Zweiter Baustein

[465] »Und wer das Lied nicht weiter kann,

Der fang' es wieder von vornen an.«


»Die unendliche Mannigfaltigkeit aller Einzel-

Wesen als Einheit zusammengefaßt ist der Weltorganismus«. (p. 160.)

Also zurück an den Anfang des Aufsatzes sind wir geschleudert und erleben die ganze Komödie vom Einzelleben und Gesamtleben zum andern Mal. Wiederum enthüllt sich uns das tiefe Geheimnis der Wechselwirkung zwischen den beiden Leben, restauré à neuf durch den neuen Ausdruck »polares Verhältnis« und die Verwandlung des Einzellebens in ein bloßes Symbol, »Abbild« des Gesamtlebens. Dieser Aufsatz reflektiert sich kaleidoskopisch in sich selbst, eine Manier der Entwicklung, die allen wahren Sozialisten gemeinsam ist. Sie machen es mit ihren Sätzen wie jenes Kirschenweib, das unter dem Einkaufspreise losschlug nach dem richtigen ökonomischen Prinzip: Die Masse muß es tun. Bei dem wahren Sozialismus ist dies um so notwendiger, als seine Kirschen faul waren, ehe sie reiften.

Einige Proben dieser Selbstspiegelung:


Baustein Nr. 1. p. 158, 159.

Baustein Nr. II. p. 160, 161.


»Jedes Einzelleben besteht und

entwickelt sich nur durch seinen

Gegensatz... beruht nur auf

der Wechselwirkung mit dem

Gesamtleben,

»Jedes Einzelleben besteht und entwickelt sich in und durch das Gesamtleben, das Gesamtleben nur in und durch das Einzelleben.«(Wechselwirkung)


Mit dem es wieder durch seine Natur

zu einem Ganzen verknüpft ist.

»Das Einzelleben entwickelt sich... als Teil des allgemeinen Lebens.


Organische Einheit des Universums.

Einheit zusammengefaßt ist der Weltorganismus.


Das Einzelleben findet einerseits

seine Grundlage, Quelle und

Nahrung in dem Gesamtleben,

Das (das Gesamtleben) »der Boden und Nahrung seiner« (des Einzellebens) »Entfaltung wird... daß sich beide gegenseitig begründen...[465]


Andrerseits sucht das Gesamtleben

das Einzelleben in stetem

Kampfe zu verzehren.

Daß sich beide bekämpfen und feindlich gegenüberstehen.


Demnach (p. 159):

Daraus folgt (p. 161):


Was dem unbewußten Einzelleben das

unbewußte, allgemeine Weltleben,

das ist dem bewußten...

Leben die menschliche Gesellschaft.

Daß auch das bewußte Einzelleben durch das bewußte Gesamtleben, und« ... (umgekehrt) ... »bedingt ist.


Ich kann nur in und durch die

Gemeinschaft mit andern Menschen

zur Entwicklung gelangen...

Der Gegensatz des einzelnen und

allgemeinen Lebens wird auch in

der Gesellschaft« usw.

Der einzelne Mensch entwickelt sich nur in und durch die Gesellschaft, die Gesellschaft« vice versa usw.


»Die Natur... ist eine... Einheit,

welche alle die unzähligen

Mannigfaltigkeiten ihrer

Erscheinungen umfaßt

»Die Gesellschaft ist die Einheit, welche die Mannigfaltigkeit der einzelnen menschlichen Lebensentwicklungen in sich begreift und zusammenfaßt«


Mit dieser Kaleidoskopie nicht zufrieden, wiederholt unser Verfasser seine einfachen Sitze über Einzelnheit und Allgemeinheit auch noch auf andre Weise. Zuerst stellt er diese paar dürren Abstraktionen als absolute Prinzipien auf und schließt daraus, daß in der Wirklichkeit dasselbe Verhältnis wiederkehren müsse. Dies gibt schon Gelegenheit, unter dem Schein der Deduktion alles zweimal zu sagen, in abstrakter und als Schluß daraus in scheinbar konkreter Form. Dann aber wechselt er mit den konkreten Namen, die er seinen beiden Kategorien gibt. Die Allgemeinheit tritt so nach der Reihe als Natur, unbewußtes Gesamtleben, bewußtes ditto, allgemeines Leben, Weltorganismus, zusammenfassende Einheit, menschliche Gesellschaft, Gemeinschaft, organische Einheit des Universums, allgemeines Glück, Gesamtwohl pp., und die Einzelnheit unter den entsprechenden Namen unbewußtes und bewußtes Einzelleben, Glück des Einzelnen, eignes Wohl pp. auf. Bei jedem dieser Namen müssen wir dieselben Phrasen wieder anhören, die über Einzelnheit und Allgemeinheit schon oft genug gesagt sind.

