Zweites Kapitel
Die Qualitäten des Atoms

[285] Es widerspricht dem Begriff des Atoms, Eigenschaften zu haben; denn, wie Epikur sagt, jede Eigenschaft ist veränderlich, die Atome aber verändern sich nicht. Allein es ist nichtsdestoweniger eine notwendige Konsequenz, ihnen dieselben beizulegen. Denn die vielen Atome der Repulsion, die durch den sinnlichen Raum getrennt sind, müssen notwendig unmittelbar voneinander und von ihrem reinen Wesen verschieden sein, d.h. Qualitäten besitzen.

Ich nehme daher in der folgenden Entwickelung gar keine Rücksicht auf Schneiders und Nürnbergers Behauptung, »Epikur habe den Atomen keine Qualitäten beigelegt, die §§ 44 und 54 in dem Brief an Herodot bei Diogenes Laertius seien untergeschoben«. Wäre wirklich an dem, wie wollte man die Zeugnisse des Lukrez, des Plutarch, ja aller Schriftsteller, die über Epikur berichten, entkräften? Dazu erwähnt Diogenes Laertius die Qualitäten des Atoms nicht in zwei, sondern in zehn Paragraphen,[285] nämlich den §§ 42, 43, 44, 54, 55, 56, 57, 58, 59 und 61. Der Grund, den jene Kritiker angeben, »sie wüßten die Qualitäten des Atoms mit seinem Begriff nicht zu vereinigen«, ist sehr seicht. Spinoza sagt, die Ignoranz sei kein Argument. Wollte jeder die Stellen, die er in den Alten nicht versteht, ausstreichen, wie bald hätte man tabula rasa!

Durch die Qualitäten erhält das Atom eine Existenz, die seinem Begriff widerspricht, wird es als entäußertes, von seinem Wesen unterschiedenes Dasein gesetzt. Dieser Widerspruch ist es, der das Hauptinteresse des Epikur bildet. Sobald er daher eine Eigenschaft poniert und so die Konsequenz der materiellen Natur des Atoms gezogen hat: kontraponiert er zugleich Bestimmungen, welche diese Eigenschaft in ihrer eigenen Sphäre wieder vernichten und dagegen den Begriff des Atoms geltend machen. Er bestimmt daher alle Eigenschaften so, daß sie sich selbst widersprechen. Demokrit dagegen betrachtet nirgends die Eigenschaften in bezug auf das Atom selbst, noch verobjektiviert er den Widerspruch zwischen Begriff und Existenz, der in ihnen liegt. Vielmehr geht sein ganzes Interesse darauf, die Qualitäten in bezug auf die konkrete Natur, die aus ihnen gebildet werden soll, darzustellen. Sie sind ihm bloß Hypothesen zur Erklärung der erscheinenden Mannigfaltigkeit. Der Begriff des Atoms hat daher nichts mit ihnen zu schaffen.

Um unsere Behauptung zu erweisen, ist es zuvörderst nötig, uns mit den Quellen zu verständigen, die sich hier zu widersprechen scheinen.

In der Schrift De placitis philosophorum heißt es: »Epikur behauptet, den Atomen komme dies Dreifache zu: Größe, Gestalt, Schwere. Demokrit nahm nur zweierlei an: Größe und Gestalt; Epikur setzte diesen als Drittes die Schwere hinzu.« Dieselbe Stelle findet sich, wörtlich wiederholt, in der Praeparatio evangelica des Eusebius.

Sie wird bestätigt durch das Zeugnis des Simplicius und Philoponus, nach dem Demokrit den Atomen nur den Unterschied der Größe und der Gestalt zugeteilt hat. Direkt entgegen steht Aristoteles, der im 1. Buch De generatione et corruptione den Atomen des Demokrit verschiedenes Gewicht beilegte. An einer andern Stelle (im 1. Buch De coelo) läßt Aristoteles unentschieden, ob Demokrit den Atomen Schwere beigelegt habe oder nicht; denn er sagt: »So wird keiner der Körper absolut leicht sein, wenn alle Schwere haben; wenn aber alle Leichtigkeit haben, wird keiner schwer sein.« Ritter in seiner »Geschichte der alten Philosophie« verwirft, auf das Ansehen des Aristoteles sich stützend, die Angaben bei Plutarch, Eusebius und Stobäus; die Zeugnisse des Simplicius und Philoponus berücksichtigt er nicht.[286]

