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[158] Meine anfängliche Abneigung gegen die schönen Wissenschaften und nachmalige Bekehrung. Abreise von Berlin. Aufenthalt in Hamburg. Ich ersäufe mich auf ebendie Art, wie ein schlechter Akteur sich erschießt. Eine alte Närrin verliebt sich in mich, bekommt aber einen Korb.
Zu den schönen Wissenschaften spürte ich nicht die geringste Neigung in mir, ja, ich konnte gar nicht begreifen, wie man aus dem, was gefällt oder mißfällt – was meiner damaligen Meinung nach einen bloß subjektiven Grund haben konnte – eine Wissenschaft machen wollte.
Als ich einst mit Mendelssohn spazierenging, kam die Rede auf Dichter, deren Lesung er mir empfahl.
Ich erwiderte: »Nein, ich mag keinen Dichter lesen; was ist ein Dichter anderes als ein Lügner?« Mendelssohn lächelte dazu und sagte: »Sie stimmen hier dem Plato bei, der alle Dichter aus seiner Republik verbannte. Aber ich hoffe, Sie werden mit der Zeit ganz anders davon denken.« Und dies geschah bald.
Longin über das Erhabene fiel mir in die Hände. Die Beispiele des Erhabenen, die er aus dem Homer anführt, und besonders die berühmte Stelle der Sappho machten auf mich großen Eindruck. Ich dachte bei mir: das sind freilich Narrenpossen, aber die Bilder und Beschreibungen sind wahrlich recht schön. Ich las darauf den Homer selbst und mußte über den närrischen Kerl herzlich lachen. »Welche ernsthafte Miene,« sagte ich zu mir selbst, »bei solchen Kindermärchen!« fand aber doch nach und nach viel Behagen daran. Ossian hingegen, den ich darauf zu lesen bekam (versteht sich alles in deutschen Übersetzungen), kam mir sehr ehrwürdig vor. Die Feierlichkeit seines Stils, die nachdrückliche Kürze seiner Beschreibungen, die Reinheit seiner Gesinnungen, die Simplizität der von ihm beschriebenen Gegenstände und endlich die Ähnlichkeit seiner mit der hebräischen Poesie entzückten mich ungemein. So fand ich auch sehr viel Geschmack an Geßners Idyllen.[159]
Mein Freund, der Pole, von dem ich im vorigen Kapitel gesprochen habe, der sich hauptsächlich mit den schönen Wissenschaften abgab, freute sich sehr über meine Bekehrung, da ich ihm anfangs den Nutzen der schönen Wissenschaften streitig zu machen pflegte, und indem er mir einst eine Stelle aus den Psalmen als Muster der Stärke im Ausdrucke vorlas, worin sich der König David en maître im Fluchen zeigt, mit diesen Worten unterbrach: »Was ist dies für eine Kunst? Meine Schwiegermutter – Gott habe sie selig – pflegte, wenn sie sich mir ihrer Nachbarin zankte, noch viel toller zu fluchen.«
Nun aber triumphierte er über mich. Auch Mendelssohn und meine anderen Freunde freuten sich darüber ungemein. Sie wünschten, daß ich mich ordentlich auf Humaniora legen möchte, weil man auch ohnedem schwerlich mit eigenen Geistesprodukten der Welt nützen könne. Es hielt aber sehr schwer, mich dazu zu bereden. Ich eilte immer zum Genusse des Gegenwärtigen, ohne darauf zu denken, daß ich durch gehörige Vorbereitung diesen Genuß vermehren und dauerhafter machen konnte.
