II. Das Gesetz

[310] Wir haben hier dem Leser ein großes Mysterium unsres heiligen Mannes zu enthüllen – nämlich, daß er seine ganze Abhandlung über das Recht mit einer allgemeinen Erklärung des Rechts beginnt, die ihm »entspringt«, solange er vom Recht spricht, und von ihm erst dann wieder eingefangen wird, sobald er auf ganz etwas Anderes, nämlich auf das Gesetz, zu sprechen kommt. Damals rief das Evangelium unserm Heiligen zu: Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet – und er tat seinen Mund auf, lehrete und sprach:

»Das Recht ist der Geist der Gesellschaft.« (Die Gesellschaft aber ist das Heilige.) »Hat die Gesellschaft einen Willen, so ist dieser Wille eben das Recht: sie besteht nur durch das Recht. Da sie aber nur dadurch besteht« (nicht durch das Recht, sondern nur dadurch), »daß sie über die Einzelnen eine Herrschaft ausübt, so ist das Recht ihr Herrscherwille.« p. 244.

D.h., »das Recht... ist... hat... so... eben....besteht nur... da... aber nur dadurch besteht... daß... so... Herrscherwille.« Dieser Satz ist der vollendete Sancho.

Dieser Satz »entsprang« unsrem Heiligen damals, weil er nicht in seine Thesen paßte, und wird jetzt teilweise wieder eingefangen, weil er ihm jetzt teilweise wieder paßt.

»Es dauern die Staaten so lange, als es einen herrschenden Willen gibt und dieser herrschende Wille als gleichbedeutend mit dem eignen Willen angesehen wird. Des Herrn Wille ist Gesetz.« p. 256.


Der Herrscherwille der Gesellschaft = Recht,

Der herrschende Wille = Gesetz –

Recht = Gesetz.


»Mitunter«, d.h. als Wirtshausschild seiner »Abhandlung« über das Gesetz, wird sich auch noch ein Unterschied zwischen Recht und Gesetz herausstellen, der merkwürdigerweise beinahe ebensowenig mit seiner »Abhandlung« über das Gesetz zu tun hat als die »entsprungene« Definition des Rechts mit der »Abhandlung« über das »Recht«:

»Was aber Recht, was in einer Gesellschaft Rechtens ist, das kommt auch zu Worte – im Gesetze« p. 255.

Dieser Satz ist eine »unbeholfene« Kopie aus Hegel:

»Was gesetzmäßig, ist die Quelle der Erkenntnis dessen, was Recht ist oder eigentlich was Rechtens ist.«

Was Sankt Sancho »zu Worte kommen« heißt, nennt Hegel auch »gesetzt«, »gewußt« etc. »Rechtsphilosophie«. § 211 seqq.[310]

Warum Sankt Sancho das Recht als »den Willen« oder »Herrscherwillen« der Gesellschaft aus seiner »Abhandlung« über das Recht ausschließen mußte, ist sehr begreiflich. Nur insoweit das Recht als Macht des Menschen bestimmt war, konnte er es als seine Macht in sich zurücknehmen. Er mußte also seiner Antithese zulieb die materialistische Bestimmung der »Macht« festhalten und die idealistische des »Willens« »entspringen« lassen. Warum er jetzt, wo er vom »Gesetze« spricht, den »Willen« wieder einfängt, werden wir bei den Antithesen über das Gesetz sehen.

In der wirklichen Geschichte bildeten diejenigen Theoretiker, die die Macht als die Grundlage des Rechts betrachteten, den direktesten Gegensatz gegen diejenigen, die den Willen für die Basis des Rechts ansehen – einen Gegensatz, den Sankt Sancho auch als den von Realismus (Kind, Alter, Neger pp.) und Idealismus (Jüngling, Neuer, Mongole pp.) auffassen könnte. Wird die Macht als die, Basis des Rechts angenommen, wie es Hobbes etc. tun, so sind Recht, Gesetz pp. nur Symptom, Ausdruck anderer Verhältnisse, auf denen die Staatsmacht beruht. Das materielle Leben der Individuen, welches keineswegs von ihrem bloßen »Willen« abhängt, ihre Produktionsweise und die Verkehrsform, die sich wechselseitig bedingen, ist die reelle Basis des Staats und bleibt es auf allen Stufen, auf denen die Teilung der Arbeit und das Privateigentum noch nötig sind, ganz unabhängig vom Willen der Individuen. Diese wirklichen Verhältnisse sind keineswegs von der Staatsmacht geschaffen, sie sind vielmehr die sie schaffende Macht. Die unter diesen Verhältnissen herrschenden Individuen müssen, abgesehen davon, daß ihre Macht sich als Staat konstituieren muß, ihrem durch diese bestimmten Verhältnisse bedingten Willen einen allgemeinen Ausdruck als Staatswillen geben, als Gesetz – einen Ausdruck, dessen Inhalt immer durch die Verhältnisse dieser Klasse gegeben ist, wie das Privat- und Kriminalrecht aufs Klarste beweisen. So wenig es von ihrem idealistischen Willen oder Willkür abhängt, ob ihre Körper schwer sind, so wenig hängt es von ihm ab, ob sie ihren eignen Willen in der Form des Gesetzes durchsetzen und zugleich von der persönlichen Willkür jedes Einzelnen unter ihnen unabhängig setzen. Ihre persönliche Herrschaft muß sich zugleich als eine Durchschnittsherrschaft konstituieren. Ihre persönliche Macht beruht auf Lebensbedingungen, die sich als Vielen gemeinschaftliche entwickeln, deren Fortbestand sie als Herrschende gegen andere und zugleich als für Alle geltende zu behaupten haben. Der Ausdruck dieses durch ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens ist das Gesetz. Gerade das Durchsetzen der voneinander unabhängigen Individuen und ihrer eignen Willen, das auf dieser Basis in ihrem Verhalten gegeneinander notwendig egoistisch ist, macht die[311] Selbstverleugnung im Gesetz und Recht nötig, Selbstverleugnung im Ausnahmsfall, Selbstbehauptung ihrer Interessen im Durchschnittsfall (die daher nicht ihnen, sondern nur dem »mit sich einigen Egoisten« für Selbstverleugnung gilt). Dasselbe gilt von den beherrschten Klassen, von deren Willen es ebensowenig abhängt, ob Gesetz und Staat bestehen. Z.B. solange die Produktivkräfte noch nicht so weit entwickelt sind, um die Konkurrenz überflüssig zu machen, und deshalb die Konkurrenz immer wieder hervorrufen würden, solange würden die beherrschten Klassen das Unmögliche wollen, wenn sie den »Willen« hätten, die Konkurrenz und mit ihr Staat und Gesetz abzuschaffen. Übrigens entsteht dieser »Wille«, ehe die Verhältnisse so weit entwickelt sind, daß sie ihn produzieren können, auch nur in der Einbildung des Ideologen. Nachdem die Verhältnisse weit genug entwickelt waren, ihn zu produzieren, kann der Ideologe diesen Willen als einen bloß willkürlichen und daher zu allen Zeiten und unter allen Umständen faßbaren sich vorstellen.