Wir wollen zusehen, ob sich jene Stellen wirklich so sehr widersprechen. In den angeführten Zitaten spricht Aristoteles von den Qualitäten des Atoms nicht ex professo. Dagegen heißt es im 7. Buch der »Metaphysik«: »Demokrit setzt drei Unterschiede der Atome. Denn der zugrunde liegende Körper sei der Materie nach einer und derselbe; er sei aber unterschieden durch den rhysmos, das die Gestalt, durch die tropê, das die Lage, oder durch die diathigê, das die Ordnung bedeutet.« Soviel folgt sogleich aus dieser Stelle.A32 Die Schwere wird nicht als eine Eigenschaft der demokritischen Atome erwähnt. Die zersplitterten, durch die Leere auseinandergehaltenen Stücke der Materie müssen besondere Formen haben, und diese werden ganz äußerlich aus der Betrachtung des Raumes aufgenommen. Noch deutlicher geht dies aus folgender Stelle des Aristoteles hervor: »Leukipp und sein Genösse Demokrit sagen, die Elemente seien das Volle und das Leere..... Diese seien Grund des Seienden als Materie. Wie nun diejenigen, die eine einzige Grundsubstanz setzen, das andere aus deren Affektionen erzeugen, indem sie das Dünne und das Dichte als Prinzipien der Qualitäten unterstellen: auf dieselbe Weise lehren auch jene, daß die Unterschiede der Atome Ursachen des andern seien; denn das zum Grunde liegende Sein unterscheide sich allein durch rhysmos, diathigê und tropê..... Es unterscheide sich nämlich A von N durch die Gestalt, AN von NA durch die Ordnung, Z von N durch die Lage.«

Es folgt aus dieser Stelle evident, daß Demokrit die Eigenschaften der Atome nur in bezug auf die Bildung der Unterschiede der Erscheinungswelt, nicht in bezug auf das Atom selbst betrachtet. Es folgt ferner, daß Demokrit die Schwere nicht als eine wesentliche Eigenschaft der Atome hervorhebt. Sie versteht sich ihm von selbst, weil alles Körperliche schwer ist. Ebenso ist selbst die Größe nach ihm keine Grundqualität. Sie ist eine akzidentelle Bestimmung, die den Atomen schon mit der Figur gegeben ist. Nur die Verschiedenheit der Figuren – denn weiter ist in Gestalt, Lage, Stellung nichts enthalten – interessieren den Demokrit. Größe, Gestalt, Schwere, indem sie zusammengestellt werden, wie es vom Epikur geschieht, sind Differenzen, welche das Atom an sich selbst hat; Gestalt, Lage, Ordnung [-] Unterschiede, welche ihm in bezug auf ein anderes zukommen. Während wir also bei Demokrit bloße hypothetische Bestimmungen zur Erklärung der Erscheinungswelt finden, wird sich uns bei Epikur die[287] Konsequenz des Prinzips selbst darstellen. Wir betrachten daher seine Bestimmungen der Eigenschaften des Atoms im einzelnen.

Erstens haben die Atome Größe. Andrerseits wird auch die Größe negiert. Sie haben nämlich nicht jede Größe, sondern es sind nur einige Größenwechsel unter ihnen anzunehmen. Ja es ist nur die Negation des Großen ihnen zuzuschreiben, das Kleine, und auch nicht das Minimum, denn dies wäre eine rein räumliche Bestimmung, sondern das Unendlichkleine, das den Widerspruch ausdrückt. Rosinius in seinen Adnotationen zu den Fragmenten des Epikur übersetzt daher eine Stelle falsch und übersieht die andere gänzlich, wenn er sagt: »Hujusmodi autem tenuitatem atomorum incredibili parvitate arguebat Epicurus, utpote quas nulla magnitudine praeditas ajebat, teste Laertio X, 44.« Ich will nun keine Rücksicht darauf nehmen, daß nach Eusebius erst Epikur unendliche Kleinheit den Atomen zugeschrieben, Demokrit aber auch die größten Atome – Stobäus sagt sogar, von Weltgröße – angenommen habe.

Einerseits widerspricht dies dem Zeugnis des Aristoteles, andrerseits widerspricht Eusebius oder vielmehr der alexandrinische Bischof Dionysius, den er exzerpiert, sich selbst; denn in demselben Buche heißt es, Demokrit habe als Prinzipien der Natur unteilbare, durch die Vernunft anschaubare Körper unterstellt. Allein soviel ist klar, Demokrit bringt sich den Widerspruch nicht zum Bewußtsein; er beschäftigt ihn nicht, während er das Hauptinteresse Epikurs bildet.

Die zweite Eigenschaft der epikureischen Atome ist die Gestalt. Allein auch diese Bestimmung widerspricht dem Begriff des Atoms, und es muß ihr Gegenteil gesetzt werden. Die abstrakte Einzelheit ist das Abstrakt-sich-Gleiche und daher gestaltlos. Die Unterschiede der Gestalt der Atome sind daher zwar unbestimmbar, allein sie sind nicht absolut unendlich. Vielmehr ist es eine bestimmte und endliche Anzahl von Gestalten, durch die die Atome unterschieden werden. Es ergibt sich hieraus von selbst, daß es nicht so viel verschiedene Figuren als Atome gibt, während Demokrit unendlich viele Figuren setzt. Hätte jedes Atom eine besondere Gestalt, so müßte es Atome von unendlicher Größe geben; denn sie hätten einen unendlichen Unterschied, den Unterschied von allen übrigen, an sich, wie die Leibnizischen Monaden. Die Behauptung von Leibniz, daß nicht zwei Dinge sich gleich seien, wird daher umgekehrt; und es gibt unendlich viele Atome von derselben Gestalte, womit offenbar die[288] Bestimmung der Gestalt wieder negiert ist; denn eine Gestalt, die [sich] nicht mehr von anderm unterscheidet, ist nicht Gestalt.A33

Höchst wichtig ist es endlichA34, daß Epikur als dritte Qualität die Schwere anführt; denn im Schwerpunkt besitzt die Materie die Ideale Einzelheit, die eine Hauptbestimmung des Atoms bildet. Sind also die Atome einmal in das Reich der Vorstellung versetzt, so müssen sie auch schwer sein.

Allein die Schwere widerspricht auch direkt dem Begriff des Atoms; denn sie ist die Einzelheit der Materie als ein Idealer Punkt, der außerhalb derselben liegt. Das Atom ist aber selbst diese Einzelheit, gleichsam der Schwerpunkt, als eine einzele Existenz vorgestellt. Die Schwere existiert daher für den Epikur nur als verschiedenes Gewicht, und die Atome sind selbst substantielle Schwerpunkte wie die Himmelskörper. Wendet man dies auf das Konkrete an: so ergibt sich von selbst, was der alte Brucker so wunderbar findet und was uns Lukrez versichert, nämlich, daß die Erde kein Zentrum hat, nach dem Alles strebt, und daß es keine Antipoden gibt. Da die Schwere ferner nur dem von anderm unterschiedenen, also entäußerten und mit Eigenschaften begabten Atome zukömmt: so versteht es sich, daß, wo die Atome nicht als viele in ihrer Differenz voneinander, sondern nur in Beziehung zur Leere gedacht werden, die Bestimmung des Gewichtes fortfällt. Die Atome, so verschieden sie an Masse und Form sein mögen, bewegen sich daher gleich schnell im leeren Raum. Epikur wendet daher die Schwere auch nur in der Repulsion und den Kompositionen an, die aus der Repulsion hervorgehen, was Veranlassung gegeben hatA35, zu behaupten, nur die KonglomerationenA36 der Atome, nicht aber sie selbst, seien mit Schwere begabt.

Gassendi lobt schonA37 den Epikur, daß er, rein durch Vernunft geleitet, die Erfahrung antizipiert habe, wonach alle Körper, obgleich an Gewicht und Last höchst verschieden, dennoch gleich schnell sind, wenn sie von oben nach unten fallen.A38

Die Betrachtung der Eigenschaften der Atome liefert uns also dasselbe Resultat wie die Betrachtung der Deklination, nämlich, daß Epikur den Widerspruch im Begriff des Atoms zwischen Wesen und Existenz verobjektiviert und so die Wissenschaft der Atomistik geliefert hat, während[289] beim Demokrit keine Realisierung des Prinzips selber stattfindet, sondern nur die materielle Seite festgehalten und Hypothesen zum Behufe der Empirie beigebracht werden.

A32

der folgende Satz von Marx gestrichen: Demokrit setzt nicht den ‹Unterschied› Widerspruch zwischen der Qualität des Atoms und seinem Begriff.

A33

der folgende Absatz von Marx gestrichen: Epikur hat sich also auch hier den Widerspruch verobjektiviert, während Demokrit, nur die materielle Seite festhaltend, in den weiteren Bestimmungen keine Konsequenz des Prinzips mehr erkennen läßt.

A34

»endlich« von Marx eingefügt

A35

der folgende Satzteil von Marx gestrichen: sie als Ursache dieser zu betrachten und zu

A36

»Konglomeration« von Marx in den Plural gesetzt

A37

»schon« von Marx hinzugesetzt

A38

der folgende Absatz von Marx gestrichen: Wir haben in diesem Lobe die Verständigung aus dem Prinzip des Epikur hinzugefügt.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1968, Band 40, S. 285-290.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Christen, Ada

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Diese Ausgabe gibt das lyrische Werk der Autorin wieder, die 1868 auf Vermittlung ihres guten Freundes Ferdinand v. Saar ihren ersten Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« bei Hoffmann & Campe unterbringen konnte. Über den letzten der vier Bände, »Aus der Tiefe« schrieb Theodor Storm: »Es ist ein sehr ernstes, auch oft bittres Buch; aber es ist kein faselicher Weltschmerz, man fühlt, es steht ein Lebendiges dahinter.«

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon