Erster Baustein

[461] p. 160. »Saint-Simon sagte auf seinem Totenbett zu seinen Schülern: Mein ganzes Leben faßt sich in Einen Gedanken zusammen: allen Menschen die freieste Entwicklung ihrer natürlichen Anlagen zu sichern. Saint-Simon war ein Verkündiger des Sozialismus.«

Dieser Satz wird nach der oben geschilderten Methode der wahren Sozialisten und in Verbindung mit der Naturmystifikation des Prologs verarbeitet.

[461] »Die Natur als Grundlage alles Lebens ist eine aus sich selbst hervorgehende und auf sich selbst zurückgehende Einheit, welche alle die unzähligen Mannigfaltigkeiten ihrer Erscheinungen umfaßt und außer welcher Nichts ist.« p. 158.

Wir haben gesehen, wie man es anfängt, die verschiedenen Naturkörper und ihre gegenseitigen Verhältnisse in mannigfaltige »Erscheinungen« des geheimen Wesens dieser mysteriösen »Einheit« zu verwandeln. Neu ist in diesem Satze nur, daß die Natur einmal »die Grundlage alles Lebens« heißt und gleich darauf gesagt wird, daß »außer ihr Nichts ist«, wonach sie »das Leben« ebenfalls umschließt und nicht seine bloße Grundlage sein kann.

Auf diese Donnerworte folgt das Pivot des ganzen Aufsatzes:

»Jede dieser Erscheinungen, jedes Einzelleben besteht und entwickelt sich nur durch seinen Gegensatz, seinen Kampf mit der Außenwelt, beruht nur auf seiner Wechselwirkung mit dem Gesamtleben, mit dem es wiederum durch seine Natur zu einem Ganzen, zur organischen Einheit des Universums verknüpft ist.« p. 158, 159.

Dieser Pivotalsatz wird folgendermaßen näher erläutert:

»Das Einzelleben findet einerseits seine Grundlage, seine Quelle und Nahrung in dem Gesamtleben, andererseits sucht das Gesamtleben das Einzelleben in stetem Kampf zu verzehren und in sich aufzulösen.« p. 159.

Nachdem dieser Satz so von allem Einzelleben ausgesagt ist, kann er »demnach« auch auf den Menschen angewandt werden, wie dies auch wirklich geschieht:

»Der Mensch kann sich demnach nur in und durch das Gesamtleben entfalten.« (Nr. I) ibid.

Nun wird dem unbewußten Einzelleben das bewußte, dem allgemeinen Naturleben die menschliche Gesellschaft gegenübergestellt und dann der letztzitierte Satz unter folgender Form wiederholt:

»Ich kann meiner Natur nach nur in und durch die Gemeinschaft mit andern Menschen zur Entwicklung, zum selbstbewußten Genusse meines Lebens gelangen, meines Glückes teilhaftig werden.« (Nr. II) ibid.

Diese Entwicklung des einzelnen Menschen in der Gesellschaft wird, wie oben beim »Einzelleben« überhaupt, weiter ausgeführt:

»Der Gegensatz des einzelnen zum allgemeinen Leben wird auch in der Gesellschaft die Bedingung zur bewußten menschlichen Entwicklung. Ich entwickle mich im steten Kampfe, in steter Gegenwirkung gegen die Gesellschaft, die mir als beschränkende Macht gegenübersteht, zur Selbstbestimmung, zur Freiheit, ohne welche[462] kein Glück ist. Mein Leben ist eine fortwährende Befreiung, ein fortwährender Streit und Sieg über die bewußte und unbewußte Außenwelt, um sie mir zu unterwerfen und die zum Genusse meines Lebens zu verbrauchen. Der Trieb der Selbsterhaltung, das Streben nach eignem Glück, Freiheit, Befriedigung sind also natürliche, d.h. vernünftige Lebensäußerungen.« (Ibid.)

Weiter.

»Ich verlange demnach von der Gesellschaft, daß sie mir die Möglichkeit gewährt, von ihr meine Befriedigung, mein Glück zu erkämpfen, daß sie meiner Kampfeslust ein Schlachtfeld eröffne. – Wie die einzelne Pflanze Boden, Wärme, Sonne, Luft und Regen verlangt, um zu wachsen, ihre Blätter, Blüten und Früchte zu tragen, so will auch der Mensch in der Gesellschaft die Bedingungen für die allseitige Ausbildung und Befriedigung aller seiner Bedürfnisse, Neigungen und Anlagen finden. Sie soll ihm die Möglichkeit zur Erringung seines Glücks bieten. Wie er sie benutzen, was er aus sich, aus seinem Leben machen wird, das hängt von ihm, von seiner Eigenheit ab. Über mein Glück kann Niemand als ich selbst bestimmen.« p. 159, 160.

Folgt nun der von uns am Anfange dieses Bausteins zitierte Satz Saint-Simons als Schlußresultat der ganzen Auseinandersetzung. Der französische Einfall ist somit durch die deutsche Wissenschaft begründet. Worin besteht diese Begründung?

Der Natur waren bereits oben einige Ideen untergeschoben, die der wahre Sozialist in der menschlichen Gesellschaft realisiert zu sehen wünscht. Wie früher der einzelne Mensch, so ist jetzt die ganze Gesellschaft der Spiegel der Natur. Von den der Natur untergeschobenen Vorstellungen kann jetzt ein weiterer Schluß auf die menschliche Gesellschaft gezogen werden. Da der Verfasser sich nicht auf die historische Entwicklung der Gesellschaft einläßt und sich bei dieser dürren Analogie beruhigt, so ist nicht abzusehen, weshalb sie nicht zu allen Zeiten ein getreues Abbild der Natur gewesen. Die Phrasen über die Gesellschaft, die den Einzelnen als beschränkende Macht gegenübertritt usw., passen daher auch auf alle Gesellschaftsformen. Daß bei dieser Konstruktion der Gesellschaft einige Inkonsequenzen sich einschleichen, ist natürlich. So muß hier im Gegensatz zur Harmonie des Prologs ein Kampf in oder Natur anerkannt werden. Die Gesellschaft, das »Gesamtleben«, faßt unser Verfasser nicht als die Wechselwirkung der sie zusammensetzenden »Einzelleben«, sondern als eine besondre Existenz, die mit diesen »Einzelleben« noch in eine aparte Wechselwirkung tritt. Wenn hier irgendeine Beziehung auf wirkliche Verhältnisse zugrunde liegt, so ist es die Illusion von der Selbständigkeit des Staates gegenüber dem Privatleben und der Glaube an diese scheinbare Selbständigkeit als an etwas Absolutes. Übrigens handelt es sich hier ebensowenig wie im ganzen Aufsatze von Natur und Gesellschaft,[463] sondern bloß von den beiden Kategorien Einzelnheit und Allgemeinheit, denen verschiedene Namen gegeben werden und von welchen gesagt wird, daß sie einen Gegensatz bilden, dessen Versöhnung höchst wünschenswert sei.

Aus der Berechtigung des »Einzellebens« gegen das »Gesamtleben« folgt, daß die Befriedigung der Bedürfnisse, die Entwicklung der Anlagen, die Selbstliebe pp. »natürliche, vernünftige Lebensäußerungen« sind. Aus der Auffassung der Gesellschaft als Spiegelbild der Natur folgt, daß in allen bisherigen Gesellschaftsformen, die gegenwärtige eingeschlossen, diese Lebensäußerungen zu ihrer vollständigen Entwicklung kamen und in ihrer Berechtigung anerkannt wurden.

Plötzlich erfahren wir p. 159, daß »in unsrer heutigen Gesellschaft« diese vernünftigen, natürlichen Lebensäußerungen dennoch »so oft unterdrückt werden« und »gewöhnlich nur deshalb in Unnatur, Verbildung, Egoismus, Laster pp. ausarten«.

Da also dennoch die Gesellschaft nicht der Natur, ihrem Urbilde, entspricht, so »verlangt« der wahre Sozialist von ihr, daß sie sich naturgemäß einrichte, und beweist sein Recht zu diesem Postulat durch das unglückliche Beispiel von der Pflanze. Erstens »verlangt« nicht die Pflanze von der Natur alle die oben aufgezählten Existenzbedingungen, sondern sie wird gar nicht Pflanze, sie bleibt Samenkorn, wenn sie sie nicht findet. Dann hängt die Beschaffenheit der »Blätter, Blüten und Früchte« sehr von dem »Boden«, der »Wärme« pp., von den klimatischen und geologischen Verhältnissen ab, unter denen sie wächst. Während also das der Pflanze untergeschobene »Verlangen« sich in eine vollständige Abhängigkeit von den vorliegenden Existenzbedingungen auflöst, soll ebendies Verlangen unsren wahren Sozialisten berechtigen, eine Einrichtung der Gesellschaft nach seiner individuellen »Eigenheit« zu verlangen. Das Postulat der wahren sozialistischen Gesellschaft begründet sich auf das eingebildete Postulat einer Kokospalme an »das Gesamtleben«, ihr am Nordpol »Boden, Wärme, Sonne, Luft und Regen« zu verschaffen.

Aus dem angeblichen Verhältnis der metaphysischen Personen Einzelnheit und Allgemeinheit, nicht aus der wirklichen Entwicklung der Gesellschaft, wird das obige Postulat des Einzelnen an die Gesellschaft deduziert. Hierzu braucht man nur die einzelnen Individuen als Repräsentanten, Verkörperungen der Einzelnheit, und die Gesellschaft als Verkörperung der Allgemeinheit zu interpretieren, und das ganze Kunststück ist fertig. Zugleich ist hierdurch der saint-simonistische Satz von der freien Entwicklung der Anlagen auf seinen richtigen Ausdruck und seine wahre Begründung zurückgeführt.[464] Dieser richtige Ausdruck besteht in dem Unsinn, daß die Individuen, die die Gesellschaft bilden, ihre »Eigenheit« bewahren, daß sie bleiben wollen, wie sie sind, während sie von der Gesellschaft eine Veränderung verlangen, die bloß aus ihrer eignen Veränderung hervorgehen kann.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1958, Band 3, S. 461-465.
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