Ebensowenig wie das Recht geht das Verbrechen, d.h. der Kampf des isolierten Einzelnen gegen die herrschenden Verhältnisse, aus der reinen Willkür hervor. Es hat vielmehr dieselben Bedingungen wie jene Herrschaft. Dieselben Visionäre, die im Recht und Gesetz die Herrschaft eines für sich selbständigen allgemeinen Willens erblicken, können im Verbrechen den bloßen Bruch des Rechts und Gesetzes sehen. Nicht der Staat besteht also durch den herrschenden Willen, sondern der aus der materiellen Lebensweise der Individuen hervorgehende Staat hat auch die Gestalt eines herrschenden Willens. Verliert dieser die Herrschaft, so hat sich nicht nur der Wille, sondern auch das materielle Dasein und Leben der Individuen, und bloß deswegen ihr Wille, verändert. Es ist möglich, daß Rechte und Gesetze sich »forterben«, aber sie sind dann auch nicht mehr herrschend, sondern nominell, wovon die altrömische und englische Rechtsgeschichte eklatante Beispiele liefern. Wir sahen schon früher, wie bei den Philosophen vermittelst der Trennung der Gedanken von den ihnen zur Basis dienenden Individuen und ihren empirischen Verhältnissen eine Entwicklung und Geschichte der bloßen Gedanken entstehen konnte. Ebenso kann man hier wieder das Recht von seiner realen Basis trennen, womit man dann einen »Herrscherwillen« herausbekommt, der sich in den verschiedenen Zeiten verschieden modifiziert und in seinen Schöpfungen, den Gesetzen, eine eigne selbständige Geschichte hat. Womit sich die politische und bürgerliche Geschichte in eine Geschichte der Herrschaft von aufeinanderfolgenden Gesetzen ideologisch auflöst. Dies ist die spezifische Illusion der Juristen und Politiker, die Jacques le bonhomme sans façon adoptiert. Er macht sich dieselbe Illusion wie etwa[312] Friedrich Wilhelm IV., der auch die Gesetze für bloße Einfälle des Herrscherwillens hält und daher immer findet, daß sie am »plumpen Etwas« der Welt scheitern. Kaum [eine] seine[r] durchaus unschädlichen Marotten realisiert er weiter als in Cabinetsordren. Er befehle einmal 25 Millionen Anleihen, den hundertzehnten Teil der englischen Staatsschuld, und er wird sehen, wessen Wille sein Herrscherwille ist. Wir werden übrigens auch später finden, daß Jacques le bonhomme die Phantome oder Spuke seines Souveräns und Mitberliners als Dokumente benutzt, um daraus seine eignen theoretischen Sparren über Recht, Gesetz, Verbrechen usw. zu spinnen. Es darf uns dies um so weniger wundern, da selbst der Spuk der »Vossischen Zeitung« ihm zu wiederholten Malen etwas »präsentiert«, z.B. den Rechtsstaat. Die oberflächlichste Betrachtung der Gesetzgebung, z. B, der Armengesetzgebung in allen Ländern, wird zeigen, wie weit es die Herrschenden brachten, wenn sie durch ihren bloßen »Herrscherwillen«, d.h. als nur Wollende, irgend etwas durchsetzen zu können sich einbildeten. Sankt Sancho muß übrigens die Illusion der Juristen und Politiker über den Herrscherwillen akzeptieren, um in den Gleichungen und Antithesen, an denen wir uns gleich ergötzen werden, seinen eignen Willen herrlich leuchten lassen zu können und dahin zu kommen, daß er sich irgendeinen Gedanken, den er sich in den Kopf gesetzt hat, wieder aus dem Kopf schlagen kann.

»Meine lieben Brüder, achtet es eitel Freude, wenn ihr in Anfechtungen fallet.« Saint-Jacques le bonhomme 1, 2.


Gesetz = Herrscherwille des Staats,

= Staatswillen.


Anthithesen:

Staatswille, fremder Wille

Mein Wille, eigner Wille.

Herrscherwille des Staats

Eigner Wille Meiner, Mein Eigenwille.

Staatseigne, die das

»Selbsteigne (Einzige),

Gesetz des Staats tragen

die ihr Gesetz in sich selbst tragen.« p. 268.


Gleichungen:

A) Der Staatswille = Nicht Mein Wille.

B) Mein Wille – Nicht der Staatswille.

C) Wille = Wollen.

D) Mein Wille = Nichtwollen des Staats,

= Wille wider den Staat,

= Widerwille gegen den Staat.[313]

E) Den Nichtstaat wollen = Eigenwille.

Eigenwille = Den Staat nicht wollen.

F) Der Staatswille – Das Nichts Meines Willens,

= Meine Willenlosigkeit.

G) Meine Willenlosigkeit = Sein des Staatswillens.


(Schon aus dem Früheren wissen wir, daß das Sein des Staatswillens gleich ist dem Sein des Staats, woraus sich folgende neue Gleichung ergibt:)


H) Meine Willenlosigkeit = Sein des Staats.

I) Das Nicht Meiner Willenlosigkeit

= Nichtsein des Staats.

K) Der Eigenwille = Das Nichts des Staats.

L) Mein Wille = Nichtsein des Staats.


Note 1. Schon nach dem oben zitierten Satze von p. 256

»dauern die Staaten so lange, als der herrschende Wille als gleichbedeutend mit dem eignen Willen angesehen wird.«.

Note 2.

»Wer, um zu bestehen« (wird dem Staat ins Gewissen geredet), »auf die Willenlosigkeit Andrer rechnen muß, der ist ein Machwerk dieser Andern, wie der Herr ein Machwerk des Dieners ist.« p. 257. (Gleichungen F, G, H, 1.)

Note 3.

»Der eigne Wille Meiner ist der Verderber des Staats. Er wird deshalb von Letzterem als Eigenwille gebrandmarkt. Der eigne Wille und der Staat sind todfeindliche Mächte, zwischen welchen kein ewiger Friede möglich ist.« p. 257. – »Daher überwacht er auch wirklich Alle, er sieht in Jedem einen Egoisten« (den Eigenwillen), »und vor dem Egoisten fürchtet er sich.« p. 263. »Der Staat... widersetzt sich dem Zweikampf... selbst jede Prügelei wird gestraft« (auch wenn man die Polizei nicht herbeiruft), p. 245.

Note 4.

»Für ihn, den Staat, ist's unumgänglich nötig, daß Niemand einen eignen Willen habe; hätte ihn Einer, so müßte der Staat ihn ausschließen« (einsperren, verbannen); »hätten ihn Alle« (»wer ist diese Person, die Ihr ›Alle‹ nennt?«), »so schafften sie den Staat ab.« p. 257.

Dies kann nun auch rhetorisch ausgeführt werden:

»Was helfen Deine Gesetze, wenn sie Keiner befolgt, was Deine Befehle, wenn sich Niemand befehlen läßt?« p. 256.64[314]

Note 5.

Die einfache Antithese: Staatswille – Mein Wille erhält im Folgenden eine scheinbare Motivierung: »Dächte Man sich auch selbst den Fall, daß jeder Einzelne im Volk den gleichen Willen ausgesprochen hätte und hierdurch ein vollkommener Gesamtwille« (!) »zustande gekommen wäre: die Sache bliebe dennoch dieselbe. Wäre Ich nicht an Meinen gestrigen Willen heute und ferner gebunden?... Mein Geschöpf, nämlich ein bestimmter Willensausdruck, wäre Mein Gebieter geworden; Ich aber... der Schöpfer, wäre in Meinem Flusse und Meiner Auflösung gehemmt... Weil Ich gestern ein Wollender war, bin Ich heute ein Willenloser, gestern freiwillig, heute unfreiwillig.« p, 258.

Den alten, von Revolutionären wie Reaktionären schon oft ausgesprochenen Satz, daß in der Demokratie die Einzelnen ihre Souveränetät nur für einen Moment ausüben, dann aber sogleich wieder von der Herrschaft zurücktreten, sucht sich Sankt Sancho hier auf eine »unbeholfene« Art anzueignen, indem er seine phänomenologische Theorie von Schöpfer und Geschöpf auf ihn anwendet. Die Theorie von Schöpfer und Geschöpf benimmt diesem Satze aber allen Sinn. Sankt Sancho ist nach dieser seiner Theorie nicht heute ein Willenloser, weil er seinen gestrigen Willen geändert hat, d.h. einen anders bestimmten Willen hat, und nun das dumme Zeug, was er gestern als seinen Willensausdruck zum Gesetz erhob, seinen heutigen besser erleuchteten Willen als Band oder Fessel drückt. Nach seiner Theorie muß vielmehr sein heutiger Wille die Verneinung seines gestrigen sein, weil er die Verpflichtung hat, sich als Schöpfer auflösend zu seinem gestrigen Willen zu verhalten. Nur als »Willenloser« ist er Schöpfer, als wirklich Wollender ist er stets Geschöpf. (Siehe die »Phänomenologie«.) Dann aber ist er, »weil er gestern ein Wollender war«, keineswegs heute ein »Willenloser«, sondern vielmehr ein Widerwilliger gegen seinen gestrigen Willen, mag dieser die[315] Form des Gesetzes angenommen haben oder nicht. Er kann ihn in beiden Fällen auflösen, wie er überhaupt aufzulösen pflegt, nämlich als seinen Willen. Damit hat er dem mit sich einigen Egoismus vollkommen Genüge geleistet. Ob also sein gestriger Wille als Gesetz eine Existenzform außer seinem Kopfe angenommen hat oder nicht, ist hier ganz gleichgültig, besonders wenn wir bedenken, wie schon oben das »aus ihm heraus entsprungene Wort« sich ebenfalls rebellisch gegen ihn verhielt. Und dann will im obigen Satze Sankt Sancho ja nicht seine Eigenwilligkeit, sondern seine Freiwilligkeit, Willensfreiheit, Freiheit wahren, was ein arger Verstoß gegen den Moralkodex des mit sich einigen Egoisten ist. In diesem Verstoße befangen, geht Sankt Sancho sogar so weit, daß er die oben so sehr verschriene innerliche Freiheit, die Freiheit des Widerwillens, als die wahre Eigenheit proklamiert.

»Wie zu ändern?« ruft Sancho aus. »Nur dadurch, daß Ich keine Pflicht anerkenne, d.h. Mich nicht binde oder binden lasse. – Allein man wird Mich binden! Meinen Willen kann niemand binden und Mein Widerwille bleibt frei p. 258.


Pauken und Trompeten huld'gen

Seiner jungen Herrlichkeit!


Wobei Sankt Sancho vergißt, die »einfache Reflexion anzustellen«, daß sein »Wille« allerdings insofern »gebunden« ist, als er wider seinen Willen ein »Widerwille« ist.

In dem obigen Satze über das Gebundensein des Einzelwillens durch den als Gesetz ausgedrückten allgemeinen Willen vollendet sich übrigens die idealistische Anschauungsweise vom Staat, für die es sich bloß vom Willen handelt und die bei französischen und deutschen Schriftstellern zu den spitzfindigsten Quästiunculis geführt hat.65

Wenn es sich übrigens nur um das »Wollen«, nicht um das »Können«, und im schlimmsten Falle nur um den »Widerwillen« handelt, so ist nicht[316] abzusehen, warum Sankt Sancho einen so ergiebigen Gegenstand des »Wollens« und »Widerwillens«, wie das Staatsgesetz ist, platterdings beseitigen will.

»Gesetz überhaupt pp. – soweit sind wir heute.« p. 256.

Was Jacques le bonhomme nicht alles glaubt.

Die bisherigen Gleichungen waren rein vernichtend gegen den Staat und das Gesetz. Der wahre Egoist mußte sich rein vernichtend gegen Beide verhalten. Die Aneignung vermißten wir, obwohl wir dagegen die Freude hatten, Sankt Sancho das große Kunststück verrichten zu sehen, wie man durch eine bloße Veränderung des Willens, die natürlich wieder vom bloßen Willen abhängt, den Staat vernichtet. Indessen auch an der Aneignung fehlt es hier nicht, obgleich sie hier nur ganz nebenherläuft und erst später »mitunter« Resultate haben kann. Die obigen zwei Antithesen


Staatswille, fremder Wille

Mein Wille, eigner Wille,

Herrscherwille des Staats

Eigner Wille Meiner


können auch so zusammengefaßt werden:


Herrschaft des

Herrschaft des

fremden Willens

eignen Willens.


