbach an. Fast möchte man die Maoris um ihre behaglichen Vorstellungen beneiden. Übrigens ließen sich dieser Erzählung noch viele andere ähnliche von andern Stämmen herrührende an die Seite stellen. Wir wollen nur noch eine erwähnen, weil dieselbe lehrt, daß Traumerscheinungen auch die Vorstellung von Tier– und Gegenstandseelen begründen. Ein Indianerhäuptling am oberen See wünschte, daß man seine schöne Flinte mit ihm begrabe. Nach einer Krankheit von wenigen Tagen schien er zu sterben, doch wurde er, weil man seines Todes nicht sicher war, nicht bestattet. Seine Frau wartete vier Tage bei ihm, er kehrte zum Leben zurück und erzählte seine Geschichte.120 »Nach dem Tode wanderte sein Geist auf der breiten Straße der Toten zum Lande der Glückseligen; dabei kam er durch große, üppig grünende Ebenen, sah schöne Haine und hörte den Gesang unzähliger Vögel, bis er schließlich von dem Gipfel eines Hügels die ferne Stadt der Toten zu Gesicht bekam, weit, weit hinten, zum Teil in Nebel gehüllt und mit glitzernden Seen und Strömen überstreut. Da sah er Herden von stattlichen Hirschen und Elentiere und anderes Wild, das ohne Furcht nahe am Pfade einherging. Aber er hatte keine Flinte, und da er sich erinnerte, wie er seine Freunde gebeten hatte, ihm seine Flinte mit ins Grab zu legen, so kehrte er um, um sie zu holen. Da traf er den ganzen Zug von Männern, Frauen und Kindern, die nach der Stadt der Toten wanderten.[94] Sie waren schwer beladen mit Flinten, Pfeifen, Kesseln, Fleisch und anderen Gegenständen; Frauen trugen Korbwerk und bemalte Ruder, und kleine Knaben hatten ihre buntgeschnitzten Keulen und ihre Bogen und Pfeile, die Geschenke ihrer Freunde.« – Als der Häuptling aus seiner Entrückung erwachte, gab er seiner Umgebung den Rat, sie sollten den Toten nicht so viele schwere Dinge mitgeben, die sie nur behinderten, sondern nur solche, die sie ausdrücklich verlangten.
5. Nach diesen Vorstellungen entspricht also nicht nur jedem Menschen- oder Tierleib, sondern auch jedem Gegenstand eine Seele oder eine Art Geist, der natürlich nach Analogie des eigenen gedacht wird. Der Wilde versteht die Vorgänge, die er in seiner Umgebung hervorbringt, am besten als Wirkungen seines Willens. So faßt er auch alle ihm angenehmen oder unangenehmen Vorkommnisse als Äußerungen eines ihm freundlich oder feindlich gesinnten geistigen Wesens auf. Die stets geschäftige und wuchernde Phantasie des nach einer Unternehmung gierigen oder durch Feinde geängstigten Negers erblickt in den unbedeutendsten ihm auffallenden Dingen die Spuren solcher freundlichen oder feindlichen Geister. Diese Objekte – »Fetische« – werden gesammelt, verehrt und gepflegt, mit Branntwein begossen, wenn sie sich günstig erweisen, wohl auch mißhandelt im Fall der vermeintlichen Ungefügigkeit. »Ein Neger wollte einst zu einem wichtigen Geschäft ausgehen, als er aber die Türschwelle überschritt, trat er auf einen Stein und verletzte sich dabei. Aha, dachte er, bist du da? So nahm er den Stein auf und er half ihm tagelang bei seinem Unternehmen.«121 Es gibt nichts, was ein Fetisch nicht tun und verrichten kann, wenn es nur der rechte Fetisch ist! Wir sind geneigt uns dieser Auffassung gegenüber sehr stolz zu fühlen, aber auch unter uns finden sich Menschen, welche Amulette, Glücksschweinchen, Medaillons und andere Dinge mit sich tragen und nicht nur zum Scherz. Unsere wissenschaftliche Auffassung von der Abhängigkeit der Naturvorgänge voneinander ist eben doch eine andere als jene, welche noch in dem Volke lebt, von dem wir ein Teil sind.
6. Die dualistischen Vorstellungen von Geistern, von einem[95] jenseitigen Leben u.s.w. sind sehr harmlos, solange sie rein theoretisch bleiben und sich auf einem gänzlich unkontrollierbaren Gebiet bewegen. Wenn aber die durch Träume erzeugten Ansichten praktische Folgen haben, zu Handlungen treiben, welche das Wohlbefinden und Leben der Genossen zerstören, ohne auch nur einem den geringsten Nutzen zu bringen, wenn das Unkontrollierbare hinreichende Macht gewinnt, sich mit dem Kontrollierbaren in Widerspruch zu setzen, dann führt dies zu den furchtbarsten Tatsachen der Kulturgeschichte. Wir denken zunächst an die Menschenopfer bei der Leichenfeier der Verstorbenen, um diesen auch nach dem Tode Frauen, Diener, kurz alle Bequemlichkeiten zu verschaffen. »Der König von Dahome122 muß in das Totenland mit einem Geisterhofe von Hunderten von Frauen, Eunuchen, Sängern, Trommlern und Soldaten einziehen.« – »Von Zeit zu Zeit versehen sie den abgeschiedenen Monarchen in der Schattenwelt mit frischer Dienerschaft.« – »Selbst dieses jährliche Gemetzel wird noch durch fast tägliche Hinmordungen ergänzt: jede Handlung, welche der König vollzieht, muß, mag sie noch so trivial sein, pflichtgetreu seinem Vater ins Schattenreich gemeldet werden. Dazu wird ein Unglücklicher, fast immer ein Kriegsgefangener, erwählt.« Solche Gebräuche sind sehr verbreitet und waren in älterer Zeit noch viel allgemeiner. Auf Borneo werden bei der Leichenfeier eines angesehenen Mannes Sklaven zu Tode gespeert, um dem Verstorbenen zu dienen. Auf den Fidschi-Inseln werden die Frauen, Freunde und Sklaven des angesehenen Verstorbenen erwürgt. Untergeordnete Diener dienen als »Gras zur Ausbettung des Grabes«. Wir alle kennen die Leichenfeier des Patroklos, die Witwenverbrennung der Inder. Dergleichen Riten reichen in verschiedener Form bis in »hochzivilisierte« Zeiten herauf.
7. Wo tote Menschen schon nach Mord so lüstern waren, konnten Geister, Dämonen und Gottheiten nicht bescheidener sein. »Die Karthager waren im Kriege mit Agathokles besiegt und hart bedrängt worden und schrieben ihre Niederlage göttlichem Zorn zu. In früheren Zeiten wählten sie die Opfer für den Kronos (Moloch) unter ihren eigenen Söhnen aus, später[96] aber speisten sie ihn mit Kindern ab, die sie zu diesem Zweck kauften und aufzogen. Sie waren damit der natürlichen Tendenz des Opfers zur Substitution gefolgt, jetzt aber, in der Zeit des Unglücks, trat der Rückschlag ein. Um die Rechnung auszugleichen und den aus Sparsamkeit begangenen Betrug wieder gut zu machen, wurde ein ungeheures Opfer veranstaltet. Zweihundert Kinder aus den edelsten Familien des Landes wurden zu dem Idol des Moloch gebracht; denn sie hatten dort eine eherne Bildsäule des Kronos, deren ausgestreckte Arme abwärts gerichtet waren, so daß das hineingelegte Kind herabrollte und in einen feuergefüllten Schlund fiel.«123 Die große Verbreitung der den Göttern dargebrachten Menschenopfer ist bekannt. Die wilden oder halbkultivierten Vorfahren aller Kulturvölker übten das Menschenopfer. Teils ist dies historisch nachgewiesen, teils deuten Sagen auf einen solchen Gebrauch (Opfer des Isaak, Opfer der Iphigenie). Kein Volk hat da dem anderen etwas vorzuwerfen. Es sei nur noch auf die nach Zeit und Ort weit entlegenen Menschenopfer hingewiesen, welche die Spanier bei der Eroberung von Mexiko daselbst vorfanden.
Diese Dämonen und Gottheiten, von denen ein eingebildeter Vorteil so teuer gegen einen reellen Schaden erkauft wird, sind nun leider sehr mannigfaltiger Art und von ungeheurer Anzahl. Herodot124 erzählt vom Zuge des Xerxes gegen die Griechen: »Diese Landschaft um das Pangäische Gebirge wird Phyllis genannt, westwärts zieht sie sich bis an den Fluß Angites, welcher in den Strynom mündet, nach Süden zu bis an den Strymon selbst, wo die Magier weiße Rosse schlachteten zu einem günstigen Übergang. Nachdem sie zur Beruhigung des Flusses dieses und noch vieles andere getan, zogen sie bei Ennea Hodoi (Neunwege) im Lande der Hedonen über die Brücken, da sie den Strom überbrückt gefunden hatten. Und als sie hörten, daß dieser Ort Ennea Hodoi genannt werde, begruben sie bei demselben ebensoviele (neun) Knaben und Jungfrauen von den Landesbewohnern lebendig. Es ist nämlich persische Sitte, lebendig[97] zu begraben, wie ich ja auch vernehme, daß Amestris, des Xerxes Weib, in ihrem Alter zweimal sieben persische Knaben von angesehenen Männern vergraben ließ, um dem Gotte, der unter der Erde wohnen soll, damit sich dankbar zu erweisen.« Andere Völker, andere Zeiten sind nicht klüger als die Perser.125 »In Galam in Afrika pflegte man einen Knaben und ein Mädchen vor dem großen Tore der Stadt lebendig zu begraben, um dieselbe dadurch uneinnehmbar zu machen.« – »Bei den Milanau-Dajaks auf Borneo wurde bei Erbauung des größten Hauses ein tiefes Loch gegraben, um den ersten Pfosten aufzunehmen, der sodann darüber aufgehängt wurde; dann wurde eine Sklavin in die Aushöhlung gebracht; auf ein Signal wurden die Stricke zerschnitten, und der ungeheure Balken stürzte herab und zerschmetterte das Mädchen zu Tode, ein Opfer den Geistern.« Alte grauenhafte Sagen, welche sich an europäische Bauten knüpfen und der abgeschwächte Gebrauch, bei solchen Gelegenheiten kleine Tiere zu schlachten oder leere Särge einzumauern, deuten darauf, daß auch unseren Vorfahren diese Handlungsweise nicht fremd war.
Die Wassergeister sind ebenso grausam. »Der Hindu rettet keinen Menschen, welcher im heiligen Ganges ertrinkt.« Die Insulaner des malayischen Archipels teilen mit vielen europäischen Völkern den Glauben, daß man einen Ertrinkenden nicht ungestraft retten dürfe. »Der See, der Fluß will sein Opfer haben.« Auch Vulkanen werden Menschen geopfert, d.h. in die Krater geworfen. So ist also die müßige wuchernde menschliche Phantasie eifrig beschäftigt, die natürlichen Übel, die der Mensch ohnehin zu ertragen hat, noch ausgiebig zu vermehren. Diese Qualen sind keineswegs nur an die niederste Kultur gebunden. Auch die europäische Menschheit der neueren Zeit hatte noch schwer an denselben zu tragen. Bedenken wir nur, daß die Inquisition, nachdem sie durch Jahrhunderte gewütet, den grausamen Tod von vielen Tausenden von Menschen verschuldet, blühende Staaten und Kulturen zu Grunde gerichtet, erst mit dem Ende des 18. Jahrhunderts zur Einstellung ihrer verhängnisvollen Tätigkeit sich gezwungen sah.126 Den Betroffenen macht[98] es gewiß keinen Unterschied, ob sie für die Erdgeister lebendig begraben oder für die Geister der Dogmen verbrannt werden, ob sie dem Aberglauben und dem Despotismus des Xerxes, den Intriguen der Magier, oder der Herrschsucht und Intoleranz moderner Priester zum Opfer fallen. Unsere Kultur ist der Barbarei noch bedenklich nahe.
8. Wenden wir uns nun freundlicheren Bildern zu. Die spontan spielenden Vorstellungen, die wechselnden Verbindungen der Gedanken, welche unabhängig von der jedesmaligen sinnlichen Leitung und ohne Nötigung durch das materielle Bedürfnis, ja weit über dessen Maß hinaus, ihr Leben betätigen, erheben den Menschen über das Tier. Das Phantasieren über das Erlebte, das Gesehene, die Poesie, ist die erste Erhebung über das Alltägliche, über das keuchende Lasttragen des Lebens. Mag diese Poesie, kritiklos ins Praktische übersetzt, auch oft schlimme Früchte tragen, wie wir eben gesehen haben, so ist sie doch der Anfang der geistigen Entwicklung. Wenn diese Phantasien sich mit der sinnlichen Erfahrung in Beziehung setzen, in der ernsten Absicht, letztere zu durchleuchten und sich anderseits von dieser zurechtweisen zu lassen, so ergeben sich stufenweise religiöse, philosophische, wissenschaftliche Vorstellungen (A. Comte). Betrachten wir also diese poetische Phantasie, welche geschäftig alles Erlebte ergänzt und modifiziert.
