4. Saint-simonistische Schule

[492] Da Herr Grün von den Saint-Simonisten geradesoviel gelesen hat wie von Saint-Simon selbst, nämlich Nichts, so hätte er wenigstens einen ordentlichen Auszug aus Stein und Reybaud machen, die chronologische Reihenfolge beobachten, den Verlauf im Zusammenhange erzählen, die nötigen Punkte erwähnen sollen. Statt dessen tut er, durch sein böses Gewissen verleitet, das Gegenteil, wirft möglichst durcheinander, läßt die allernotwendigsten Dinge aus und richtet eine Konfusion an, die noch größer ist als in seiner Darstellung von Saint-Simon. Wir müssen uns hier noch kürzer fassen,[492] da wir ein Buch schreiben müßten, so dick wie das des Herrn Grün, um jedes Plagiat und jeden Schnitzer hervorzuheben.

Über die Zeit vom Tode Saint-Simons bis zur Julirevolution, die Zeit, worin mit die bedeutendste theoretische Entwicklung des Saint-Simonismus fällt, erfahren wir nichts: Hiermit fällt sogleich der bedeutendste Teil des Saint-Simonismus, die Kritik der bestehenden Zustände, ganz fort für Herrn Grün. Es war in der Tat auch schwer, hierüber etwas zu sagen, ohne die Quellen selbst, namentlich die Journale, zu kennen.

Herr Grün eröffnet seinen Kursus über die Saint-Simonisten mit folgendem Satze:

»Jedem nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit nach ihren Werken, so heißt das praktische Dogma des Saint-Simonismus.«

Wie Reybaud, p. 96, diesen Satz als Übergangspunkt von Saint-Simon zu den Saint-Simonisten darstellt, so Herr Grün, der fortfährt:

»Es entspringt unmittelbar aus dem letzten Worte Saint-Simons: allen Menschen die freiste Entwicklung ihrer Anlagen zu sichern.«

Herr Grün wollte sich hier von Reybaud unterscheiden. Reybaud knüpft dieses »praktische Dogma« an den »Nouveau christianisme« an. Herr Grün hält dies für einen Einfall Reybauds und substituiert dem »Nouveau christianisme« ungeniert das letzte Wort Saint-Simons. Er wußte nicht, daß Reybaud nur einen wörtlichen Auszug aus der »Doctrine de Saint-Simon, Exposition, première année«, p. 70, gab.

Herr Grünweiß sich nicht recht zu erklären, wie hier bei Reybaud, nach einigen Auszügen über die religiöse Hierarchie des Saint-Simonismus, das »praktische Dogma« plötzlich hereingeschneit kommt. Während dieser Satz erst im Zusammenhang mit den religiösen Ideen des »Nouveau christianisme« aufgefaßt auf eine neue Hierarchie hinweisen kann, während er ohne diese Ideen höchstens eine profane Klassifikation der Gesellschaft verlangt, bildet sich Herr Grün ein, aus diesem Satze allein folge die Hierarchie. Er sagt p. 91:

»Jedem nach seiner Fähigkeit, das heißt die katholische Hierarchie zum Gesetz der gesellschaftlichen Ordnung machen. Jeder Fähigkeit nach ihren Werken: das heißt auch noch die Werkstatt zur Sakristei, auch noch das ganze bürgerliche Leben in eine Domäne des Pfaffen verwandeln.«

Bei Reybaud findet er nämlich im oben erwähnten Auszug aus der Exposition:

»L'église vraiment universelle va paraître... l'église universelle gouverne le temporel comme le spirituel... la science est sainte, l'industrie est sainte... et tout bien[493] est bien d'église et toute profession est une fonction religieuse, un grade dans la hiérarchie sociale. – A chacun selon sa capacité, à chaque capacité selon ses œuvres.«

Herr Grün hatte offenbar nur diese Stelle umzudrehen, nur die vorhergehenden Sätze in Folgerungen aus dem Schlußsatz zu verwandeln, um seinen ganz unbegreiflichen Satz herauszubringen.

»So wirr und kraus gestaltet sich« die Grünsche Widerspiegelung des Saint-Simonismus, daß er p. 90 erst aus dem »praktischen Dogma« ein »geistiges Proletariat«, aus diesem geistigen Proletariat eine »Hierarchie der Geister« und aus dieser Hierarchie der Geister eine Spitze der Hierarchie hervorgehen läßt. Hätte er auch nur die Exposition gelesen, so würde er gesehen haben, wie die religiöse Anschauungsweise des »Nouveau christianisme« in Verbindung mit der Frage, wie denn die capacité festzustellen sei, die Notwendigkeit der Hierarchie und ihrer Spitze hereinbringt.

Mit dem Einen Satz »À chacun selon sa capacité, à chaque capacité selon ses œuvres« hat Herr Grün seine ganze Darstellung und Kritik der Exposition von 1828/29 abgeschlossen. Den »Producteur« und »Organisateur« erwähnt er außerdem kaum einmal. Er blättert in Reybaud und findet in dem Abschnitt »Dritte Epoche des Saint-Simonismus«, p. 126, Stein, p. 205:

»... et les jours suivants le Globe parut avec le sous-titre de Journal de la doctrine de Saint-Simon, laquelle était résumée ainsi sur la première page:


Religion

Science

Industrie

Association universelle.«


Herr Grün springt nun unmittelbar von dem obigen Satze ins Jahr 1831, indem er folgendermaßen Reybaud verarbeitet (p. 91):

»Die Saint-Simonisten stellten folgendes Schema ihres Systems auf, dessen Formulierung besonders das Werk Bazards war:


Religion

Wissenschaft

Industrie

Allgemeine Association.«[494]


Herr Grün läßt drei Sätze fort, die ebenfalls auf dem Titel des »Globe« stehen und sich Alle auf praktische soziale Reformen beziehen. Sie finden sich sowohl bei Stein wie bei Reybaud. Er tut dies, um dies bloße Aushängeschild eines Journals in ein »Schema« des Systems verwandeln zu können. Er verschweigt, daß es auf dem Titel des »Globe« stand, und kann nun im verstümmelten Titel dieses Blattes den ganzen Saint-Simonismus durch die kluge Bemerkung kritisieren, daß die Religion obenan stehe. Er konnte übrigens bei Stein finden, daß im »Globe« dies keineswegs der Fall ist. Der »Globe« enthält, was Herr Grün freilich nicht wissen konnte, die ausführlichsten und wichtigsten Kritiken der bestehenden, besonders der ökonomischen Zustände.

Woher Herr Grün die neue, aber wichtige Nachricht hat, daß die »Formulierung dieses Schemas« von vier Worten »besonders das Werk Bazards war«, ist schwer zu sagen.

Vom Januar 1831 springt Herr Grün jetzt zurück zum Oktober 1830:

»Ein kurzes, aber umfassendes Glaubensbekenntnis adressierten die Saint-Simonisten in der Periode Bazard« (woher die?) »kurz nach der Julirevolution an die Deputiertenkammer, nachdem die Herren Dupin und Mauguin sie von der Tribüne herab bezichtigt hatten, Güter- und Weibergemeinschaft zu lehren.«

Folgt nun diese Adresse, und macht Herr Grün darauf die Bemerkung:

»Wie vernünftig und gemessen ist das Alles noch. Bazard redigierte die Eingabe an die Kammer.« p. 92-94.

Was zunächst diese Schlußbemerkung betrifft, so sagt Stein, p. 205:

»Seiner Form und Haltung nach stehen wir keinen Augenblick an, es« (dies Aktenstück) »mit Reybaud Bazard mehr zuzuschreiben als Enfantin.«

Und Reybaud, p. 123:

»Aux formes, aux pretentions assez modérées de cet écrit il est facile de voir qu'il provenait plutôt de l'impulsion de M. Bazard que de celle de son collègue.«

Herrn Grüns geniale Kühnheit verwandelt Reybauds Vermutung, daß Bazard eher als Enfantin den Anstoß zu dieser Adresse gab, in die Gewißheit, daß er sie ganz redigierte. Der Übergang zu diesem Aktenstück ist übersetzt aus Reybaud, p. 122:

»MM. Dupin et Mauguin signalèrent du haut de la tribune une secte qui prêchait la communauté des biens et la communauté des femmes.«[495]

Nur läßt Herr Grün das von Reybaud gegebne Datum weg und sagt dafür: »kurz nach der Julirevolution«. Die Chronologie paßt überhaupt nicht in die Art des Herrn Grün, sich von seinen Vorgängern zu emanzipieren. Von Stein unterscheidet er sich hier, indem er in den Text setzt, was bei Stein in einer Note steht, indem er den Eingangspassus der Adresse wegläßt, indem er fonds de production (produktives Kapital) mit »Grundvermögen« und classement social des individus (gesellschaftliche Klassifizierung der Individuen) mit »gesellschaftliche Ordnung der Einzelnen« übersetzt.

Folgen nun einige liederliche Notizen über die Geschichte der saint-simonistischen Schule, welche mit derselben künstlerischen Plastik aus Stein, Reybaud und L. Blanc zusammengewürfelt sind wie oben das Leben Saint-Simons. Wir überlassen dem Leser, diese im Buche selbst nachzusehen.

Wir haben dem Leser jetzt Alles mitgeteilt, was Herr Grün vom Saint-Simonismus in der Periode Bazard, d.h. seit dem Tode Saint-Simons bis zum ersten Schisma, zu sagen weiß. Er kann jetzt einen belletristisch-kritischen Trumpf ausspielen, indem er Bazard einen »schlechten Dialektiker« nennt und fortfährt:

»Aber so sind die Republikaner. Sie wissen nur zu sterben, Cato wie Bazard: wenn sie sich nicht erdolchen, lassen sie sich das Herz brechen.« p. 95.

»Wenige Monate nach diesem Streite brach ihm« (Bazard) »das Herz.« Stein, p. 210.

Wie richtig die Bemerkung des Herrn Grün ist, beweisen Republikaner wie Levasseur, Carnot, Barère, Billaud-Varennes, Buonarroti, Teste, d'Argenson etc. etc.

Folgen nun einige banale Phrasen über Enfantin, wo wir bloß auf folgende Entdeckung des Herrn Grün aufmerksam machen:

»Wird es an dieser geschichtlichen Erscheinung endlich klar, daß die Religion nichts ist als Sensualismus, daß der Materialismus kühn denselben Ursprung in Anspruch nehmen darf wie das heilige Dogma selbst ?« p. 97.

Herr Grün blickt selbstgefällig um sich: »Hat wohl schon Jemand daran gedacht ?« Er würde nie »daran gedacht« haben, wenn nicht schon die »Hallischen Jahrbücher« bei Gelegenheit der Romantiker »daran gedacht« hätten. Man hätte übrigens hoffen können, daß seit der Zeit Herr Grün weiter gedacht hätte.

Herr Grünweiß, wie wir gesehen haben, von der ganzen ökonomischen Kritik der Saint-Simonisten Nichts. Indessen benutzt er Enfantin, um auch über die ökonomischen Konsequenzen Saint-Simons, von denen er schon oben fabelte, ein Wort zu sagen. Er findet nämlich bei Reybaud, p. 129 seqq., und Stein, p. 206, Auszüge aus der »Politischen Ökonomie« Enfantins, ver-[496] fälscht aber auch hier, indem er die Aufhebung der Steuern auf die notwendigsten Lebensbedürfnisse, welche Reybaud und Stein nach Enfantin richtig als Konsequenz der Vorschläge über das Erbrecht darstellen, zu einer gleichgültigen, unabhängigen Maßregel neben diesen Vorschlägen macht. Er beweist auch darin seine Originalität, daß er die chronologische Ordnung verfälscht, zuerst vom Priester Enfantin und Ménilmontant und dann vom Ökonomen Enfantin spricht, während seine Vorgänger die Ökonomie Enfantins in der Periode Bazard gleichzeitig mit dem »Globe« behandeln, für den sie geschrieben wurde. Wenn er hier die Periode Bazard in die Periode Ménilmontant hereinzieht, so zieht er später, wo er von der Ökonomie und M. Chevalier spricht, wieder die Periode von Ménilmontant herein. Das »Livre nouveau« gibt ihm hiezu Gelegenheit, und wie gewöhnlich verwandelt er die Vermutung Reybauds, daß M. Chevalier der Verfasser dieser Schrift sei, in eine kategorische Behauptung.

Herr Grün hat jetzt den Saint-Simonismus »in seiner Gesamtheit« (p. 82) dargestellt. Er hat sein Versprechen gehalten, »ihn nicht in seine Literatur hinein kritisch zu verfolgen« (ibid.), und hat sich daher in eine ganz andere »Literatur«, in Stein und Reybaud, höchst unkritisch verwickelt. Zum Ersatz gibt er uns einige Aufschlüsse über M. Chevaliers ökonomische Vorlesungen von 1841/42, wo er längst aufgehört hatte, Saint-Simonist zusein. Herrn Grün lag nämlich, als er über den Saint-Simonismus schrieb, eine Kritik dieser Vorlesungen in der »Revue des deux Mondes« vor, die er in derselben Weise benutzen konnte wie bisher Stein und Reybaud. Wir geben nur eine Probe seiner kritischen Einsicht:

»Er behauptet darin, es würde nicht genug produziert. Das ist ein Wort, ganz würdig der alten ökonomischen Schule mit ihren verrosteten Einseitigkeiten... Solange die politische Ökonomie nicht einsieht, daß die Produktion abhängig von der Konsumtion ist, solange kommt diese sogenannte Wissenschaft auf keinen grünen Zweig.« p. 102.

Man sieht, wie Herr Grün mit den ihm vom wahren Sozialismus überlieferten Phrasen über Konsumtion und Produktion weit über jedes ökonomische Werk erhaben dasteht. Abgesehen davon, daß er in jedem Ökonomen finden kann, daß die Zufuhr auch von der Nachfrage, d.h. die Produktion von der Konsumtion abhängt, gibt es in Frankreich sogar eine eigne ökonomische Schule, die von Sismondi, die die Produktion in einer andern Weise von der Konsumtion abhängig machen will, als dies durch die freie Konkurrenz ohnehin der Fall Ist, und die den entschiedensten Gegensatz bildet zu den von Herrn Grün angefeindeten Ökonomen. Wir werden Herrn Grün übrigens erst später mit dem ihm anvertrauten Pfunde, der Einheit von Produktion und Konsumtion, mit Erfolg wuchern sehen.[497]

Herr Grün entschädigt den Leser für die durch seine dünnen, verfälschten und mit Phrasen adulterierten Auszüge aus Stein und Reybaud erregte Langeweile durch folgendes Jungdeutsch sprühendes, humanistisch glühendes und sozialistisch blühendes Raketenfeuer:

»Der ganze Saint-Simonismus als soziales System war nichts weiter als ein Sprudelregen von Gedanken, den eine wohltätige Wolke über den Boden Frankreichs ausgoß« (früher p. 82, 83 eine »Lichtmasse, aber noch als Lichtchaos« (!), »nicht als geordnete Helle« !!). »Er war ein Schaustück von der erschütterndsten und lustigsten Wirkung zugleich. Der Dichter starb noch vor der Aufführung, der eine Regisseur während der Vorstellung; die übrigen Regisseure und sämtliche Schauspieler legten ihre Kostüme ab, schlüpften in ihre bürgerlichen Kleider hinein, gingen heim und taten, als sei Nichts vorgefallen. Es war ein Schauspiel, ein interessantes, zuletzt etwas verwirrt, einige Akteure chargierten – das war Alles.« p. 104.

Wie richtig hat Heine seine Nachkläffer beurteilt: »Ich habe Drachenzähne gesäet und Flöhe geerntet.«

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1958, Band 3, S. 492-498.
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