II. Die beabsichtigte Haltung des Blattes

[156] Gleich am 24. Juli benachrichtigt Bernstein den Hirsch, die Differenzen, die er als Laternenmann mit einzelnen Genossen gehabt, würden seine Stellung erschweren.

Hirsch antwortet, die Haltung des Blattes werde seines Erachtens im allgemeinen dieselbe sein müssen wie die der »Laterne«, d.h. eine solche, die in der Schweiz Prozesse vermeidet und in Deutschland nicht unnötig erschreckt. Er fragt, wer jene Genossen seien und fährt fort:

»Ich kenne nur einen und ich verspreche Ihnen, daß ich diesen, im gleichen Fall disziplinwidrigen Benehmens, genau wieder so behandeln werde.«

Darauf antwortet Bernstein im Gefühl seiner neuen amtlichen Zensor würde:

»Was nun die Haltung des Blatts betrifft, so ist die Ansicht der Aufsichtskommission allerdings die, daß die ›Laterne‹ nicht als Vorbild gelten soll, das Blatt soll unsrer Ansicht nach weniger in politischem Radikalismus aufgehn, als prinzipiell sozialistisch gehalten sein. Fälle wie die Attacke gegen Kayser, die von allen Genossen ohne Ausnahme (!) gemißbilligt wurde, müssen unter allen Umständen vermieden werden.«

Und so weiter, und so weiter. Liebknecht nennt den Angriff gegen Kayser »einen Bock«, und Schramm hält ihn für so gefährlich, daß er daraufhin die Zensur über Hirsch verhängt.

Hirsch schreibt nochmals an Höchberg, ein Fall wie der Kaysersche

»kann nicht vorkommen, wenn ein offizielles Parteiorgan existiert, dessen klare Darlegungen und wohlmeinende Winke ein Abgeordneter nicht so dreist in den Wind schlagen kann«.

Auch Viereck schreibt, dem neuen Blatt sei

»leidenschaftslose Haltung und tunlichstes Ignorieren aller vorgekommenen Differenzen ... vorgeschrieben«, es solle keine »vergrößerte ›Laterne‹« sein, und Bernstein »könnte man höchstens vorwerfen, daß er zu gemäßigter Richtung ist, wenn das in einer Zeit, wo wir doch nicht mit voller Flagge segeln können, ein Vorwurf ist«.

Was ist nun dieser Fall Kayser, dies unverzeihliche Verbrechen, das Hirsch begangen haben soll? Kayser spricht und stimmt im Reichstag, der einzige unter den sozialdemokratischen Abgeordneten, für Schutzzölle. Hirsch klagt ihn an, die Parteidisziplin verletzt zu haben, indem K[ayser][156]

1. für indirekte Steuern stimmt, deren Abschaffung das Parteiprogramm ausdrücklich verlangt;

2. dem Bismarck Geld bewilligt und damit die erste Grundregel aller unsrer Parteitaktik verletzt: Dieser Regierung keinen Heller.

In beiden Punkten hat Hirsch unleugbar recht. Und nachdem Kayser einerseits das Parteiprogramm, auf das ja die Abgeordneten durch Kongreßbeschluß sozusagen vereidigt worden, und andrerseits die unabweisbarste, allererste Grundregel der Parteitaktik mit Füßen getreten, Bismarck zum Dank für das Sozialistengesetz Geld votiert, hatte Hirsch ebenfalls, unsrer Ansicht nach, vollkommen recht, so derb auf ihn loszuschlagen, wie er tat.

Wir haben nie begreifen können, wieso man sich in Deutschland so gewaltig über diesen Angriff auf Kayser hat erbosen können. Jetzt erzählt mir Höchberg, die »Fraktion« habe Kayser die Erlaubnis zu seinem Auftreten erteilt, und durch diese Erlaubnis halte man K[ayser] für gedeckt.

Wenn sich das so verhält, so ist das doch etwas stark. Zunächst konnte Hirsch von diesem geheimen Beschluß ebensowenig etwas wissen wie die übrige Welt.A2 Sodann wird die Blamage für die Partei, die früher auf K[ayser] allein abgewälzt werden konnte, durch diese Geschichte nur noch größer, und ebenso das Verdienst Hirschs, offen und vor aller Welt diese abgeschmackten Redensarten und noch abgeschmacktere Abstimmung Kaysers bloßgelegt und damit die Parteiehre gerettet zu haben. Oder ist die deutsche Sozialdemokratie in der Tat von der parlamentarischen Krankheit angesteckt und glaubt, mit der Volkswahl werde der heilige Geist über die Gewählten ausgegossen, die Fraktionssitzungen in unfehlbare Konzilien, Fraktionsbeschlüsse in unantastbare Dogmen verwandelt?