9. Die Knochen großer Tiere, wie Rhinozeros, Mammut u.s.w., welche in der Erde gefunden werden, erzeugen bei den naiven Bewohnern der betreffenden Gegend fast regelmäßig die Vorstellung und die Sage eines Kampfes von Riesen, der hier stattgefunden hat.127 Eine Sandhose, welche durch die Wüste, eine Wasserhose, welche über das Meer dahinschreitet, wird für den naiven Beobachter zum riesigen Dämon, dem »Dschin« von »Tausend und einer Nacht«. Dem Chinesen gelingt es sogar, den Kopf oder Schweif des Drachen zu erkennen, der sich aus den Wolken ins Meer stürzt. Die Sintflutsage der hebräischen Bibel ist, wie aus vielen gemeinsamen Einzelheiten hervorgeht, der älteren babylonischen Sage nachgebildet. Die weite Verbreitung[99] analoger Sagen rührt aber daher, daß dieselben überall fast notwendig entstehen. Wenn auf größeren Höhen versteinerte Muscheln und andere Wassertiere gefunden, gelegentlich auch Boote von nicht mehr gebräuchlicher Form daselbst ausgegraben werden, welche Befunde in der Tat weit verbreitet sind, so muß dem naiven Beobachter, der nichts von Hebungen und Senkungen weiß, dem geologische Betrachtungen fremd sind, der Gedanke einer großen, in ungewöhnliche Höhe reichenden Flut sich aufdrängen.128 Vulkane werden oft als von Geistern geheizte, von Titanen bewohnte Berge aufgefaßt, deren Bewohner Brände und Steine ausschleudern. In eigentümlicher Weise legen sich die Kamtschadalen das Vorkommen der Walfischknochen auf Vulkanen zurecht, welche letztere sie als von Geistern bewohnt fürchten. Die Geister fangen in der Nacht Walfische, kochen dieselben und werfen die Knochen hinaus. »Wenn die Geister ihre Berge geheizt haben, wie wir unsere Jurten, werfen sie den Rest der Brände zum Schornstein hinaus, um zuschließen zu können. Gott im Himmel macht es bisweilen auch so, zur Zeit, wenn unser Sommer und sein Winter ist, und wenn er seine Jurte heizt.« So erklären sie die Blitze.129
10. Alles, was der primitive Mensch nicht versteht, erscheint ihm in einem eigentümlichen Licht. Wir können diese Beleuchtung nur wiedergewinnen, wenn wir uns lebhaft in die frühe Jugendzeit, in die Kindheit zurückversetzen. Da lernen wir begreifen, wie dem Wilden sein Spiegelbild im Wasser oder das Echo seiner Stimme unter unbekannten, seltener eintretenden Umständen als etwas Geisterhaftes erscheint.130 Wer hätte als Kind[100] nicht ähnliches empfunden? Und in der Tat, kann es auch nach dem theoretischen Verständnis etwas Merkwürdigeres geben als dies körperlose Gesichtsobjekt, oder dies einfachste Phonogramm, das unsere Stimme der Luft eingeprägt hat, und das wir nach einigen Sekunden nochmals mit dem Ohr abfassen? Aber leider verliert der zivilisierte Mensch zu seinem Schaden so leicht die Fähigkeit, sich zu verwundern.
11. Ein anderer Zug, den die Wilden mit dem Kinde gemein haben, ist das Verhalten gegen die Tiere. Dem Wilden sind die Tiere fast seinesgleichen, seine »jüngeren Brüder«, mit denen er, wie die Kinder, spricht. Er wünscht ihre Sprache zu verstehen, um zu erfahren, was sie wissen. Er schreibt ihnen Kräfte zu, welche die seinigen übersteigen.131 Er kann ja nicht wie der Vogel fliegen, wie der Fisch tauchen, wie die Spinne an einem Faden klettern. Als mein etwa vierjähriger Junge einen mächtigen zahmen Raben auf der Schwelle eines Hauses sitzen sah, blieb er verwundert vor ihm stehen, und tat ganz ernsthaft die Frage: »Wer ist das?« Die Form der Rede hat ja bei Kindern nicht viel zu bedeuten. Aber auch ich konnte mich des Eindrucks einer bedächtigen Persönlichkeit nicht erwehren, zumal ich kurz zuvor gesehen, wie der Vogel einen ihn neckenden Schusterjungen »zurechtgewiesen« hatte.
12. Steht man am Ufer des Meeres, so erscheint dieses als eine flache Scheibe, das Land, wenn man weiteren Horizont hat, ebenfalls als eine Scheibe, welche auf dem Meere sozusagen schwimmt. Das Ganze deckt das »Gewölbe« des Himmels. Diese Beobachtungen bilden zugleich die ersten Grundlagen der primitiven Geographie und Astronomie. Daß dieser Anblick auf physiologischen Umständen beruht, erkennt der Beobachter auf einer hohen isolierten Bergspitze oder gar im Luftballon. Er glaubt sich dann in einer bemalten Hohlkugel zu befinden, deren untere Hälfte die Erde, deren obere Hälfte der Himmel vorstellt, die der Ballonbewegung entgegen fortzurollen oder zu fließen scheinen.[101] Diese Beobachtung ergibt sich aber zu selten, um auf die populäre Vorstellung Einfluß zu üben. Für den gemeinen Mann bleibt Meer und Erde (physikalisch) eine Scheibe, der Himmel ein Gewölbe. Wenn nun dieser Mann an einer westlichen Meeresküste die glühende Sonne ins Wasser tauchen sieht, so glaubt er, er müsse sie zischen hören. Er hört sie wohl auch wirklich zischen, indem er irgend ein zufälliges Geräusch hierauf bezieht. So entsteht die Vorstellung und Sage, welche nach Strabo132 beim »heiligen Vorgebirge« (St. Vincent) in Iberien (Spanien) in Umlauf war und die Mr. Ellis in weiter Ferne, auf den Gesellschaftsinseln der Südsee wieder gefunden hat.133
13. Das Kind und die Völker im Urzustand haben keine Gelegenheit, über solche naive Vorstellungen hinauszukommen. Das Kind sieht die Sonne hinter einem Hügel auf- oder untergehen und läuft hin, um dieselbe zu fassen. Zwar zeigt sich dann, daß der Hügel nicht der richtige war, daß dahinter ein zweiter und dritter sich erhebt, an dem die Sonne hängt, aber einer wird doch der richtige sein.134 Der Gedanke, die Sonne mit einem Netz einzufangen, schließt für das Kind keine Unmöglichkeit ein. Die über die Erde weit verbreiteten Märchen vom Sonnenfänger lassen uns eine primitive Kulturstufe vermuten, für welche das, was uns zur angenehmen Beschäftigung der Phantasie erfunden scheint, ganz wohl ernst gemeint sein konnte. Ähnlich verhält es sich wahrscheinlich mit anderen Märchen, z.B. jenem von Hans und dem Bohnenstengel, und der ganzen Gruppe analoger Geschichten. Der Himmel erscheint den naiven Sinnen des Kindes keineswegs so hoch, daß es denselben durch Klettern an einem hohen Baum für unerreichbar halten müßte. Und dies ist das gemeinsame, für uns märchenhafte Motiv der genannten Gruppe von Erzählungen.135 Erst nach und nach, mit steigender Kultur, erhalten solche Erzählungen einen leisen Zug von Humor und[102] Ironie, bis sie endlich als Hirngespinste zur bloßen Belustigung behandelt werden. Durch die Märchen primitiver Stämme, verbunden mit der Beobachtung der Kinder, erhalten wir einen Einblick in die Anfänge der Kultur, wie derselbe größer und tiefer kaum gedacht werden kann.
14. Ergreift die Phantasie ergänzend und modifizierend schon die einzelne Beobachtung, so schont sie auch den ganzen Komplex eines historischen Berichtes nicht. Mit einiger Vorsicht läßt sich aber der tatsächliche Kern aus der poetischen Hülle herausschälen, und braucht nicht mit dieser als wertlos weggeworfen zu werden. Als Beispiel sei die Tradition eines zentralamerikanischen Stammes über die Einwanderung aus dem Norden angeführt:136 »Sie wanderten von Sonnenaufgang aus. Aber es ist nicht klar, wie sie über die See gelangten, sie gingen vorwärts, als ob es keine See gegeben hätte, denn sie gingen über zerstreute Felsen, und diese Felsen waren auf Sand gerollt. Deshalb nannten sie den Ort: gereihte Steine und aufgewühlter Sand, welchen Namen sie ihm gaben während ihres Zuges in der See, indem das Wasser geteilt war, während sie durchgingen. Dann sammelte sich das Volk auf einem Berge, genannt Chi Pixab, und dort fasteten sie in Dunkelheit und Nacht. Hernach wird berichtet, daß sie abzogen und die nahende Dämmerung erwarteten. Nunmehr, siehe, waren unsere Vorfahren und unsere Väter Herren geworden und hatten ihre Dämmerung. Wir wollen auch berichten das Kommen der Dämmerung und das Erscheinen der Sonne, des Mondes und der Sterne. Groß war ihre Freude, als sie den Morgenstern sahen, der mit seinem leuchtenden Antlitz zuerst erschien vor der Sonne. Endlich begann die Sonne selbst hervorzukommen; die Tiere, große und kleine, waren voll Freude; sie erhoben sich aus den Flußtälern und Schluchten und standen auf den Berggipfeln, mit ihren Köpfen der kommenden Sonne zugewandt. Es war da eine zahllose Menschenmenge und die Dämmerung warf ihr Licht auf alle diese Völker auf einmal. Endlich ward die Fläche des Bodens von der Sonne getrocknet; wie ein Mann zeigte sich die Sonne und ihre Gegenwart wärmte und trocknete die Oberfläche des Bodens. Bevor die Sonne[103] erschien, war die Oberfläche des Bodens schlammig und feucht, und es war bevor die Sonne erschien, und dann nur erhob sich die Sonne wie ein Mann. Aber ihre Hitze hatte keine Kraft, und sie zeigte sich nur, als sie sich erhob, sie blieb nur gleich (einem Bild in) einem Spiegel, und es ist in der Tat nicht die nämliche Sonne, die jetzt erscheint, wie man in den Sagen berichtet.« – Der Bericht ist nicht sehr klar, doch das Charakteristische der arktischen Region, die lange Winternacht, die gefrorene mit Eisstücken bedeckte See, die beim Wiederscheinen kraftlose Sonne, ist unverkennbar.
15. Aus phantastisch verwobenen Naturbeobachtungen und historischen Traditionen entstehen die Vorstellungen des primitiven Menschen über seine Herkunft, über sein Verhältnis zu den Geistern, das Leben nach dem Tode, kurz die Ansichten, die man gewöhnlich als die religiösen oder mythologischen bezeichnet. Welchen Wert dieselben als poetische Erhebung haben, wurde bereits besprochen. Schon indem der Mensch die Hilfe seiner Götter oder Dämonen erhofft, wird er manche Notlage leichter ertragen, und indem er im Glück auch Schlimmes befürchtet, mag sein Übermut oft in heilsamer Weise gedämpft werden. Diese Ansichten sollen hier nicht weiter diskutiert werden. Dem Beobachter, der die modernen Religionen kennt, fällt an allen diesen primitiven Systemen auf, daß dieselben, und insbesondere die Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode, nichts mit Lohn und Strafe, nichts mit Vergeltung und überhaupt nichts mit Ethik zu tun haben.
16. Die Ethik des primitiven Menschen, die allerdings von der modernen, den ungleichen Lebensbedingungen entsprechend, sehr verschieden, aber darum nicht minder streng ist, wird ihm von der öffentlichen Meinung vorgeschrieben, welche wohl erkennt, was dem Gemeinwesen dient oder nicht zuträglich ist. Bei Verstößen gegen diese Ethik hat er sich mit dieser öffentlichen Meinung und deren Folgen abzufinden. Sein Verhalten regelt sich in natürlicher Weise nach den Verhältnissen des gegenwärtigen Lebens. Es ist gewiß nicht rationell, die Ethik auf in Bezug ihrer Richtigkeit unkontrollierbare Grundlagen zu stellen. Wo aber ein Teil des Volkes zu dauernder Sklaverei verurteilt, der andere Teil bestrebt ist, alles Gute des diesseitigen Lebens[104] für sich zu nehmen, da ist eine Ethik, welche mit Vergeltung nach dem Tode rechnet, für ersteren Teil ein nicht zu unterschätzender Trost, für letzteren Teil recht bequem. Gesünder aber ist eine Ethik, welche, wie die hoch entwickelte chinesische, nur auf Tatsächliches sich gründet. Ethik und Recht gehören zur sozialen Kulturtechnik, und stehen desto höher, je mehr das vulgäre Denken durch wissenschaftliches Denken aus beiden Gebieten verdrängt ist.
17. Es wird wohl auch behauptet, daß manchen Stämmen alle religiösen oder mythologischen Vorstellungen fehlen. Als Beispiel mag folgender Bericht Erwähnung finden.137 »Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Arafuras von Vorkay, einer der südlicheren Aru-Inseln, nicht die mindeste Religion besitzen... Von der Unsterblichkeit der Seele haben sie nicht die leiseste Ahnung. Erkundigte ich mich danach, so antworteten sie stets: Es ist noch nie ein Arafura nach seinem Tode zu uns zurückgekehrt, daher wissen wir nichts von einem zukünftigen Leben, heute hören wir zum erstenmal davon. Ihr Glaubensbekenntnis hieß: Mati, Mati sudah, d.h. wenn du tot bist, dann ist es mit dir zu Ende. Auch über die Erschaffung der Welt hatten sie nie nachgedacht. Um mich zu überzeugen, ob sie wirklich nichts von einem höheren Wesen wußten, fragte ich sie, zu wem sie um Hilfe flehten, wenn sie in Not seien und ihre Schiffe von der Gewalt eines heftigen Sturmes erfaßt würden? Der Älteste hielt eine Beratung mit seinen Genossen, dann erwiderte er: Wir wissen nicht, wen wir um Beistand anrufen können; wenn du es aber weißt, so sei so gut und sag es uns.« Wir glauben zunächst aus diesen Worten die überlegene Ironie eines Freigeistes herauszuhören, welcher die vermeintliche höhere Einsicht des aufdringlichen proselytenmachenden Europäers gebührend zurückweist. Allein derartige Berichte sind mit größter Vorsicht aufzunehmen. Wir wissen, wie allgemein bei wilden Stämmen der Glaube an Geister und Dämonen ist, und wie sehr sie von demselben gepeinigt werden. Sollte also der Bericht nicht doch auf irgend einem Mißverständnis beruhen, sondern der klare, reine Ausdruck des Sachverhalts sein, so müßte man diesen als eine Ausnahme, als ein seltenes Vorkommnis betrachten.[105]
18. Religion, Philosophie und Naturauffassung sind auf primitiver Entwicklungsstufe untrennbar. Wo, wie im antiken Griechenland, eine geschlossene Priesterkaste fehlt, welche ihre Interessen kräftig vertreten könnte, entwickelt sich leichter eine freiere, die Schranken der herkömmlichen religiös-mythologischen Vorstellungen durchbrechende Philosophie. Phantastisch und abenteuerlich ist auch diese erste Philosophie, wie wir an den Versuchen der Jonier und Pythagoräer sehen. Und wie sollte es auch anders sein. Gilt es doch vor allem, überhaupt eine Weltansicht zu gewinnen, und kann doch die Kritik erst einsetzen, wenn mehrere Versuche, mehrere ungleichwertig scheinende Ansichten zu Vergleich, Widerspruch oder Zustimmung auffordern. Philosophie und Naturwissenschaft ist da noch eins. Die ersten Philosophen sind auch Astronomen, Geometer, Physiker, kurz Naturforscher. Gelingt es ihnen aber, neben ihrer Weltanschauung von zweifelhaftem Wert auch die Bilder kleinerer Naturausschnitte in vor der Kritik besser standhaltender Weise festzuhalten, so sammeln sich diese, werden allgemeiner anerkannt und bilden die Anfänge einer besonderen Naturwissenschaft. Man denke etwa an die geometrischen Funde des Thales und Pythagoras, an die akustischen Beobachtungen des letzteren. Auch diese beginnende Naturwissenschaft enthält noch reichlich phantastische Elemente. Wir können sie unbedenklich größeren Teils als eine Naturmythologie bezeichnen. Indem nun der sehr vernünftige Versuch gemacht wird, die ganze Natur durch einen dem Forscher leichter verständlichen Teil zu begreifen, wird allmählich eine animistisch-dämonologische Naturmythologie, durch eine Mythologie der Stoffe oder Kräfte, durch eine mechanisch-atomistische oder durch eine dynamische Naturmythologie abgelöst. Häufig bestehen diese verschiedenen Auffassungen, auch nebeneinander, und die Spuren derselben reichen bis in die neue Zeit. Man denke an die Lichtteilchen Newtons, an die Atome Demokrits und Daltons, an die Theorien der modernen Chemiker, an die Käfigmoleküle und gyrostatischen Systeme, endlich an die modernen Ionen und Elektronen. Die mannigfaltigen physikalischen Stoffhypothesen, die Descartesschen und Eulerschen Wirbel, die in den neuen elektromagnetischen Strömungs- und Wirbeltheorien wieder aufleben, die Sink- und Quellstellen, welche in[106] die vierte Dimension des Raumes führen, die ultramundanen