Der zweite Baustein enthält also nichts, als was der erste schon enthielt. Da sich aber bei den französischen Sozialisten die Worte égalité, solidarité, unité des intérêts vorfinden, so sucht unser Verfasser sie durch Verdeutschung zu »Bausteinen« des wahren Sozialismus zuzuhauen.

[466] »Als bewußtes Mitglied der Gesellschaft erkenne ich jedes andre Mitglied als ein von mir verschiedenes, mir gegenüberstehendes, zugleich aber wieder als ein auf dem gemeinschaftlichen Urgrunde des Seins ruhendes und von ihm ausgehendes, mir gleiches Wesen. Ich erkenne jeden Mitmenschen durch seine besondre Natur als mir entgegengesetzt und durch seine allgemeine Natur als mir gleich. Die Anerkennung der menschlichen Gleichheit, der Berechtigung eines Jeden zum Leben, beruht demnach auf dem Bewußtsein der gemeinschaftlichen, allen gemeinsamen menschlichen Natur; Liebe, Freundschaft, Gerechtigkeit und alle gesellschaftlichen Tugenden beruhen gleichfalls auf dem Gefühle der natürlichen menschlichen Zusammengehörigkeit und Einheit. Hat man sie bisher als Pflichten bezeichnet und auferlegt, so werden sie in einer Gesellschaft, welche nicht auf äußern Zwang, sondern auf das Bewußtsein der inneren menschlichen Natur, d.h. die Vernunft, gegründet ist, zu freien, naturgemäßen Äußerungen des Lebens werden. In der natur-, d.h. vernunftgemäßen Gesellschaft müssen daher die Bedingungen des Lebens für alle Mitglieder gleich, d.h. allgemein sein.« p. 161, 162.

Der Verfasser besitzt ein großes Talent, zuerst einen Satz assertorisch aufzustellen und ihn dann durch ein Daher, Dennoch pp. als Konsequenz aus sich selbst zu legitimieren. Ebenso versteht er es, mitten in diese merkwürdige Art der Deduktion traditionell gewordene sozialistische Sätze durch ein »Hat«, »Ist« – »so müssen«, »so wird« usw. erzählend einzuschmuggeln.

In dem ersten Baustein hatten wir auf der einen Seite den Einzelnen und auf der andern das Allgemeine, gegenüber den Einzelnen, als Gesellschaft. Hier kehrt der Gegensatz in der Form wieder, daß der Einzelne in sich selbst in eine besondre und eine allgemeine Natur gespalten wird. Aus der allgemeinen Natur wird dann auf die »menschliche Gleichheit« und die Gemeinschaftlichkeit geschlossen. Die den Menschen gemeinschaftlichen Verhältnisse erscheinen hier also als Produkt des »Wesens des Menschen«, der Natur, während sie ebensogut wie das Bewußtsein der Gleichheit historische Produkte sind. Damit noch nicht zufrieden, begründet der Verfasser die Gleichheit durch ihr allerseitiges Beruhen »auf dem gemeinschaftlichen Urgrunde des Seins«. Im Prolog erfuhren wir p. 158, daß der Mensch »aus denselben Stoffen gebildet, mit denselben allgemeinen Kräften und Eigenschaften begabt ist, welche alle Dinge beleben«. Im ersten Baustein erfuhren wir, daß die Natur die »Grundlage alles Lebens« ist, also »der gemeinschaftliche Urgrund des Seins«. Der Verfasser ist also weit über die Franzosen hinausgegangen, indem er »als bewußtes Mitglied der Gesellschaft« nicht nur die Gleichheit der Menschen unter sich, sondern auch ihre Gleichheit mit jedem Floh, jedem Strohwisch, jedem Stein bewiesen hat.

Wir wollen gerne glauben, daß »alle gesellschaftlichen Tugenden« unsres wahren Sozialisten »auf dem Gefühl der natürlichen menschlichen Zusam-[467] mengehörigkeit und Einheit« beruhen, obwohl auf dieser »natürlichen Zusammengehörigkeit« auch die Feudalhörigkeit, die Sklaverei und alle gesellschaftlichen Ungleichheiten aller Epochen beruhen. Nebenbei bemerkt, ist diese »natürliche menschliche Zusammengehörigkeit« ein täglich von den Menschen umgestaltetes historisches Produkt, das immer sehr natürlich war, so unmenschlich und widernatürlich es nicht nur vor dem Richterstuhl »des Menschen«, sondern auch einer nachfolgenden revolutionären Generation erscheinen mag.

Zufällig erfahren wir noch, daß die jetzige Gesellschaft »auf äußerm Zwang« beruht. Nicht die beschränkenden materiellen Lebensbedingungen gegebner Individuen stellen sich die wahren Sozialisten unter »äußerm Zwang« vor, sondern nur den Staatszwang, Bajonette, Polizei, Kanonen, welche, weit entfernt, die Grundlage der Gesellschaft zu sein, nur eine Konsequenz ihrer eignen Gliederung sind. Es ist dies bereits in der »Heiligen Familie« und jetzt wieder im ersten Bande dieser Publikation auseinandergesetzt.

Gegenüber der jetzigen, »auf äußerm Zwang beruhenden« Gesellschaft stellt der Sozialist das Ideal der wahren Gesellschaft auf, die auf dem »Bewußtsein der innern menschlichen Natur, d.h. der Vernunft« beruht. Also auf dem Bewußtsein des Bewußtseins, dem Denken des Denkens. Der wahre Sozialist unterscheidet sich nicht einmal im Ausdruck mehr von den Philosophen. Er vergißt, daß sowohl die »innere Natur« der Menschen wie ihr »Bewußtsein« darüber, »d.h.« ihre »Vernunft«, zu allen Zeiten ein historisches Produkt war, und daß, selbst wenn ihre Gesellschaft, wie er meint, »auf äußerm Zwang« beruhte, ihre »innere Natur« diesem »äußern Zwang« entsprach.

Folgen p. 163 die Einzelnheit und Allgemeinheit mit gewohntem Gefolge in der Gestalt des einzelnen Wohls und des Gesamtwohls. Ähnliche Erklärungen über das Verhältnis beider findet man in jedem Handbuch der Nationalökonomie bei Gelegenheit der Konkurrenz, und u. a. auch, nur besser ausgedrückt, bei Hegel.

Z.B. »Rhein[ische] Jahrb[ücher]« p. 163:

»Indem ich das Gesamtwohl fördere, fordere ich mein eignes Wohl, und indem Ich mein eignes Wohl fordere, das Gesamtwohl.«

Hegels »Rechtsphilosophie«, p. 248 (1833):

»Meinen Zweck befordernd, fordere ich das Allgemeine, und dieses befordert wiederum meinen Zweck.«[468]

Vgl. auch »Rechtsphil[osophie]«, p. 323 seqq. über das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat.

»Als letztes Ergebnis erscheint daher die bewußte Einheit des Einzellebens mit dem Gesamtleben, die Harmonie.« (p. 163, »Rh[einische] J[ahrbücher]«.)

»Als letztes Ergebnis« nämlich daraus, daß

»dieses polare Verhältnis zwischen dem einzelnen und allgemeinen Leben darin besteht, daß sich einmal Beide bekämpfen und feindlich gegenüberstehen, das andre Mal, daß sich Beide gegenseitig bedingen und begründen.«

»Als letztes Ergebnis« folgt hieraus höchstens die Harmonie der Disharmonie mit der Harmonie, und aus der ganzen abermaligen Repetition der bekannten Phrasen folgt nur der Glaube des Verfassers, daß sein vergebliches Abquälen mit den Kategorien der Einzelnheit und Allgemeinheit die wahre Form sei, in der die gesellschaftlichen Fragen zu lösen seien.

Der Verfasser schließt mit folgendem Tusch:

»Die organische Gesellschaft hat zur Grundlage die allgemeine Gleichheit und entwickelt sich durch die Gegensätze der Einzelnen gegen das Allgemeine zum freien Einklange, zur Einheit des einzelnen mit dem allgemeinen Glücke, zur sozialen« (!) »gesellschaftlichen« (!!) »Harmonie, dem Spiegelbilde der universellen Harmonie.« p. 164.

Nur die Bescheidenheit kann diesen Satz einen »Baustein« nennen. Er ist ein ganzer Urfels des wahren Sozialismus.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1958, Band 3, S. 465-469.
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