Ein Bock ist allerdings geschossen, nicht aber von Hirsch, sondern von den Abgeordneten, die den Kayser mit ihrem Beschluß deckten. Und wenn diejenigen, die vor allem auf Aufrechterhaltung der Parteidisziplin zu achten berufen sind, diese Parteidisziplin selbst durch einen solchen Beschluß so eklatant brechen, so ist das um so schlimmer. Noch schlimmer aber, wenn man sich bis zu dem Glauben versteigt, nicht Kayser, durch seine Rede und Abstimmung, und die andern Abgeordneten, durch ihren Beschluß, hätten[157] die Parteidisziplin verletzt, sondern Hirsch, indem er trotz dieses ihm noch dazu unbekannten Beschlusses den Kayser angriff.

Es ist übrigens sicher, daß die Partei in der Schutzzollfrage dieselbe unklare und unentschiedene Haltung eingenommen hat wie bisher in fast allen praktisch gewordenen ökonomischen Fragen, z.B. bei den Reichseisenbahnen. Das kommt daher, daß die Parteiorgane, namentlich der »Vorwärts«, statt diese Frage gründlich zu diskutieren, sich mit Vorliebe auf die Konstruktion der zukünftigen Gesellschaftsordnung gelegt haben. Als die Schutzzollfrage nach dem Sozialistengesetz plötzlich praktisch wurde, gingen die Ansichten in den verschiedensten Schattierungen auseinander, und es war nicht ein einziger am Platz, der zur Bildung eines klaren und richtigen Urteils die Vorbedingung besaß: Kenntnis der Verhältnisse der deutschen Industrie und ihrer Stellung auf dem Weltmarkt. Bei den Wählern konnten dann hie und da schutzzöllnerische Strömungen auch nicht ausbleiben, diese wollte man doch auch berücksichtigen. Der einzige Weg, aus dieser Verwirrung herauszukommen, indem man die Frage rein politisch auffaßte (wie in der »Laterne« geschah), wurde nicht entschieden eingeschlagen. So konnte es nicht fehlen, daß die Partei in dieser Debatte zum erstenmal zaudernd, unsicher und unklar auftrat und schließlich durch und mit Kayser sich gründlich blamierte.

Der Angriff auf Kayser wird nun zum Anlaß genommen, um Hirsch in allen Tonarten vorzupredigen, das neue Blatt solle die Exzesse der »Laterne« keineswegs nachahmen, solle weniger in politischem Radikalismus aufgehn, als prinzipiell sozialistisch und leidenschaftslos gehalten werden. Und zwar von Viereck nicht weniger als von Bernstein, der jenem grade deshalb, weil er zu gemäßigt ist, als der rechte Mann erscheint, weil man doch jetzt nicht mit voller Flagge segeln kann.

Aber warum geht man denn überhaupt ins Ausland, als um mit voller Flagge zu segeln? Im Ausland steht dem nichts entgegen. In der Schweiz existieren die deutschen Preß-, Vereins- und Strafgesetze nicht. Man kann dort also nicht nur diejenigen Dinge sagen, die man zu Hause schon vor dem Sozialistengesetz wegen der gewöhnlichen deutschen Gesetze nicht sagen konnte, man ist auch verpflichtet dazu. Denn hier steht man nicht bloß vor Deutschland, sondern vor Europa, und hat die Pflicht, soweit die Schweizer Gesetze erlauben, Europa gegenüber die Wege und Ziele der deutschen Partei unverhohlen darzulegen. Wer sich in der Schweiz an deutsche Gesetze binden wollte, bewiese eben nur, daß er dieser deutschen Gesetze würdig ist und in der Tat nichts zu sagen hat als was in Deutschland vor dem Ausnahmegesetz zu sagen erlaubt war. Auch auf die Möglichkeit,[158] der Redaktion die Rückkehr nach Deutschland temporär abzuschneiden, darf keine Rücksicht genommen werden. Wer nicht bereit ist, das zu riskieren, gehört nicht auf einen so exponierten Ehrenposten.

Noch mehr. Die deutsche Partei ist mit dem Ausnahmegesetz in Bann und Acht getan worden, grade weil sie die einzige ernsthafte Oppositionspartei in Deutschland war. Wenn sie in einem auswärtigen Organ Bismarck ihren Dank damit abstattet, daß sie diese Rolle der einzigen ernsthaften Oppositionspartei aufgibt, daß sie hübsch zahm auftritt, den Fußtritt mit leidenschaftsloser Haltung hinnimmt, so beweist sie nur, daß sie des Fußtritts wert war. Von allen deutschen Emigrationsblättern, die seit 1830 im Ausland erschienen, ist die »Laterne« sicher eins der gemäßigsten. Wenn aber die »Laterne« schon zu frech war – dann kann das neue Organ die Partei vor den Gesinnungsgenossen der nichtdeutschen Länder nur kompromittieren.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 19, S. 156-159.
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