Ich fand nun nicht bloß an dem Studium der Wissenschaften, sondern überhaupt an allem Guten und Schönen Geschmack, zu dessen Erkenntnis ich gelangte, und betrieb es mit einem Enthusiasmus, der alle Grenzen überschritt. Auch der bisher erstickte Trieb nach sinnlichen Vergnügungen forderte seine Rechte. Die erste Veranlassung dazu war diese. Schon seit vielen Jahren hatten sich einige Männer, die sich mit verschiedenen Arten der Information abgaben, in den Häusern der vornehmsten und reichsten Personen der jüdischen Nation eingeschlichen, und da sie sich besonders auf die französische Sprache (die damals als der höchste Gipfel der Aufklärung angesehen wurde), Geographie, Rechnen, Buchhalterei und dergleichen gelegt, dazu noch sich mit einigen Ausdrücken und dunkel gefaßten Resultaten aus den gründlichen Wissenschaften und Systemen bekannt gemacht und sich der[160] Galanterie im Umgang mit dem schönen Geschlechte beflissen hatten, so waren sie in diesen Häusern sehr beliebt und wurden auch für geschickte Männer gehalten. Da diese merkten, daß mein Ruf immer zunahm und die Achtung für meine Kenntnisse und Talente so weit ging, daß sie dadurch gänzlich verdunkelt wurden, so dachten sie auf ein politisches Strategem, wodurch sie diesem drohenden Übel vorbeugen könnten.
Sie beschlossen, mich in ihre Gesellschaft zu ziehen, mir alle möglichen Freundschaftsbezeugungen und Dienstleistungen zu beweisen, wodurch sie erstlich durch ihren Umgang mit mir einen Teil der Achtung, den man mir erwies, auf sich zu ziehen, und zweitens durch ebendiesen Umgang nach dem mir eigenen Mitteilungsgeist und Offenheit an reellen Kenntnissen und Wissenschaften, die sie bis jetzt bloß dem Namen nach kannten, zuzunehmen hofften; drittens glaubten sie auch, da ihnen mein Enthusiasmus für alles, was ich einmal als gut erkannt, nicht unbekannt war, durch die Lockspeise sinnlicher Vergnügungen mich zu berauschen und meinen Eifer für die Wissenschaften einigermaßen lau zu machen, welches mir zugleich meine Freunde (auf die sie so eifersüchtig waren) abwendig machen mußte.
Sie ließen mich daher in ihre Gesellschaft einladen, bezeugten mir ihre Freundschaft und Hochachtung und baten sich die Ehre meines Umganges aus. Ich, der ich dabei gar nichts Arges vermutete, nahm diese Anerbietung mit Freuden an, besonders da ich überlegte, daß Mendelssohn und meine anderen Freunde zum täglichen Umgange zu groß für mich waren. Es kam mir also sehr erwünscht, Freunde von einer mittleren Gattung zu finden, mit denen ich sans façon umgehen und die Annehmlichkeiten des geselligen Lebens genießen konnte. Meine neuen Freunde führten mich in lustige Gesellschaften, in Wirtshäuser, auf Spaziergänge und zuletzt auch in –, und dies alles auf ihre eigenen Kosten. Ich von meiner Seite eröffnete ihnen[161] wiederum in meiner lustigen Laune alle Geheimnisse der Philosophie, detaillierte ihnen alle sonderbaren Systeme und berichtigte ihre Begriffe über verschiedene Gegenstände der menschlichen Erkenntnis.
Da aber dergleichen Sachen sich nicht eintrichtern lassen, und diese Gentlemen keine sonderliche Empfänglichkeit dafür hatten, so konnten sie freilich durch diese Art des Unterrichts keine großen Progressen machen. Als ich dieses merkte, fing ich an, einige Art der Verachtung gegen sie zu äußern und ohne alle Verstellung zu zeigen, daß hauptsächlich der Braten, der Wein usw. es war, was mir an dem Umgang mit ihnen gefiel. Diese Äußerung gefiel ihnen nicht sonderlich, und da sie ihren Zweck mit mir nicht völlig erreichen konnten, so suchten sie denselben zum wenigsten zum Teil zu erreichen.
Sie hinterbrachten meinen großen Freunden meine kleinsten Schritte und Äußerungen, daß ich z.B. Mendelssohn für einen philosophischen Heuchler, einige andere für keine gründlichen Köpfe halte, daß ich gefährliche philosophische Systeme auszustreuen suchte, und daß ich dem Epikurismus sehr ergeben sei (als wären sie echte Stoiker), und fingen sogar an, ihre Feindseligkeiten öffentlich zu äußern. Dieses alles tat seine Wirkung.
Hierzu kam noch, daß meine Freunde bemerkten, wie ich in meinem Studium keinem festen Plan, sondern bloß meiner Neigung folgte. Sie machten mir den Vorschlag, daß ich Medizin studieren sollte, konnten mich aber dazu nicht bereden.
Ich bemerkte, daß die Theorie der Medizin viele Teile als Hilfswissenschaften enthält, deren jeder zur gründlichen Erlernung einen eigenen Mann erfordert, und daß zur Praxis ein besonderes Genie und Beurteilungsvermögen gehört, das selten anzutreffen ist. Ich bemerkte zugleich, daß die mehrsten Mediziner sich die Unwissenheit des Publikums zunutze machten, nach eingeführtem Gebrauch einige Jahre auf Universitäten zubringen, wo sie alle Kollegien[162] zu besuchen zwar Gelegenheit haben, aber sie wenig besuchen, zuletzt für Geld und gute Worte sich eine Dissertation verfertigen lassen und also auf eine leichte Art Mediziner werden.
Ich hatte, wie schon erwähnt, große Neigung zur Malerei. Man riet mir aber davon ab, weil ich schon in Jahren ziemlich avanciert und folglich zu den zu dieser Kunst erforderlichen kleinen Übungen nicht Geduld genug haben möchte.
Endlich tat man mir den Vorschlag, die Apothekerkunst zu erlernen, und da ich schon sowohl von der Physik überhaupt als von der Chemie einige Kenntnisse erlangt hatte, so ließ ich mir dieses gefallen. Meine Absicht dabei war aber nicht, praktischen Gebrauch davon zu machen, sondern bloß anschauende theoretische Erkenntnis zu erlangen. Anstatt daher selbst Hand anzulegen und dadurch in dieser Kunst eine Fertigkeit zu erlangen, gab ich nur einen bloßen Zuschauer bei wichtigen chemischen Prozessen ab. Ich erlernte also die Apothekerkunst, ohne doch imstande zu sein, Apotheker zu werden. Nach Verlauf der dreijährigen Lehrzeit bekam Madame Rosen (in deren Apotheke ich lernte) von Herrn J.D. die ihr versprochenen sechzig Taler richtig. Ich erhielt ein Attest, daß ich die Apothekerkunst vollkommen erlernt hätte, und damit hatte alles seine Richtigkeit.
Dieses trug auch nicht wenig bei, meine Freunde von mir abwendig zu machen. Endlich ließ mich Mendelssohn zu sich rufen, nahm mich auf die Seite, benachrichtigte mich von der Abneigung derselben und zeigte mir die Ursachen davon an, nämlich: erstens, weil ich auf gar keinen Lebensplan bedacht sei und die Bemühungen meiner Freunde fruchtlos gemacht habe; zweitens, weil ich schädliche Meinungen und Systeme auszubreiten suche, und drittens, weil der Ruf sei, daß ich eine sehr freie Lebensart führe und den sinnlichen Vergnügungen sehr ergeben sei.
Ich suchte den ersten Vorwurf dadurch zu heben, daß ich[163] anführte, wie ich es meinen Freunden gleich anfangs gesagt, daß ich vermöge meiner besonderen Erziehung für alle Geschäfte eine Abneigung habe und bloß zum ruhigen spekulativen Leben geneigt sei, wodurch ich sowohl meinen natürlichen Hang befriedigen, als (durch Information und dergleichen) ein Mittel habe, mir auf eine gewisse Art meinen Unterhalt zu verschaffen. »Was den zweiten Punkt anbetrifft,« fuhr ich fort, »so sind diese Meinungen und Systeme entweder wahr, und dann weiß ich nicht, wie die Erkenntnis der Wahrheit schädlich sein könne. Sind sie es aber nicht, so widerlege man sie; auch habe ich sie nur den Herren A.B.C.D. eröffnet, die doch aufgeklärt sein und sich über alle Vorurteile wegsetzen wollen. Nicht die Schädlichkeit dieser Meinungen, sondern die Unfähigkeit dieser Herren, sie zu fassen, und die Ausweichung eines solchen demütigenden Geständnisses ist es, was sie gegen mich in Harnisch jagt. Was aber den dritten Vorwurf betrifft, so sage ich Ihnen, Herr Mendelssohn, geradezu: Wir sind alle Epikureer. Die Moralisten können uns bloß die Regeln der Klugheit, d.h. den Gebrauch der Mittel zur Erreichung gegebener Zwecke, nicht aber die Zwecke selbst vorschreiben. Ich sehe aber wohl,« setzte ich hinzu, »daß ich von Berlin weg muß, wohin? gleichviel,« und damit nahm ich von Mendelssohn Abschied. Dieser gab mir ein sehr vorteilhaftes Zeugnis meiner Fähigkeiten und Talente mit und wünschte mir glückliche Reise.
Auch von meinen anderen Freunden nahm ich Abschied und bedankte mich für die mir erzeigten Wohltaten mit sehr kurzen, aber nachdrücklichen Worten. Einem meiner Freunde fiel es sehr auf, daß ich mich bei meinem Abschied von ihm der kurzen Formel bediente: Bleiben Sie gesund, teuerster Freund! Ich bedanke mich für alle Wohltaten, die Sie mir erzeigt haben. Es kam diesem sonst vortrefflichen, aber prosaisch-poetischen Manne vor, als wäre diese Formel zu kurz und zu trocken für alle mir erwiesene[164] Freundschaft. Er sagte mir daher mit einem merklichen Unwillen: »Ist dieses alles, was Sie in Berlin gelernt haben?« Ich antwortete ihm hierauf aber nichts und ging fort, ließ mich auf die Hamburger Post einschreiben und reiste dahin ab. S.L. gab mir eine Empfehlung an einen seiner Korrespondenten mit.
Als ich in Hamburg ankam, ging ich zu dem gedachten Kaufmann und übergab ihm das Empfehlungsschreiben. Er nahm mich gut auf und bot mir während meines Aufenthalts in dieser Stadt seinen Tisch an. Da dieser Mann aber nichts anderes verstand, als Geld zu sammeln, und an Kenntnissen und Wissenschaften kein sonderliches Behagen fand, so nahm er mich bloß in Rücksicht meiner Empfehlung auf, weil er seinem Korrespondenten so etwas wohl zu Gefallen tun mußte. Er suchte mich daher aber auch, da ich vom Handel nichts verstand und außerdem keine Figur zum Ausstellen hatte, so bald als möglich loszuwerden, und fragte mich zu dem Ende, wohin ich von Hamburg weiterreisen wolle, und da ich ihm antwortete nach Holland, so gab er mir den wohlmeinenden Rat, weil jetzt die beste Jahreszeit sei, meine Reise zu beschleunigen.
Ich verdingte mich also auf ein Hamburger Schiff, das nach Holland ging. Doch dauerte es noch ein paar Wochen, ehe das Schiff abging. Zu Reisegefährten hatte ich ein paar Barbiergesellen, einen Schneider- und einen Schuhmachergesellen; diese machten sich lustig, zechten brav und sangen allerhand Lieder. Alles dieses konnte ich nicht mitmachen, ja sie verstanden kaum meine Sprache und neckten mich daher auf alle Art und Weise. Ich ertrug aber alles mit Geduld.
Das Schiff fuhr glücklich die Elbe hinunter bis an ein Dorf an dem Ausfluß der Elbe in die Nordsee, einige Meilen von Hamburg. Hier mußten wir wegen konträren Windes ungefähr sechs Wochen haltmachen und konnten nicht in See stechen.[165]
Die Schiffsleute mit den übrigen Passagieren gingen ins Wirtshaus, tranken und spielten, mir aber wurde hier die Zeit ziemlich lang, und ich befand mich noch dazu so krank, daß ich beinahe an meiner Wiederherstellung verzweifelte.
Endlich bekamen wir guten Wind, das Schiff stach in See, und am dritten Tage nach unserer Abfahrt kamen wir vor Amsterdam an.
Es kam ein Boot an das Schiff, die Passagiere nach der Stadt zu bringen. Ich wollte mich anfänglich dem Holländer Bootsmann nicht anvertrauen, weil ich in die Hände der Seelenverkäufer (wovor man mich in Hamburg gewarnt hatte) zu fallen fürchtete, bis mir der Hamburger Schiffskapitän versicherte, daß er diesen Bootsmann genau kenne, und daß ich mich ihm ohne alle Besorgnis anvertrauen könne. Ich kam also in die Stadt; da ich aber hier keine Bekanntschaft hatte und wußte, daß in 's Gravenhage ein Mann aus einer vornehmen Berliner Familie wohnte, der einen Hofmeister von Berlin hatte kommen lassen, mit dem ich bekannt war, so reiste ich mit einer Treckschüte dahin.
Hier logierte ich mich bei einer armen jüdischen Frau ein. Ehe ich mich aber noch von meiner Reise ausruhen konnte, trat ein Mann von langer hagerer Statur in schmutzigen Kleidern mit einer kurzen Pfeife im Munde herein und redete mit der Wirtin vom Hause, ohne mich zu bemerken. Endlich sagte diese zu ihm: »Herr H ..., hier ist ein fremder Mann, der aus Berlin kommt, reden Sie ihn doch an.« H. wandte sich hierauf zu mir und fragte mich, wer ich sei und was ich für Geschäfte in Holland habe? Nach meiner gewöhnlichen angeborenen Offenherzigkeit und Wahrheitsliebe erzählte ich ihm, daß ich aus Polen gebürtig sei und mich aus Liebe zu den Wissenschaften einige Jahre in Berlin aufgehalten habe und nun nach Holland mit dem Vorsatz gekommen sei, in eine Kondition zu treten, wenn sich eine Gelegenheit dazu darbieten sollte.[166] Als dieser erfuhr, ich sei ein studierter Mann, so fing er mit mir an, über verschiedene Gegenstände der Philosophie und vorzüglich der Mathematik (worin er viel getan hatte) zu sprechen. Er fand an mir einen Mann nach seinem Herzen, und wir schlossen gleich auf der Stelle ein Freundschaftsbündnis.
Nun ging ich auch zu dem vorerwähnten Hofmeister aus Berlin. Dieser stellte mich seinem Herrn als einen Mann von großen Talenten vor, der in Berlin vieles Aufsehen gemacht und von da Empfehlungsschreiben habe. Dieser Herr, der auf seinen Hofmeister und auf alles, was von Berlin kam, viel hielt, ließ mich zu Tische bitten. Da mein Äußeres nichts Sonderliches zu versprechen schien, und ich noch dazu von meiner Schiffsreise entkräftet und ganz niedergeschlagen war, so machte ich am Tische eine seltsame Figur, und der Herr wußte nicht, was er von mir denken sollte. Da er aber, wie gesagt, auf die schriftliche Empfehlung Mendelssohns und auf die mündliche seines Hofmeisters viel Vertrauen setzte, so unterdrückte er seine Verwunderung und bot mir, solange ich mich hier aufhalten wolle, seinen Tisch an.
Zum Abend lud er seine Schwäger (die Kinder des wegen seines Reichtums und seiner Wohltätigkeit berühmten B.) zu sich, damit sie, die selbst Gelehrte waren, mir auf den Zahn fühlen möchten. Sie unterredeten sich mit mir über verschiedene Gegenstände aus dem Talmud, ja sogar aus der Kabbala. Da ich mich nun hierin als ein in die Geheimnisse dieser Arten von Gelehrsamkeit Eingeweihter zeigte, ihnen sogar Stellen, die sie für unerklärbar hielten, erklärte und die größten Knoten auflöste, so bewunderten sie mich und glaubten einen großen Mann gefunden zu haben.
Es dauerte aber nicht lange, so verwandelte sich diese Bewunderung in Haß, wozu folgendes die Veranlassung gab: Bei Gelegenheit der Kabbala erzählten sie mir von einem göttlichen Mann, der sich seit vielen Jahren in London[167] aufhalte und durch die Kabbala Wunder verrichten könne. Ich äußerte einige Zweifel darüber, sie versicherten aber, dergleichen bei dem Aufenthalte dieses Mannes in 's Gravenhage selbst beigewohnt zu haben. Da ich nun hierauf als Philosoph antwortete, daß ich zwar in die Wahrheit ihrer Erzählung keinen Zweifel setze, sie aber vielleicht die Sache selbst nicht gehörig untersucht hätten und vorgefaßte Meinungen für Tatsachen ausgäben, und daß ich überhaupt die Wirkung der Kabbala so lange in Zweifel ziehen müsse, bis man mir zeigen würde, daß diese Wirkung von der Art ist, daß sie nach den bekannten Naturgesetzen nicht erklärt werden kann, so hielten sie diese Erklärung für Ketzerei.
Am Ende der Mahlzeit gab man mir den Weinbecher, um, wie gewöhnlich, den Segen darüber zu sprechen. Ich lehnte diese Ehre ab und erklärte zugleich, daß dieses nicht aus einer falschen Schamhaftigkeit, vor vielen Menschen zu sprechen, geschehe, indem ich in Polen Rabbiner gewesen und sehr oft in großen Versammlungen Disputationen und Predigten gehalten, daß ich auch, um dieses zu beweisen, bereit sei, täglich öffentliche Vorlesungen zu halten. Bloß die Liebe zur Wahrheit und die Abscheu vor einem Widerspruch mit mir selbst mache es mir unmöglich, das Gebet, das ich als Folge eines anthropomorphischen Systems der Theologie ansähe, ohne merklichen Widerwillen zu verrichten.
Hier ging ihnen die Geduld völlig aus, sie schalten mich einen verdammten Ketzer und versicherten, daß es Todsünde sei, mich in einem jüdischen Hause zu dulden. Der Herr des Hauses, der zwar kein Philosoph, aber ein vernünftiger aufgeklärter Mann war, kehrte sich wenig an ihre Reden, ihm war an meinen geringen Talenten mehr als an meiner Frömmigkeit gelegen. Sie brachen also gleich nach Tische auf und gingen voller Unwill nach Hause; alle ihre nachher angewandten Bemühungen aber, mich aus ihres Schwagers Hause zu entfernen, waren fruchtlos.[168]
Ich blieb ungefähr neun Monate darin, lebte auf einem völlig freien Fuß, übrigens aber sehr eingezogen, ohne alle Beschäftigung und ohne allen vernünftigen Umgang. Eine, in Ansehung der Psychologie und der Moral merkwürdige Begebenheit kann ich hier nicht mit Stillschweigen übergehen.
Da ich in Holland an nichts als an einer meinen Kräften angemessenen Beschäftigung Mangel hatte, so wurde ich, wie natürlich, hypochondrisch. Ich geriet nicht selten aus Lebensüberdruß auf den Einfall, mich selbst zu entleiben und auf diese Art meinem Leben, das mir zur Last war, ein Ende zu machen. Doch sobald es zur Tat kam, behielt immer die Liebe zum Leben wieder die Oberhand. Einst schmauste ich am Hamansfest nach dem Gebrauch der Juden in dem Hause, wo ich einen Tisch hatte, tüchtig. Nach Endigung der Mahlzeit, ungefähr gegen Mitternacht, ging ich nach meinem Logis; und da in Holland, wie bekannt, überall Wasserkanäle angebracht sind und ich längs einem solchen Kanal hingehen mußte, so kam mir dieses sehr bequem vor, mein schon oft gefaßtes Vorhaben auszuführen. Ich dachte bei mir selbst: mein Leben ist mir zur Last, ich habe zwar jetzt keinen Mangel, wie wird es aber mit mir in Zukunft aussehen? und wodurch werde ich, da ich zu nichts in der Welt zu gebrauchen bin, mein Leben erhalten? Ich habe schon zu verschiedenen Malen, bei kalter Überlegung, beschlossen, demselben ein Ende zu machen, und nur meine Feigheit hielt mich bisher davon ab; jetzt aber, da ich ziemlich berauscht am Rande eines tiefen Grabens stehe, kann dieses ohne alle Schwierigkeit geschehn. Schon bog ich meinen Körper über den Kanal, um mich hineinzustürzen; aber nur der obere Teil des Körpers folgte dem Befehl der Seele, indem er sich auf den untern Teil verließ, daß dieser gewiß seine Dienste nicht leisten würde; so stand ich eine geraume Zeit mit dem halben Leibe über das Wasser gebogen; stemmte mich aber bedächtlich mit den Beinen[169] fest an die Erde, so daß man geglaubt haben würde, ich machte dem Wasser mein Kompliment. Dieses Zaudern vernichtete meinen ganzen Plan. Es war mir zumute wie einem, der Medizin einnehmen soll, und da er nicht Mut genug dazu hat, die Schale zu verschiedenen Malen an den Mund nimmt und wieder wegsetzt. Ich fing endlich über mich selbst zu lachen an; indem ich überlegte, daß mein ganzer Bewegungsgrund zum Selbstmord nichts anders als wahrer gegenwärtiger Überfluß und eingebildeter zukünftiger Mangel sei. (Die Liebe zum Leben oder der Trieb, das Leben zu erhalten, scheint mit der Abnahme und Ungewißheit der Mittel dazu vielmehr zu- als abzunehmen, indem der Mensch dadurch zu einer desto größern Tätigkeit angespornt wird, die ein desto größeres Lebensgefühl zur Folge hat. Nur muß dieser Mangel nicht sein Maximum erreicht haben; weil alsdann Verzweiflung, d.h. die Vorstellung von der Unmöglichkeit das Leben zu erhalten, und folglich auch das Verlangen, demselben ein Ende zu machen, eine notwendige Folge davon ist. So wird auch jede Leidenschaft durch die Hindernisse, die sich ihrer Befriedigung in den Weg stellen, und dadurch auch der Lebenstrieb vermehrt; nur müssen diese Hindernisse nicht die Befriedigung derselben unmöglich machen, weil alsdann Verzweiflung darauf folgen muß.) Ich ließ es daher für jetzt weislich bleiben, ging nach Hause und machte dieser tragikomischen Szene ein Ende.
Noch einer komischen Szene muß ich hier erwähnen. In 's Gravenhage lebte damals eine Frau von ungefähr fünfundvierzig Jahren, die in ihrer Jugend sehr hübsch gewesen sein sollte, und ernährte sich von Information in der französischen Sprache. Diese besuchte mich eines Tages in meiner Wohnung, machte sich mir bekannt und äußerte eine unwiderstehliche Begierde nach wissenschaftlicher Unterhaltung, versicherte daher, daß sie mich öfter in meinem Logis besuchen würde und bat sich die Ehre meines Gegenbesuchs aus.[170]
Ich nahm dieses Anerbieten sehr willig an und besuchte sie einigemal wieder, wodurch unser Umgang immer vertrauter wurde. Wir unterhielten uns gemeiniglich über Gegenstände der Philosophie und schönen Wissenschaft und dergleichen. Da ich nun damals noch im Ehestand lebte und Madam außer ihrer schwärmerischen Gelehrsamkeit nicht viel Anziehendes für mich hatte, so dachte ich auf nichts als auf bloße Unterhaltung. Die Dame aber, die schon ziemlich lange Witwe war und ihrem Vorgeben nach eine Neigung zu mir gefaßt hatte, fing an, dieses durch Blicke und Worte auf eine romantische Art zu äußern, welches mir sehr komisch vorkam. Nie konnte ich glauben, daß eine Dame sich im Ernste in mich verlieben könne. Ich hielt daher ihre Äußerungen darüber für bloße Grimasse und Affektation. Sie hingegen zeigte immer mehr Ernst, wurde zuweilen mitten in der Unterredung nachdenkend und zerfloß in Tränen.
Bei einer Unterredung dieser Art war es, daß wir auf den Artikel der Liebe gerieten. Offenherzig sagte ich, daß ich ein Frauenzimmer bloß wegen ihrer Vorzüge als Frauenzimmer (Schönheit, Reiz, Annehmlichkeit und dergleichen) lieben könne, und daß alle andere Vorzüge, die sie sonst besitzen mag (Talente, Gelehrsamkeit usw.), bei mir bloß Hochachtung, keineswegs aber Liebe hervorzubringen vermöchten. Die Dame führte sowohl Gründe a priori, als Beispiele aus der Erfahrung und vorzüglich aus französischen Romanen dawider an, und suchte meine Begriffe von der Liebe zu berichtigen. Ich ließ mich aber nicht so leicht überführen, und da die Dame ihre Grimassen aufs äußerste trieb, stand ich auf und empfahl mich ihr. Sie begleitete mich bis an die Türe, ergriff mich bei der Hand und wollte mich nicht fortlassen. Mit derben Worten fragte ich: was ist Ihnen, Madam? und sie erwiderte mit zitternder Stimme und tränenden Augen: Ich liebe Sie.
Als ich diese lakonische Liebeserklärung hörte, fing ich heftig zu lachen an, riß mich von ihr los und lief davon.[171] Die Dame blieb untröstlich. Einige Zeit nachher schickte sie mir folgendes Billett:
Mein Herr!
Ich habe mich in Ihnen sehr geirrt. Ich hielt Sie für einen Mann von edler Denkungsart und hohen Empfindungen. Aber wie ich nun sehe, sind Sie ein echter Epikureer. Sie suchen bloß das Vergnügen. Ein Frauenzimmer kann Ihnen bloß wegen seiner Schönheit gefallen. Eine Madam Dacier z.B., die alle griechischen und lateinischen Autoren durchstudiert, in ihrer Muttersprache übersetzt und mit sehr gelehrten Anmerkungen bereichert hat, könnte Ihnen nicht gefallen. Warum? sie war nicht hübsch. Schämen Sie sich doch, mein Herr, da Sie sonst so aufgeklärt sind, solche verderbliche Prinzipien zu hegen, und wollen Sie nicht in sich gehn, so zittern Sie vor der Rache beleidigter Liebe Ihrer usw.
Ich antwortete ihr durch folgendes Billett:
Madam!
Daß Sie sich geirrt haben, lehrt der Erfolg. Sie sagen, ich sei ein echter Epikureer, Sie tun mir hiermit viel Ehre an. So wie ich den Titel eines Epikureers überhaupt verabscheue, so bin ich im Gegenteil auf den Titel eines echten Epikureers recht stolz. Freilich gefällt mir an einem Frauenzimmer bloß Schönheit. Da diese aber durch andere Talente erhöht werden kann, so müssen mir auch diese als Mittel zum Hauptzweck bei einem Frauenzimmer gefallen. Im entgegengesetzten Falle kann ich ein solches Frauenzimmer wegen dieser Talente bloß schätzen, keineswegs aber lieben, wie ich mich schon mündlich darüber erklärt habe. Für die Gelehrsamkeit der Madam Dacier habe ich allen Respekt; sie konnte sich allenfalls in die griechischen Helden, die bei der Belagerung von Troja zugegen waren, verlieben und von ihren sie beständig umschwebenden Manen Gegenliebe erwarten, weiter aber auch nichts. Was übrigens, Madam, Ihre Rache anbetrifft, so fürchte ich diese nicht, indem die alles zerstörende[172] Zeit Ihre Waffen (Zähne und Nägel nämlich) zerbrochen hat. Ihr ...
So endigte sich dieser seltsame Liebeshandel.
Ich merkte, daß in Holland für mich nichts zu tun sei, indem der Haupttrieb der holländischen Juden Geldsammeln ist, und sie keine sonderliche Neigung zu Wissenschaften zeigen. Auch konnte ich wegen Mangel an Kenntnis der holländischen Sprache keinen Unterricht in irgendeiner Wissenschaft geben. Ich beschloß, also wieder über Hamburg nach Berlin zurückzukehren, fand aber Gelegenheit bis Hannover zu Lande zu reisen. In Hannover ging ich zu dem reichen M ... (einem Mann, der nicht einmal das Verdienst hat, seinen Reichtum selbst zu genießen), zeigte ihm mein Empfehlungsschreiben von Mendelssohn und stellte ihm meine jetzigen dringenden Umstände vor. Er las das Empfehlungsschreiben eines Mendelssohn bedächtlich durch, ließ sich darauf Tinte und Feder geben und schrieb, ohne nur ein Wort mit mir zu sprechen, darunter: Auch ich M ... bezeuge hiermit, daß das, was Herr Mendelssohn zum Lobe des Herrn Salomon schreibt, seine völlige Richtigkeit habe, und damit ließ er mich gehn.
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