Körperchen, welche die Gravitation erzeugen u.s.w. u.s.w. mögen noch erwähnt werden. Ich denke, das ist ein Achtung gebietender Hexensabbat von abenteuerlichen modernen Vorstellungen. Diese Ausgeburten der Phantasie kämpfen ums Dasein, indem sie sich gegenseitig zu überwuchern suchen. Zahllose dieser Phantasiesprossen und Blüten müssen angesichts der Tatsachen von der unerbittlichen Kritik vernichtet werden, bevor eine sich weiter entwickeln kann und längeren Bestand hat. Um diesen Vorgang zu würdigen, bedenke man, daß es gilt, die Naturvorgänge auf die einfachsten begrifflichen Elemente zurückzuführen. Dem Begreifen der Natur muß aber die Erfassung durch die Phantasie vorausgehen, um den Begriffen lebendigen anschaulichen Inhalt zu schaffen. Und eine desto lebhaftere Phantasie ist erforderlich, je ferner die zu lösende Aufgabe dem unmittelbaren biologischen Interesse liegt.[107]
114 | Tylor, Urgeschichte, S. 173. |
115 | Ennemoser, Geschichte der Magie. Leipzig 1844. – Roskoff, Geschichte des Teufels. Leipzig 1869. – Soldan, Geschichte der Hexenprozesse. Stuttgart 1843. – Wer bei dieser Lektüre den Humor verlieren sollte, lese zur Erholung Voltaires Artikel: Bekker, Incubes, Magie, Superstition in dessen Dictionaire philosophique, und zur völligen Aufheiterung Mises (G. T. Fechner), Vier Paradoxen. Leipzig 1846, und zwar: »Es gibt Hexerei«. |
116 | Über die pathologischen Tatsachen, welche die Entwicklung solcher Vorstellungen (Lykanthropie, Vampyrismus u.s.w.), den Glauben an Zauberei fördern, vgl. die Anmerkung S. 68. Teratologische Fälle werden gewiß auch nicht wenig dazu beigetragen haben. |
117 | Tylor, Urgeschichte, S. 159. |
118 | Neben der Vorstellung von der Schattenseele entwickelt sich aus leicht begreiflichen, dem wachen Leben entnommenen Gründen der Gedanke einer Hauch- und einer Blutseele. Vgl. Odyssee G. XI, V. 33-154. Die Schattenseelen gewinnen Erinnerung, indem sie Blut trinken. |
119 | Tylor, Anfänge der Kultur, II, S. 49. |
120 | Tylor, a. a. O., I, S. 474. |
121 | Tylor, a. a. O., II, S. 159. |
122 | Tylor, a. a. O., I, S. 451. |
123 | Tylor, a. a. O., II, S. 405. Das Tatsächliche findet sich bei Diodor XX, 14. – Bei diesem noch andere Berichte über Menschenopfer. – Ferner Herodot, IV, 62. |
124 | Herodot, VII, C. 113, 114. |
125 | Tylor, a. a. O., I, S. 106 u. f. |
126 | F. Hoffmann, Geschichte der Inquisition. Bonn 1878. – Lea, A history of the inquisition. New York 1888. |
127 | Tylor, Urgeschichte, S. 104-112, Tylor, Anfänge der Kultur, I, S. 288, 289. |
128 | Tylor, Urgeschichte, S. 409 u. f. – Ich selbst hörte einmal bei Gelegenheit eines Aufenthaltes am Gardasee von einem Landmann die Ansicht aussprechen, daß der See einst viel höher gestanden und der Monte Brione zwischen Riva und Torbole eine Insel gewesen sei, weil man oben Muscheln finde. |
129 | Tylor, Urgeschichte, S. 411. |
130 | T. W. Powell, Truth and error. Chicago 1898. p. 348. – Von einem Echo, welches einen gespenstischen oder dämonischen Eindruck hinterlassen mußte, berichtet Cardanus (De subtilitate, 1560, Lib. XVIII, p. 527) nach dem Erlebnis eines Freundes A. L. Derselbe kommt nachts an einen Fluß, den er überschreiten will, und ruft: Oh! – Echo: Oh! -A. L.: Unde debo passà? – Echo: Passà! – A. L.: Debo passà qui? – Echo: Passà qui! – Da aber an der betreffenden Stelle sich ein furchtbarer Wirbel zeigt, wird A. L. von Entsetzen erfaßt und kehrt um. Cardanus erkennt die Erscheinung als Echo und weist darauf hin, daß sie nach dem Tonfall leicht als solches zu erkennen war. |
131 | Powell, a. a. O. S. 384. Auch Galton, Inquiries into human faculty. London 1883. |
132 | Strabo, III. Iberia, 1. |
133 | Ich selbst hörte noch als Kind von 4 oder 5 Jahren die Sonne zischen, als sie scheinbar in einen großen Teich tauchte, und wurde darob von den Erwachsenen verlacht. Die Erinnerung ist mir aber sehr wertvoll. |
134 | Auch ich bin als Kind der untergehenden Sonne von Hügel zu Hügel nachgelaufen. |
135 | Tylor, Urgeschichte, S. 436 u. f., 443 u. f. |
136 | Tylor, Urgeschichte, S. 387. |
137 | Lubbock, Entstehung der Zivilisation. Jena 1875. S. 175. |
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