[1] Wie diese moralische Manier alle theoretische und praktische Uneigennützigkeit vernichtet, dazu liefert einen abschreckenden historischen Beleg Plutarch in seiner Biographie des Marius [21,7 – 8]. Nachdem erden schrecklichen Untergang der Cimbern beschrieben: wird erzählt, so viel Leichen seien gewesen, daß die Massalioten ihre Weinberge damit düngen konnten. Darauf sei Regen gekommen und dies das fruchtbarste Wein- und Obstjahr geworden. Welche Reflexionen stellt nun der edle Historiker bei dem tragischen Untergang jenes Volkes an? Plutarch findet es moralisch von Gott, daß er ein ganzes, großes, edles Volk umkommen und verfaulenließ, um den Marseiller Philistern eine fette Obsternte zu verschaffen. Also selbst die Verwandlung eines Volks in einen Misthaufen gibt erwünschte Gelegenheit zu moralischem Schwärmereivergnügen!
[2] Auch in betreff Hegels ist es bloße Ignoranz seiner Schüler, wenn sie diese oder jene Bestimmung seines Systems aus Akkommodation u.dgl., mit einem Wort, moralisch erklären. Sie vergessen, daß sie vor einer kaum abgelaufenen Zeitspanne, wie man ihnen aus ihren eigenen Schriften evident beweisen kann, allen seinen Einseitigkeiten begeistert anhingen.
Waren sie wirklich so affiziert von der fertig empfangenen Wissenschaft, daß sie derselben mit naivem, unkritischem Vertrauen sich hingaben: wie gewissenlos ist es, dem Meister eine versteckte Absicht hinter seiner Einsicht vorzuwerfen, dem die Wissenschaft keine empfangene, sondern eine werdende war, bis an deren äußerste Peripherie sein eigenstes geistiges Herzblut hinpulsierte. Vielmehr verdächtigen sie damit sich selbst, als sei es ihnen früher nicht ernst gewesen, und diesen ihren eigenen frühern Zustand bekämpfen sie unter der Form, daß sie ihn Hegel zuschreiben, vergessen aber dabei, daß er in unmittelbarem, substantialem, sie in reflektiertem Verhältnis zu seinem System standen.
Daß ein Philosoph diese oder jene scheinbare Inkonsequenz aus dieser oder jener Akkommodation begeht, ist denkbar; er selbst mag dieses in seinem Bewußtsein haben. Allein was er nicht in seinem Bewußtsein hat, daß die Möglichkeit dieser scheinbaren Akkommodationen in einer Unzulänglichkeit oder unzulänglichen Fassung seines Prinzips selber ihre innerste Wurzel hat. Hätte also wirklich ein Philosoph sich akkommodiert: so haben seine Schüler aus seinem innern wesentlichen Bewußtsein das zu erklären, was für ihn selbst die Form eines exoterischen Bewußtseins hatte. Auf diese Weise ist, was als Fortschritt des Gewissens erscheint, zugleich ein Fortschritt des Wissens. Es wird nicht das partikulare Gewissen des Philosophen verdächtigt, sondern seine wesentliche Bewußtseinsform konstruiert, in eine bestimmte Gestalt und Bedeutung erhoben und damit zugleich darüber hinausgegangen.
Ich betrachte übrigens diese unphilosophische Wendung eines großen Teils der Hegelschen Schule als eine Erscheinung, die immer den Übergang aus der Disziplin in die Freiheit begleiten wird.
Es ist ein psychologisches Gesetz, daß der in sich frei gewordene theoretische Geist zur praktischen Energie wird, als Wille aus dem Schattenreich des Amenthes heraustretend, sich gegen die weltliche, ohne ihn vorhandene Wirklichkeit kehrt. (Wichtig aber ist es in philosophischer Hinsicht, diese Seiten mehr zu spezifizieren, weil aus der bestimmten Weise dieses Umschlagens rückgeschlossen werden kann auf die immanente Bestimmtheit und den weltgeschichtlichen Charakter einer Philosophie. Wir sehen hier gleichsam ihr curriculum vitae aufs Enge, auf die subjektive Pointe gebracht.) Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit ander Idee mißt. Allein diese unmittelbare Realisierung der Philosophie ist ihrem innersten Wesen nach mit Widersprüchen behaftet, und dieses ihr Wesen gestaltet sich in der Erscheinung und prägt ihr sein Siegel auf.
Indem die Philosophie als Wille sich gegen die erscheinende Welt herauskehrt: ist das System zu einer abstrakten Totalität herabgesetzt, d.h., es ist zu einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht. Sein Verhältnis zur Welt ist ein Reflexionsverhältnis. Begeistet mit dem Trieb, sich zu verwirklichen, tritt es in Spannung gegen anderes. Die innere Selbstgenügsamkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Licht war, wird zur verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet. So ergibt sich die Konsequenz, daß das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, daß, was sie nach außen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist, daß gerade im Kampfe sie selbst in die Schäden verfällt, die sieA53 am Gegenteil als Schäden bekämpft, und daß sie diese Schäden erst aufhebt, indem sie in dieselben verfällt. Was ihr entgegentritt und was sie bekämpft, ist immer dasselbe, was sie ist, nur mit umgekehrten Faktoren.
Dies ist die eine Seite, wenn wir die Sache rein objektiv als unmittelbare Realisierung der Philosophie betrachten. Allein sie hat, was nur eine andere Form davon ist, auch eine subjektive Seite. Dies ist das Verhältnis des philosophischen Systems, das verwirklicht wird, zu seinen geistigen Trägern, zu den einzelnen Selbstbewußtsein, an denen ihr Fortschritt erscheint. Es ergibt sich aus dem Verhältnis, was in der Realisierung der Philosophie selbst der Welt gegenüberliegt, daß diese einzelnen Selbstbewußtsein immer eine zweischneidige Forderung haben, deren die eine sich gegen die Welt, die andere gegen die Philosophie selbst kehrt. Denn, was als ein in sich selbst verkehrtes Verhältnis an der Sache, erscheint an ihnen als eine doppelte, sich selbst widersprechende Forderung und Handlung. Ihre Freimachung der Welt von der Unphilosophie ist zugleich ihre eigene Befreiung von der Philosophie, die sie als ein bestimmtes System in Fesseln schlug. Weil sie selbst erst im Akt und der unmittelbaren Energie der Entwickelung begriffen, also in theoretischer Hinsicht noch nicht über jenes System hinausgekommen sind, empfinden sie nur den Widerspruch mit der plastischen Sich-selbst-Gleichheit des Systems und wissen nicht, daß. Indem sie sich gegen dasselbe wenden, sie nur seine einzelnen Momente verwirklichen.
Endlich tritt diese Gedoppeltheit des philosophischen Selbstbewußtseins als eine doppelte, sich auf das extremste gegenüberstehende Richtung auf, deren eine, die liberale Partei, wie wir sie im allgemeinen bezeichnen können, den Begriff und das Prinzip der Philosophie, die andere ihren Nichtbegriff, das Moment der Realität, als Hauptbestimmung festhält. Diese zweite Richtung ist die positive Philosophie. Die Tat der ersten ist dieKritik, also gerade das Sich-nach-außen-Wenden der Philosophie, die Tat der zweiten der Versuch zu philosophieren, also das In-sich-Wenden der Philosophie, indem sie den Mangel als der Philosophie immanent weiß, während die erste ihn als Mangel der Welt, die philosophisch zu machen, begreift. Jede dieser Parteien tut gerade das, was die andere tun will und was sie selbst nicht tun will. Die erste aber ist sich bei ihrem innern Widerspruch des Prinzips im allgemeinen bewußt und ihres Zweckes. In der zweiten erscheint die Verkehrtheit, sozusagen die Verrücktheit, als solche. Im Inhalt bringt es nur die liberale Partei, weil die Partei des Begriffes, zu realen Fortschritten, während die positive Philosophie es nur zu Forderungen und Tendenzen, deren Form ihrer Bedeutung widerspricht, zu bringen imstande ist.
Was also erstens als ein verkehrtes Verhältnis und feindliche Diremtion der Philosophie mit der Welt erscheint, wird zweitens zu einer Diremtion des einzelnen philosophischen Selbstbewußtseins in sich selbst und erscheint endlich als eine äußere Trennung und Gedoppeltheit der Philosophie, als zwei entgegengesetzte philosophische Richtungen.
Es versteht sich, daß außerdem noch eine Menge untergeordneter, quengelnder, individualitätsloser Gestaltungen auftauchen, die sich entweder hinter eine philosophische Riesengestalt der Vergangenheit stellen, – aber bald bemerkt man den Esel unter der Löwenhaut, die weinerliche Stimme eines Mannequin von heute und gestern greint komisch kontrastierend hervor hinter der gewaltigen, Jahrhunderte durchtönenden Stimme, etwa des Aristoteles, zu deren unwillkommenem Organe sie sich gemacht; es ist, als wenn ein Stummer sich durch ein Sprachrohr von enormer Größe zu Stimme verhelfen wollte – oder aber, mit doppelter Brille bewaffnet, steht irgendein Liliputaner auf einem Minimum vom posterius desA54 Riesen, verkündet der Welt nun ganz verwundert, welche überraschend neue Aussicht von seinem punctum visus aus sich darbiete, und müht sich lächerlich ab, darzutun, nicht im flutenden Herzen, sondern im soliden, kernigen Revier, auf dem er steht, sei der Punkt des Archimedes gefunden, pou stô, an dem die Welt in Angeln hängt. So entstehen Haar-, Nägel-, Zehen-, Exkrementenphilosophen und andere, die einen noch schlimmem Posten im mystischen Weltmenschen des Swedenborg zu repräsentieren haben. Allein ihrem Wesen nach fallen alle diese Schleimtierchen den beiden Richtungen, als ihrem Element, anheim, die angegeben sind. Was diese selbst betrifft: werde ich an einem andern Ort ihr Verhältnis teils zueinander, teils zur Hegelschen Philosophie und die einzelnen historischen Momente, in denen diese Entwickelung sich darstellt, vollständig explizieren.[330]
A55»Schwache Vernunft aber ist nicht die, die keinen objektiven Gott erkennt, sondern die einen erkennen will.« Schelling »Phil. Briefe über Dogmatismus und Kriticismus« in: »Philosophische Schriften«, Erster Band. Landshut 1809. S. 127. Brief II.
Es wäre dem Herrn Schelling überhaupt zu raten, seiner ersten Schriften sich wieder zu besinnen.A56 So heißt es z.B. in der Schrift »über das Ich als Prinzip der Philosophie«:
»Man nehme z.B. an, daß Gott, insofern er als Objekt bestimmt ist, Realgrund unseres Wissens sei, so fällt er ja, insofern er Objekt ist, selbst in die Sphäre unseres Wissens, kann also für uns nicht der letzte Punkt sein, an dem diese ganze Sphäre hängt.«A57 S. 5. l. c.
Wir erinnern Herrn Schelling schließlich an die Schlußworte seines oben zitierten Briefes:
»Es ist Zeit, der bessern Menschheit die Freiheit der Geister zu verkünden und nicht länger zu dulden, daß sie den Verlust ihrer Fesseln beweine.«A58 S. 129. l. c.
Wenn es schon anno 1795 Zeit war, wie im Jahr 1841?
Um hier bei Gelegenheit eines fast berüchtigt gewordnen Themas zu gedenken, der Beweise für das Dasein Gottes, so hat Hegel diese theologischen Beweise sämtlich umgedreht, d.h. verworfen, um sie zu rechtfertigen. Was müssen das für Klienten sein, die der Advokat nicht anders der Verurteilung entziehn kann, als indem er selbst sie totschlägt? Hegel interpretiert z.B. den Schluß von der Welt auf Gott in die Gestalt: »Weil das Zufällige nicht ist, ist Gott oder das Absolute«. Allein der theologische Beweis heißt umgekehrt: »Weil das Zufällige wahres Sein hat, ist Gott.« Gott ist die Garantie für die zufällige Welt. Es versteht sich, daß damit auch das Umgekehrte gesagt ist.
Die Beweise für das Dasein Gottes sind entweder nichts als hohle Tautologien – z.B. der ontologische Beweis hieße nichts als: »was ich mir wirklich (realiter) vorstelle, ist eine wirkliche Vorstellung für mich«, das wirkt auf mich, und in diesem Sinn haben alle Götter, sowohl die heidnischen als christlichen, eine reelle ExistenzA59 besessen. Hat nicht der alte Moloch geherrscht?A60 War nicht der delphische Apollo eine wirkliche Macht im Leben der Griechen? Hier heißt auch Kants Kritik nichts. Wenn jemand sich vorstellt, hundert Taler zu besitzen, wenn diese Vorstellung ihm keine beliebige, subjektive ist, wenn er an sie glaubt, so haben ihm die hundert eingebildeten Taler denselben Wert wie hundert wirkliche. Er wird z.B. Schulden auf seine Einbildung machen, sie wird wirken, wie die ganze Menschheit Schulden auf ihre Götter gemacht hat. Im Gegenteil. Kants Beispiel hätte den ontologischen Beweis bekräftigen können. Wirkliche Taler haben dieselbe Existenz, dieA61 eingebildete Götter [haben]. Hat ein wirklicher Taler anderswo Existenz als in der Vorstellung, wenn auch in einer allgemeinen oder vielmehr gemeinschaftlichen Vorstellung der Menschen? Bringe Papiergeld in ein Land, wo man diesen Gebrauch des Papiers nicht kennt, und jeder wird lachen über deine subjektive Vorstellung. Komme mit deinen Göttern in ein Land, wo andere Götter gelten, und man wird dir beweisen, daß du an Einbildungen und Abstraktionen leidest. Mit Recht. Wer einen Wendengott den alten Griechen gebracht, hätte den Beweis von der Nichtexistenz dieses Gottes gefunden. Denn für die Griechen existierte er nicht. Was ein bestimmtes Land für bestimmte Götter aus der Fremde, das ist das Land der Vernunft für Gott überhaupt, eine Gegend, in der seine Existenz aufhört.A62 –[370]
Oder die Beweise für das Dasein Gottes sind nichts als Beweise für das Dasein des wesentlichen menschlichen Selbstbewußtseins, logische Explikationen desselben. Z.B. der ontologische Beweis. Welches Sein ist unmittelbar, indem es gedacht wird? Das Selbstbewußtsein.
In diesem Sinne sind alle Beweise für das Dasein Gottes Beweise für sein Nichtdasein, Widerlegungen aller Vorstellungen von einem Gott. Die wirklichen Beweise müßten umgekehrt lauten: »Weil die Natur schlecht eingerichtet ist, ist Gott.« »Weil eine unvernünftige Welt ist, ist Gott.« »Weil der Gedanke nicht ist, ist Gott.« Was besagte dies aber, als, wem die Welt unvernünftig, wer daher selbst unvernünftig ist, dem ist Gott? Oder die Unvernunft ist das Dasein Gottes.
»[...] wenn ihr die Idee eines objektiven Gottes voraussetzt, wie könnt ihr von Gesetzen sprechen, die die Vernunft aus sich selbst hervorbringt, da doch Autonomie allein einem absolut freien Wesen zukommen kann?«A63 Schelling. l. c. S. 198. [Brief X.]
»Es ist Verbrechen an der Menschheit, Grundsätze zu verbergen, die allgemein mitteilbar sind.« Derselbe. l. c. S. 199.[372]
A53 | »sie« von Marx eingefügt |
A54 | Von Marx korrigiert aus »eines« |
A55 | Diese Anmerkung wurde von Marx nachträglich hinzugefügt. |
A56 | »Schriften sich wieder zu besinnen« korrigiert aus »Schriften wieder vorzunehmen« |
A57 | in diesem Zitat stammen mit Ausnahme von »Gott« alle Hervorhebungen von Marx |
A58 | Alle Hervorhebungen, außer »bessern« von Marx |
A59 | »Existenz« korrigiert aus: Macht |
A60 | nach »geherrscht« gestrichen: dem die Menschenopfer fielen |
A61 | »die« korrigiert aus: als |
A62 | »Existenz aufhört« korrigiert aus: Nichtexistenz bewiesen wird |
A63 | Alle Hervorhebungen von Marx außer »Gesetzen«, »aus sich selbst« und »absolut« |
Buchempfehlung
Diese Ausgabe fasst die vier lyrischen Sammelausgaben zu Lebzeiten, »Gedichte« (1841), »Neue Gedichte« (1850), »Lyrisches und Episches« (1855) und »Neueste Gedichte« (1870) zusammen. »Letzte Gedichte« (1895) aus dem Nachlaß vervollständigen diese Sammlung.
278 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro