b) Die Judenfrage Nr. II. Kritische Entdeckungen über Sozialismus, Jurisprudenz und Politik (Nationalität)

[99] Den massenhaften, materiellen Juden wird die christliche Lehre von der geistigen Freiheit, von der Freiheit in der Theorie gepredigt, jene spiritualistische Freiheit, die sich auch in den Ketten einbildet, frei zu sein, die seelenvergnügt ist in »der Idee« und von aller massenhaften Existenz nur geniert wird.

[99] »So weit die Juden jetzt in der Theorie sind, so weit sind sie emanzipiert, so weit sie frei sein wollen, so weit sind sie frei

Aus diesem Satze kann man sogleich die kritische Kluft ermessen, welche den massenhaften, profanen Kommunismus und Sozialismus von dem absoluten Sozialismus scheidet. Der erste Satz des profanen Sozialismus verwirft die Emanzipation in der bloßen Theorie als eine Illusion und verlangt für die wirkliche Freiheit, außer dem idealistischen »Willen«, noch sehr handgreifliche, sehr materielle Bedingungen. Wie tief steht »die Masse« unter der heiligen Kritik, die Masse, welche materielle, praktische Umwälzungen für nötig, hält, selbst um die Zeit und die Mittel zu erobern, welche auch nur zur Beschäftigung mit »der Theorie« erheischt werden!

Springen wir für einen Augenblick aus dem rein geistigen Sozialismus in die Politik!

Herr Riesser behauptet gegen B[runo] Bauer, sein Staat (sc. der kritische Staat) müsse »Juden« und »Christen« ausschließen. Herr Riesser befindet sich im Rechte. Da Herr Bauer die politische Emanzipation mit der menschlichen Emanzipation verwechselt, da der Staat gegen widerstrebende Elemente – Christentum und Judentum werden aber in der »Judenfrage« als hochverräterische Elemente qualifiziert – nur durch gewaltsame Ausschließung der Personen, die sie vertreten, zu reagieren weiß, wie z.B. der Terrorismus die Akkaparation durch das Köpfen der Akkapareurs vernichten wollte, so mußte Herr Bauer Juden und Christen in seinem »kritischen Staat« aufhängen lassen. Wenn er die politische Emanzipation mit der menschlichen verwechselte, so mußte er konsequenterweise auch die politischen Mittel der Emanzipation mit den menschlichen Mitteln derselben verwechseln. Sobald man aber der absoluten Kritik den bestimmten Sinn ihrer Deduktion ausspricht, erwidert sie ganz dasselbe, was Schelling einst allen Gegnern erwiderte, die an die Stelle seiner Phrasen wirkliche Gedanken setzten:

»Die Gegner der Kritik sind deshalb ihre Gegner, weil sie dieselbe nicht nur nach ihrem dogmatischen Maße nehmen, sondern selbst für dogmatisch halten, oder sie bekämpfen die Kritik, weil sie ihre dogmatischen Unterscheidungen, Definitionen und Ausflüchte nicht anerkennt.«

Man verhält sich allerdings dogmatisch zu der absoluten Kritik, wie zu Herrn Schelling, wenn man bestimmten, wirklichen Sinn, Gedanken, Ansicht bei ihr voraussetzt. Aus Akkommodation und um dem Herrn Riesser ihre Humanität zu beweisen, entschließt sich »die Kritik« indessen zu dogmatischen Unterscheidungen, Definitionen und namentlich zu »Ausflüchten.«[100]

So heißt es:

»Hätte ich in jener Arbeit« (der »Judenfrage«) »über die Kritik hinausgehen wollen oder dürfen, so hätte ich nicht vom Staat, sondern von ›der Gesellschaft‹ reden (!) müssen (!), die niemanden ausschließt, sondern von der sich nur diejenigen ausschließen, die an ihrer Entwickelung nicht teilnehmen wollen.«

Die absolute Kritik macht hier eine dogmatische Unterscheidung zwischen dem, was sie hätte tun müssen, wenn sie nicht das Gegenteil getan hätte, und dem, was sie wirklich getan hat. Sie erklärt die Borniertheit ihrer »Judenfrage« durch die »dogmatischen Ausflüchte« eines Wollens und Dürfens, die ihr »über die Kritik« hinauszugehn verboten. Wie? »Die Kritik« soll über die »Kritik« hinausgehen? Dieser ganz massenhafte Einfall entsteht der absoluten Kritik durch die dogmatische Notwendigkeit, einerseits ihre Fassung der Judenfrage als absolut, als »die Kritik« behaupten, andrerseits die Möglichkeit einer weitergreifenden Fassung zugestehen zu müssen.

Das Geheimnis ihres »Nichtwollens« und »Nichtdürfens« wird sich später als das kritische Dogma enthüllen, wonach alle scheinbaren Beschränktheiten »der Kritik« nichts anderes als notwendige, dem Fassungsvermögen der Masse angemessene Akkommodationen sind.

Sie wollte nicht! sie durfte nicht über ihre bornierte Fassung der Judenfrage hinausgehen! Wenn sie aber gewollt oder gedurft hätte, was hätte sie getan? – Sie hätte eine dogmatische Definition gegeben. Sie hätte statt von dem »Staate« von »der Gesellschaft« geredet, also nicht das wirkliche Verhältnis des Judentums zu der heutigen bürgerlichen Gesellschaft untersucht! Sie hätte die »Gesellschaft« im Unterschiede vom »Staat« dogmatisch dahin definiert, daß, wenn der Staat ausschließt, von der Gesellschaft hingegen sich diejenigen ausschließen, die nicht an ihrer Entwickelung teilnehmen wollen!

Die Gesellschaft verfährt ebenso exklusiv wie der Staat, nur in der höflicheren Form, daß sie dich nicht zur Tür hinauswirft, sondern dir es vielmehr in ihrer Gesellschaft so unbequem macht, daß du selbst zur Türe freiwillig hinausgehst.

Der Staat verfährt im Grunde genommen nicht anders, denn er schließt niemanden aus, der allen seinen Anforderungen und Geboten, der seiner Entwickelung genügt. In seiner Vollendung drückt er sogar die Augen zu und erklärt wirkliche Gegensätze für unpolitische, ihn nicht genierende Gegensätze. Überdem hat die absolute Kritik selbst entwickelt, daß der Staat die Juden ausschließt, weil und insofern die Juden den Staat ausschließen, also sich selbst vom Staat ausschließen. Wenn nun diese Wechselbeziehung in der[101] kritischen »Gesellschaft« eine galantere, scheinheiligere, heimtückischere Form erhält, so beweist dies nur die größere Heuchelei und unentwickeltere Bildung der »kritischen« »Gesellschaft.«

Folgen wir der absoluten Kritik weiter in ihren »dogmatischen Unterscheidungen«, »Definitionen« und namentlich in ihren »Ausflüchten.«

So verlangt Herr Riesser vom Kritiker, »er solle dasjenige, was dem Boden des Rechts angehört«, von dem »unterscheiden, was jenseits seines Gebietes liegt.«

Der Kritiker ist indigniert über die Impertinenz dieser juristischen Forderung.

