XXIII. Abschied von Prag.

[261] Der langsam gereifte und dann so plötzlich entschiedene Entschluß, Prag und den Schauplatz nationaler Katzbalgereien zu verlassen, dürfte stark beeinflußt worden sein von der Kampfesweise beider Parteien, über deren Unwahrhaftigkeit ich als Redaktionsmitglied des kleinen Provinzblattes die ersten Erfahrungen sammeln konnte. Sehr rasch und für immer hatte ich die Ehrfurcht vor der »Fahne der Partei« verloren; ich hatte kleine Führer kennengelernt und deren Eitelkeit. Hüben und drüben wurde gelogen und wider besseres Wissen der Gegner beschimpft. Das mußte bei einem vornehmen Weltblatt ganz gewiß viel anders sein.

Wie gesagt, ich hatte nicht eigentlich den Wunsch, in einer Großstadt zu leben; da aber die großen Blätter nur dort zu gedeihen schienen, so richtete sich der Blick bald nach Wien, bald nach Berlin. Da und dort winkte verlockend die Möglichkeit, alle Tage ein gutes Theater oder ein gutes Konzert besuchen zu können. Den Auschlag gab Dr. Julius Friedländer, der angeheiratete Vetter, der mir schon – wie man sich erinnern wird – bei der Drucklegung meiner Sonette zu Leipzig ironisch-wohlwollend Schicksal gespielt hatte. Sooft er aus Berlin nach Prag kam, pflegte er gern mit meiner Mutter zu plaudern, und ich, das Sorgenkind[261] von 26 Jahren, war oft der Gegenstand solcher Unterhaltungen. Ironisch-wohlwollend strich Dr. Friedländer (als antiquarischer Buchhändler und als Zeitungsverleger war er mir in literarischen Lebensfragen eine Autorität) mein Talent heraus; ich gehörte aber in die Hauptstadt, wo ich lernen würde, daß auch die gefeiertsten Dichter Geld verdienen wollen; in Prag würde ich verbummeln. Namentlich das letzte sah ich ein. Wohin aber? Der Ratgeber war für sein unvergleichliches Berlin; meine Mutter war mehr für Wien, weil das doch nicht so außer der Welt läge.

Ich ließ mich vom Vetter leicht überreden, mein »Glück« in Berlin zu versuchen; er setzte meiner Mutter die Vorteile dieser Stadt beredt auseinander. Dort würde ich arbeiten lernen; und die hergebrachte Verhöhnung der österreichischen Schlamperei brach los. Die beiden Gründe aber, die bei mir für Berlin entschieden, waren ganz anderer Art, und ich trage gar kein Bedenken, meine Dummerhaftigkeit einzugestehen, ja sogar mit einer gewissen Selbstgerechtigkeit an diese späte Dummerhaftigkeit – stand ich doch schon in meinem 27. Jahre – zurückzudenken. In erster Linie stand, daß ich in Wien zahlreiche Beziehungen zu einflußreichen Verwandten und auch schon zu den beiden angesehensten Zeitungen besaß, also auf Förderung (auf deutsch: Protektion) rechnen konnte; ich aber wollte meinen eigenen Weg gehen. Sodann schwebte mir als das nächste erstrebenswerte Erlebnis vor, Bismarck einmal im Reichstage reden zu hören. Bismarck hat gesagt, Berlin ziehe die Leute vom Lande hinein, weil sie dort umsonst Militärmusik hören können. Mir war Bismarck die Musik, die nach Berlin rief.[262] Ganz unklar unbewußt war es mir, daß hinter diesem Wunsche allerlei Ernstes steckte.

Inzwischen war im Frühjahr 1876 mein kleiner Einakter »Kein Gut, kein Mut« im Prager Landestheater aufgeführt worden. Wieder möchte ich nicht erzählen, weil eine Herzensangelegenheit damit verknüpft war, wie es zu der ersten Niederschrift dieses Einakters (binnen drei Stunden) kam, wie die Aufführung mit Hilfe von Alfred Klaar gegen den Willen des scheidenden Theaterdirektors durchgesetzt wurde und wie überhaupt die Auflösung der alten und mir lieb gewordenen Truppe mir den Abschied von Prag leicht und erfreulich machte. Genug, der hübsche Erfolg meines Einakters hatte zur nächsten Folge, daß das große Prager Lokalblatt, die »Bohemia«, den Versuch machte, mich an Prag zu fesseln.

In dem Redakteur der »Bohemia«, Herrn Franz Klutschak, lernte ich einen Journalisten kennen, der in allem ein Widerspiel zu David Kuh war. Gar kein Talent, vielleicht auch kein politischer Charakter wie Kuh, aber ein Mann von vielseitiger Bildung, mit den guten Umgangsformen eines höheren österreichischen Beamten. Er hielt mir eine kluge Rede über die Schattenseiten jeder Genialität, die immer zu Rücksichtslosigkeit führe; die lokalen Verhältnisse müßten immer berücksichtigt werden; das würde ich schon mit der Zeit lernen. Und er bot mir die Kunstkritik für die »Bohemia« an. Zunächst sollte ich den Bericht über die bevorstehende Prager Kunstausstellung übernehmen.

Daß ich dieser Aufgabe durchaus nicht gewachsen war, das fiel mir nicht im Traume ein. Ich glaubte Augen zu haben und schreiben zu können. Die Galerien[263] von Wien und München hatte ich durchlaufen, hatte ein Kolleg über italienische Malerei (bei Ambros) und ein Kolleg über Geschichte der Architektur (bei Joseph Bayer) gehört; ich bildete mir also ein, Kenntnisse genug aus Vergangenheit und Gegenwart zu besitzen. Daß ich halb und halb schon entschlossen war, Prag zu verlassen, das bedachte ich keinen Augenblick, als ich das Anerbieten Klutschaks annahm.

In die letzten Monate meiner Prager Zeit fallen neue Beziehungen zu Kreisen und Personen, die mich die deutsche Kolonie, wie man die deutsche Gesellschaft Prags schon damals nennen durfte, besser als bisher kennenlernen ließ. Mein kleiner Theatererfolg, vielleicht auch einige meiner Aufsätze hatten auf mich aufmerksam gemacht.

Im deutschen Kasino, der festen Burg des Deutschtums, in welcher nur etwas häufig die Fensterscheiben eingeschlagen wurden, machte ich die Bekanntschaft der ersten politischen Führer und konnte nicht umhin, sie für etwas bedeutender zu halten als ihre politischen Journalisten waren. Ich muß übrigens zur Einweihung des Festsaals im Deutschen Hause ein völlig unpolitisches Festgedicht verfaßt haben. Es war mein größter Prager Erfolg. Die kleinen Mädchen waren entzückt.

Der alte Bildhauer Emanuel Max, Gabriels Onkel, feierte so etwas wie das Jubiläum seiner fünfzigjährigen Künstlerschaft; es hatte irgendeinen Haken, mit der Künstlerschaft sowohl wie mit dem Jubiläum; er hatte nicht ganz rechtmäßig vom Ruhme seines größern Bruders Joseph gelebt, der eigentlich das schöne Radetzkydenkmal geschaffen hatte und früh verstorben war, und er hatte sein Jubiläum (wie er mir am Tage vor dem Fest mit Tränen in den Augen eingestand)[264] etwas zu früh angesetzt, um es gewißlich zu erleben. Na, über die Datumsfälschung lachte ich, und von seinen Verhältnissen zu Joseph Max wußte ich damals noch nichts. Ich schrieb zu seinem Ehrenabend ein Preislied auf die edle Bildhauerei; es war sehr lang, wurde aber trotzdem bis ans Ende freundlich angehört.

Durch Max machte ich die Bekanntschaft mit dem neuen Direktor der Prager Kunstakademie, einem begabten Belgier; man hatte einen Ausländer verschrieben, weil man einen Deutschen nicht ernennen wollte und einen Tschechen damals noch nicht zu ernennen wagte. In dem Hause des Belgiers erfuhr ich zu meiner Überraschung, wie viele Männer beider Nationalitäten es in dem alten Prag gab, die sich leidenschaftlich für bildende Kunst, für Theater und Musik interessierten. Es war fast ein Salon großen Stils. Es wimmelte nur so von Aristokraten der Kirche (natürlich der katholischen), der Geburt und des Geldes; ich hatte keine Ahnung davon gehabt, daß eine solche Gesellschaft in Prag möglich wäre.

In besonders guter und drolliger Erinnerung ist mir der alte Fürst Camille Rohan, der Freund des Kaisers Wilhelm, der mich nach der Aufführung meines Einakters in seinem wunderlichen Deutsch-Französisch mehrfach seines ganz besonderen Wohlwollens versicherte, mir Großes voraussagte und mir eigentümliche Ratschläge gab. Ein Musiker oder ein Börsenspieler dürfe witzig sein, ein König und ein Schriftsteller dürfe niemals witzig sein; ich sollte mich wie vor der Pestilenz davor hüten, so schändliche Menschen wie Voltaire oder Heine nachzuahmen. Ich sollte damit zufrieden sein, in Prag das Schlechte zu bekämpfen und das Gute zu beschützen (und er nannte den Namen[265] einer ganz elenden kleinen Schauspielerin, den er liebevoll mit französischem Akzent aussprach); auch ihm wäre es nicht an der Wiege là-bas vorgesungen worden, daß er seine beste Zeit in Böhmen verbringen würde. Alle diese Dialoge fanden im Theaterfoyer statt; das greise Männchen in der geckenhaft modernen Kleidung war in solchen Augenblicken der Ergriffenheit gar nicht mehr drollig. Seltsam. Dieser Grandseigneur, dieses Fossil aus dem Ancien régime, stand mir doch ferner als irgendwer, dem ich je im Leben begegnet bin, ferner als irgendein regierender Fürst, und doch war er der erste Mensch, dem ich von meinen Zielen erzählte, von seiner Herzensgüte verführt oder nur von seiner Höflichkeit getäuscht; er war auch der erste, dem ich mitteilte, ich wollte nach Berlin. Er erzählte darauf, als ob es die natürlichste Sache von der Welt wäre, wie er, dank seinen Beziehungen zu seinem Freunde Wilhelm, talentvolle junge Personen an das Kgl. Schauspielhaus und an die Kgl. Oper gebracht hätte; sie wären nicht immer dankbar gewesen. Schmerzlich bewegt blickte er lange die hellen Gamaschen über seinen Lackschuhen an und sagte dann plötzlich: »Dank ist ein dummes Wort. Kann ich Ihnen dort irgendwie utile sein?« Ich mag mein Nein vielleicht zu übermütig begründet haben; er nickte traurig mit dem alten Köpfchen und erwiderte nur etwa: das wäre die neue Zeit; ein Fürst Rohan könnte einem jungen Prager Dichter nicht mehr utile sein. Er empfahl mir noch das erste Hotel von Berlin und das feinste Restaurant.

Da ich zwar von diesen Empfehlungen keinen Gebrauch zu machen gedachte, aber doch nicht ohne einige Groschen in der fremden Stadt ankommen wollte,[266] machte ich mich stark, vor meiner Abreise den versprochenen Bericht über die Prager Kunstausstellung noch anzufertigen. Im Juni war ich vierzehn Tage lang von früh bis spät in der Ausstellung und machte mir Notizen in den Katalog. Dann aber kam plötzlich und unwiderstehlich die Ungeduld über mich, und eines Tages reiste ich ab. In einer Tasche Kleider und Wäsche, in einer großen Kiste meine Bücher. Ohne viel Abschiednehmen. Ich würde ja doch bald wiederkommen.

Ich fuhr zunächst nach Dresden, wo ich einige Tage lang in der Galerie schwelgte. Und mit allzu kurzem Gedärm für meinen Kunstbericht studierte. Dann ging's noch einmal bis Schandau zurück, nach der sächsischen Schweiz. Dort setzte ich mich wieder vierzehn Tage hin und schrieb mit Hilfe meiner Notizen aus dem Gedächtnisse etwa ein Dutzend Aufsätze über die Prager Ausstellung. Gott mag wissen, was dabei herausgekommen ist. Ich hatte wenigstens die Gewissenhaftigkeit, mich als einen Laien einzuführen.

Als pünktlich nach der Ablieferung des letzten Aufsatzes das erstaunliche Honorar eingetroffen war, fühlte ich mich so reich, daß ich sogar ein Billett zweiter Klasse bis Berlin nahm. Mit einigem Grausen vor der öden Sandwüste, über die ich oft witzeln gehört hatte. Ich denke jetzt anders von den Reizen der märkischen Landschaft und glaube auch für das Meer nicht taub und nicht blind zu sein; aber eigentlich fehlt mir noch heute etwas in jeder Landschaft, wenn die Berge fehlen und die Tannen. Die Berge meiner Kindheit. Und ich bin dann imstande, Verse aus der gefälschten Königinhofer Handschrift sehnsüchtig zu zitieren. Und nenne mich einen sentimentalen Esel; und meine es nicht so gar schlimm.[267]

Ich muß nach meiner Rechnung Anfang August 1876 in Berlin eingetroffen sein, auf dem damaligen Dresdner Bahnhof. Den Tag vermöchte ich nicht anzugeben. Man sieht, wie leichtfertig ich so wichtigen Umständen gegenüber bin. Aber ein emsiger Forscher könnte dennoch den Tag und sogar die Stunde bestimmen; ich weiß noch, daß ein Wolkenbruch niederging, gerade als unser Zug einfuhr. Die wenigen Droschken waren rasch besetzt, ich mußte lange warten und dann lange umherirren, bevor ich ein bescheidenes Unterkommen fand. In einer Ausspannung fern im Norden der Stadt. Ich hatte mir den Namen des Künstler-Gasthofs, der mir empfohlen worden war, nicht genau gemerkt; die Ausspannung hieß ungefähr ebenso und war dem Kutscher, der in der Nähe wohnte, vertrauter; auch um ihres Weißbiers willen. So hätte ich gleich damit beginnen können, Berliner Volksstudien zu machen. Da haperte es aber bei mir; mir grauste vor dem dünnen Bier in den weiten, dickwandigen Glastöpfen.[268]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 261-269.
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