In dieser neuen Antithese, die übrigens seiner Vernichtung des Staats durch seinen Eigenwillen fortwährend versteckt zugrunde lag, eignet er sich die politische Illusion über die Herrschaft der Willkür, des ideologischen Willens an. Er konnte dies auch so ausdrücken:


Willkür des Gesetzes

Gesetz der Willkür.


Zu dieser Einfachheit des Ausdrucks hat es Sankt Sancho indes nicht gebracht.[317]

In der Antithese III haben wir schon ein »Gesetz in ihm«; aber er eignet sich das Gesetz noch direkter an in folgender Antithese:


Gesetz, Willenserklärung

Gesetz, Willenserklärung

des Staats

Meiner, Meine Willenserklärung.


»Es kann Jemand wohl erklären, was er sich gefallen lassen will, mithin durch ein Gesetz das Gegenteil sich verbitten« pp., p. 256.

Dies Verbitten wird mit obligaten Drohungen begleitet. Diese letzte Antithese ist von Wichtigkeit für den Abschnitt über das Verbrechen.

Episoden, p. 256 wird uns erklärt, daß »Gesetz« von »willkürlichem Befehl, Ordonnanz« nicht verschieden sei, weil Beides = »Willenserklärung«, mithin »Befehl«. – p. 254, 255, 260, 263 wird unter dem Schein, als werde von »dem Staat« gesprochen, der preußische Staat untergeschoben und die wichtigen Fragen der »Vossischen Zeitung« über Rechtsstaat, Absetzbarkeit der Beamten, Beamtenhochmut und dergl. dummes Zeug verhandelt. Das einzig Wichtige ist die Entdeckung, daß die altfranzösischen Parlamente auf dem Rechte bestanden, königliche Edikte zu registrieren, weil sie »nach eignem Rechte richten« wollten. Das Registrieren der Gesetze durch die französischen Parlamente kam auf zugleich mit der Bourgeoisie und der für die damit absolut werdenden Könige gesetzten Notwendigkeit, sowohl dem Feudaladel wie fremden Staaten gegenüber einen fremden Willen, von dem der ihrige abhängig sei, vorzuschützen und zugleich den Bourgeois eine Garantie zu geben. Sankt Max kann sich dies aus der Geschichte seines geliebten Franz I. eines Weiteren verständlich machen; im Übrigen möge er sich aus den vierzehn Bänden »Des Etats généraux et autres assemblées nationales«, Paris 1788, über das, was die französischen Parlamente wollten oder nicht wollten und was sie zu bedeuten hatten, einigermaßen Rats erholen, ehe er sie wieder in den Mund nimmt. Überhaupt wäre es wohl am Ort, hier eine kurze Episode über die Belesenheit unsres eroberungssüchtigen Heiligen einzulegen. Abgesehen von den theoretischen Büchern, wie Feuerbachs und B. Bauers Schriften, sowie von der Hegelschen Tradition, die seine Hauptquelle bildet – abgesehen von diesen notdürftigsten theoretischen Quellen benutzt und zitiert unser Sancho folgende historische Quellen: Für die französische Revolution Rutenbergs »Politische Reden« und die Bauerschen »Denkwürdigkeiten«; für den Kommunismus Proudhon, A. Beckers »Volksphilosophie«, die »Einundzwanzig Bogen« und den Bluntschlibericht; für den Liberalismus die »Vossische Zeitung«, die sächsischen Vaterlandsblätter, die badische Kammer, wieder die »Einundzwanzig Bogen« und E. Bauers epochemachende Schrift; außerdem werden noch hier und da als historische Belege zitiert:[318] die Bibel, Schlossers »18. Jahrhundert«, Louis Blancs »Histoire de dix ans«, Hinrichs' »Politische Vorlesungen«, Bettina: »Dies Buch gehört dem König«, Heß' »Triarchie«, die »Deutsch-Französischen Jahrbücher«, die Züricher »Anekdota«, Moriz Carrière über den Kölner Dom, Sitzung der Pariser Pairskammer vom 25. April 1844, Karl Nauwerck, »Emilia Galotti«, die Bibel – kurz, das ganze Berliner Lesekabinett samt seinem Eigentümer Willibald Alexis Cabanis. Man wird es nach dieser Probe von Sanchos tiefen Studien erklärlich finden, daß so unendlich viel Fremdes, d.h. Heiliges für ihn in dieser Welt existiert.

64

[Im Manuskript gestrichen:] Note 5. »Man bemüht sich, Gesetz von willkürlichem Befehl, von einer Ordonnanz zu unterscheiden... Allein Gesetz über menschliches Handeln... ist eine Willenserklärung, mithin Befehl (Ordonnanz)« p. 256... »Es mag Jemand wohl erklären, was er sich gefallen lassen wolle, mithin durch ein Gesetz das Gegenteil sich verbitten, widrigenfalls er den Übertreter als seinen Feind behandeln werde... Ich muß Mir's gefallen lassen, daß er Mich als seinen Feind behandelt, allein niemals, daß er mit Mir als seiner Kreatur umspringt, und daß er seine Vernunft oder auch Unvernunft zu Meiner Richtschnur macht.« p. 256. – Hier hat also unser Sancho gegen das Gesetz Nichts einzuwenden, sobald es den Übertreter als einen Feind behandelt. Die Feindschaft wider das Gesetz geht nur gegen die Form, nicht gegen den Inhalt. Jedes Repressivgesetz, das ihm mit Galgen und Rad droht, ist ihm ganz recht, insofern er es als eine Kriegserklärung fassen kann. Sankt Sancho beruhigt sich, wenn man ihm nur die Ehre antut, ihn als Feind, nicht als Kreatur anzusehen. In der Wirklichkeit ist er höchstens der Feind »des Menschen«, aber die Kreatur der Berliner Verhältnisse.

65

[Im Manuskript gestrichen:] Ob der Eigenwille eines Individuums sich morgen unter dem Gesetz gedrückt fühlt, das er gestern machen half, hängt davon ab, ob neue Umstände eingetreten, ob seine Interessen so weit verändert sind, daß das gestern gemachte Gesetz nicht mehr diesen veränderten Interessen entspricht. Wirken diese neuen Umstände auf die Interessen der ganzen herrschenden Klasse, so wird diese Klasse das Gesetz andern, wirken sie nur auf Einzelne, so bleibt ihr Widerwille von der Majorität natürlich unbeachtet.

Mit dieser Freiheit des Widerwillens ausgerüstet, kann Sancho nun die Beschränkung des Willens des Einen durch den Willen der Andern, die eben die Grundlage der obigen Idealistischen Auffassung des Staats bildet, wiederherstellen.

»Es müßte ja Alles drunter und drüber gehen, wenn Jeder tun könnte, was er wollte. – Wer sagt denn, daß Jeder Alles tun kann?« (»was er will«, ist hier weislich ausgelassen). –

»Werde Jeder von Euch ein allmächtiges Ich!« ging die Rede des mit sich einigen Egoisten.

»Wozu«, heißt es weiter, »wozu bist Du denn da, der Du nicht Alles Dir gefallen zu lassen brauchst? Wehre Dich, so wird Dir keiner was tun.« p. 259 – und um den letzten Schein des Unterschieds wegfallen zu lassen, läßt er hinter dem einen »Dir« noch »einige Millionen« »zum Schutz stehen«, so daß seine ganze Verhandlung sehr wohl als »unbeholfener« Anfang einer Staatstheorie im Rousseauschen Sinne dieser dienen kann.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1958, Band 3, S. 310-319.
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