»Bis jetzt«, erwidert er, »haben aber Gemüt und Gewissen in das Recht eingegriffen, immer es ergänzt und wegen der Beschaffenheit, die in seiner dogmatischen Form« – also nicht in seinem dogmatischen Wesen? – »begründet ist, immer ergänzen müssen.«

Der Kritiker vergißt nur, daß das Recht sich anderseits selbst sehr ausdrücklich von »Gemüt und Gewissen« unterscheidet, daß diese Unterscheidung in dem einseitigen Wesen des Rechts wie in seiner dogmatischen Form begründet ist und sogar zu den Hauptdogmen des Rechts gehört, daß endlich die praktische Ausführung dieser Unterscheidung ebensosehr den Gipfel der Rechtsentwickelung bildet, wie die Trennung der Religion von allem profanen Inhalt sie zur abstrakten, absoluten Religion macht. Daß »Gemüt und Gewissen« in das Recht eingreifen, ist für den »Kritiker« ein hinreichender Grund, um da, wo es sich vom Recht handelt, vom Gemüt und vom Gewissen, und da, wo es sich um die juristische Dogmatik handelt, von der theologischen Dogmatik zu handeln.

Durch die »Definitionen und Unterscheidungen der absoluten Kritik« sind wir hinlänglich vorbereitet, ihre neuesten »Entdeckungen« über »die Gesellschaft« und »das Recht« zu vernehmen.

»Diejenige Weltform, welche die Kritik vorbereitet und deren Gedanken sie sogar erst vorbereitet, ist keine bloß rechtliche, sondern« – der Leser sammle sich – »eine gesellschaftliche, von der wenigstens so viel« – so wenig? – »gesagt werden kann, daß, wer zu ihrer Ausbildung nicht das Seinige beigetragen hat, nicht mit seinem Gewissen und Gemüt in ihr lebt, sich in ihr nicht zu Hause fühlen und an ihrer Geschichte nicht teilnehmen kann.«

Die von der Kritik vorbereitete Weltform wird als eine nicht bloß rechtliche, sondern gesellschaftliche bestimmt. Diese Bestimmung kann doppelt gedeutet werden. Entweder ist der zitierte Satz zu deuten durch »nicht rechtlich, sondern gesellschaftlich«, oder durch »nicht bloß rechtlich, sondern auch[102] gesellschaftlich.« Betrachten wir seinen Gehalt nach beiden Lesarten, zunächst nach der ersteren. Die absolute Kritik hat weiter oben die vom »Staat« unterschiedene neue »Weltform« als »Gesellschaft« bestimmt. Sie bestimmt jetzt das Hauptwort »Gesellschaft« durch das Eigenschaftswort »gesellschaftlich.« Empfing Herr Hinrichs im Gegensatz zu seinem »politisch« dreimal das Wort »gesellschaftlich«, so empfängt Herr Riesser im Gegensatz zu seinem »rechtlich« die gesellschaftliche Gesellschaft. Reduzierten sich die kritischen Aufschlüsse an Herrn Hinrichs auf »gesellschaftlich« + »gesellschaftlich« + »gesellschaftlich« = 3a, so geht die absolute Kritik in ihrem zweiten Feldzug von der Addition zur Multiplikation fort, und Herr Riesser wird auf die mit sich selbst multiplizierte Gesellschaft, die zweite Potenz des Gesellschaftlichen, die gesellschaftliche Gesellschaft = a2, verwiesen. Es bleibt der absoluten Kritik nun noch übrig, um ihre Aufschlüsse über die Gesellschaft zu vervollständigen, in die Brüche zu gehen, die Quadratwurzel aus der Gesellschaft zu ziehen usw.

Lesen wir dagegen nach der zweiten Glosse: »die nicht bloß rechtliche, sondern auch gesellschaftliche« Weltform, so ist diese Zwitter-Weltform keine andere als die heutzutag existierende Weltform, die Weltform der heutigen Gesellschaft. Daß die »Kritik« das zukünftige Dasein der heutzutage existierenden Weltform in ihrem vorweltlichen Denken erst vorbereitet, ist ein großes, ein ehrwürdiges kritisches Mirakel. Wie es sich aber auch mit der »nicht bloß rechtlichen, sondern gesellschaftlichen Gesellschaft« verhalte, die Kritik kann einstweilen nicht mehr von ihr verraten als das »fabula docet« die moralische Nutzanwendung. In dieser Gesellschaft wird sich »derjenige nicht zu Hause fühlen«, der mit seinem Gemüt und Gewissen nicht in ihr lebte. Schließlich wird niemand in dieser Gesellschaft leben als das »reine Gemüt« und das »reine Gewissen«, nämlich »der Geist«, »die Kritik« und die Ihrigen. Die Masse wird auf die eine oder die andere Weise von ihr ausgeschlossen sein, so daß die »massenhafte Gesellschaft« außerhalb der »gesellschaftlichen Gesellschaft« haust.

Mit einem Worte, diese Gesellschaft ist nichts anderes als der kritische Himmel, von welchem die wirkliche Welt als die unkritische Hölle ausgeschlossen ist. Die absolute Kritik bereitet diese verklärte Weltform des Gegensatzes von »Masse« und »Geist« in ihrem reinen Denken vor.

Von derselben kritischen Tiefe wie diese Aufschlüsse über die »Gesellschaft« sind die Aufschlüsse, die Herr Riesser über das Schicksal der Nationen erhält.[103]

Die absolute Kritik gelangt von der Emanzipationssucht der Juden und von der Sucht der christlichen Staaten, sie in »ihrem Gouvernements-Schematismus einzurubrizieren« – als ob sie nicht längst schon in den christlichen Gouvernements-Schematismus einrubriziert wären! – zu Prophezeiungen über den Verfall der Nationalitäten. Man sieht, auf welchem komplizierten Umweg die absolute Kritik bei der gegenwärtigen geschichtlichen Bewegung ankommt, nämlich auf dem Umwege der Theologie. Wie große Resultate sie auf diese Weise erhält, davon zeugt der lichtverbreitende Orakelspruch:

»Die Zukunft aller Nationalitäten – ist – eine – sehr – dunkle!«

Die Zukunft der Nationalitäten mag aber von wegen der Kritik so dunkel sein, als sie will. Das eine, was not tut, ist klar: die Zukunft ist ihr Werk.

»Das Schicksal«, ruft sie aus, »mag entscheiden, wie es will; wir wissen jetzt, daß es unser Werk ist.«

Wie Gott seinem Werke, dem Menschen, so läßt die Kritik ihrem Werke, dem Schicksal, seinen Eigenwillen. Die Kritik, deren Werk das Schicksal ist, ist allmächtig wie Gott. Sogar der »Widerstand«, den sie außer sich »findet«, ist ihr eignes Werk. »Die Kritik macht ihre Gegner.« Die »massenhafte Empörung« gegen sie ist daher nur für »die Masse« selbst »gefahrdrohend.«

Ist aber die Kritik wie Gott allmächtig, so ist sie auch allweise wie Gott und versteht es, ihre Allmacht mit der Freiheit, dem Willen und der Naturbestimmung der menschlichen Individuen zu vereinigen.

»Sie wäre nicht die epochemachende Kraft, wenn sie nicht diese Wirkung hätte, daß sie aus jedem das macht, was er sein will, und jedem unwiderruflich den Standpunkt anweist, der seiner Natur und seinem Willen entspricht

Leibniz könnte auf keine glücklichere Weise die prästabilierte Harmonie der göttlichen Allmacht mit der menschlichen Freiheit und Naturbestimmung herstellen.

Wenn »die Kritik« gegen die Psychologie dadurch zu verstoßen scheint, daß sie den Willen, etwas zu sein, nicht von der Fähigkeit, etwas zu sein, unterscheidet, so muß man bedenken, daß sie entscheidende Gründe besitzt, diese »Unterscheidung« für »dogmatisch« zu erklären.

Stärken wir uns zum dritten Feldzug! Rufen wir uns noch einmal in das Gedächtnis, daß »die Kritik ihren Gegner macht«! Wie könnte sie aber ihren Gegner – die »Phrase« machen, wenn sie nicht Phrasen machte?[104]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 99-105.
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