V. Das Piaristen-Gymnasium.

[37] Ich war also beinahe zwölf Jahre alt, trotz meiner ursprünglichen Wunderkindschaft, da ich endlich als reif für die »Parva« des Gymnasiums entlassen wurde. Ich war also beinahe zwölf Jahre alt, fleißig und ehrgeizig wie einer, nach meiner geistigen Entwicklung für die Arbeit des Obergymnasiums vorbereitet, als ich endlich in die unterste Klasse des Untergymnasiums aufgenommen wurde. Und doch freute ich mich, als ich zum ersten Male als »Student« den Weg zum Gymnasium gehen durfte (in Österreich nennt man alle Gymnasiasten Studenten, wie man jeden Mann aus dem Volke adelt); ein Abzeichen für Gymnasiasten oder gar für jede einzelne Klasse gab es bei uns nicht, meine gute Mutter hatte es aber erlangt, wer weiß wie schwer, daß ich als Symbol meiner neuen Würde eine schwarze Samtmütze bekam. Die Mütze hatte den Stürmen dreier Jahre widerstanden und war wirklich nicht mehr ganz reinlich, als sie bei Gelegenheit einer Knabenschlacht zwischen »Gymnasiasten« und »Realisten« ein unrühmliches Ende fand. Wieder war es die Mutter, die durch heimlichen Ankauf einer neuen Mütze ein drohendes Unheil von mir abwandte. Mein Vater hätte niemals verstanden, daß ein Gymnasiast die Realschüler befehden müßte und in der Hitze des Gefechts seine Mütze einbüßen könnte.[37]

Als ich mit dem Bewußtsein, von unserm Dienstmädchen Student genannt zu werden, zum ersten Male den Weg zum Gymnasium einschlug, ahnte ich unklar, daß noch nicht die rechte Höhe erreichte, was in meinem Kopfe an kleinen Kenntnissen beisammen war: der ganze Wust von Jahreszahlen großer Schlachten, von Namen der Könige, der Berge und der Flüsse, von Paradigmen und von Gedichten. Wie ein Rausch kam es über mich, daß ich jetzt Lateinisch und Griechisch lernen und alle Wahrheit und Schönheit aus den alten Quellen schöpfen würde. Ein einsichtsvoller Privatlehrer hätte mich damals gewiß binnen zwei Jahren dazu bringen können, Lateinisch zu verstehen, es besser zu verstehen als die Lehrer an meinem Gymnasium; und in der gleichen Zeit die griechische Sprache zu erlernen, wäre mir einfach wie eine Belohnung erschienen. Ich hungerte förmlich nach den alten Sprachen. Die ersten lateinischen Schulbücher nahm ich mit heiliger Andacht in die Hand und empfand es als eine Schande und als eine Entweihung so köstlicher Schriften, daß ich sie um den halben Preis beim Antiquar kaufen mußte.

In dieser Stimmung setzte ich mich in eine Klasse von etwa fünfundsechzig Knaben, die mir ganz und gar nicht andächtig zu sein schienen; so wenig aber ich selbst mir anmerken ließ, welche Sehnsucht nach Wahrheit und Schönheit mich erfüllte, so wenig wird mancher andere Kamerad sein Herz auf der Hand getragen haben; vielleicht hatte ich viele Genossen in meiner Inbrunst und dann in meiner Enttäuschung. Die bessern Elemente waren wie immer in der Minderzahl; etwa vierzig von den Schülern gehörten nicht auf eine Gelehrtenschule, auch nicht in deren unterste[38] Klasse. Wie immer entschieden die schlechtern Elemente über den Fortgang der Studien; wir brauchten beinahe ein halbes Jahr, bevor wir mensa deklinieren konnten. Ich schreibe nicht einen Roman, in welchem die Leiden eines deutschen Kindes an sich erzählt werden sollen; ich schreibe meine Schulerinnerungen nieder, wenn auch mit einer erziehlichen Absicht für Eltern und Lehrer. Ich gebe meine eigenen Erinnerungen und muß darum auf einige Besonderheiten meines ersten Gymnasiums aufmerksam machen. Und auf einige Einrichtungen des österreichischen Gymnasiums überhaupt. Ich muß immer wieder hervorheben, daß ich das Unglück hatte, auf eine ganz besonders elende Schule zu geraten; man würde eine Anstalt wie das damalige Prager Piaristengymnasium in ganz Deutschland vergebens suchen, hoffentlich auch vergebens im heutigen Österreich.

Ich trat in die Prima oder Parva ein. Man zählt in Österreich bekanntlich die Gymnasialklassen nicht von sechs bis eins, sondern von eins bis acht. Der Knabe betritt das Gymnasium als Primaner oder Parvist und verläßt es als Oktavaner. Die alten scholastischen Bezeichnungen für jede der acht Klassen fingen zu meiner Zeit an, in Vergessenheit zu geraten. Und wie schon der kleine Parvist Student genannt wurde, so hieß jeder Lehrer, auch wenn er nur zur Probe oder zur Aushilfe angenommen war, Herr Professor. Auch meine Lehrer hießen Professoren, trotzdem sie eigentlich hochwürdige geistliche Herren waren. Denn mein erstes Gymnasium war eine Anstalt der Piaristen. Es ist mir lieb, daß dieses Neustädter Gymnasium von Prag seitdem in eine ordentliche Staatsanstalt umgewandelt worden ist; so darf ich zugeben, daß nicht mehr für die gegenwärtigen Verhältnisse gilt, was ich zu erzählen habe.[39]

Die Stätte ist die alte geblieben: die Ecke des Grabens und der Herrengasse, die vornehmste Stelle der vornehmsten Straße Prags. Dort steht noch heute die Piaristenkirche, ein geschmackloser Bau. Nach der Herrengasse zu ging das Kloster und eine niedere Klosterschule, nach dem Graben zu das Klostergymnasium, auch dieses ein klosterähnlicher Bau, von welchem lange gewölbte Gänge zu den Wohnungen der geistlichen Herren führten. Wir mußten oft den Weg machen, an Kruzifixen und Heiligenbildern vorbei, die breite Treppe hinauf, in die sogenannten Zellen der hochwürdigen Herren Professoren; das waren plump möblierte Junggesellenzimmer, in denen es merkwürdig viel Schlummerrollen und andere Handarbeiten gab, von den Müttern der Schüler gestiftet. Die geistlichen Herren ließen uns Hefte und Bücher aus ihren Zellen holen und wieder dahin zurücktragen; es galt für eine Auszeichnung, diese kleinen Ministrantendienste zu verrichten. Die wirklichen Ministranten, die fromm bei der Messe zu schaffen hatten, wurden als künftige Theologen betrachtet und waren wochentags häufig die Laufjungen der Professoren. Es waren Galgenstricke unter ihnen und diese waren es, die das Geschäft der »Aufklärung« in der Klasse besorgten. Von ihnen hörten wir, daß die Ordensleute bei ihren Mahlzeiten und auch sonst ein üppiges Leben führten; von ihnen hörten wir, was an unanständigen Anekdoten über die Piaristen im Umlauf war. Das schadete uns nicht viel; es gibt auf jeder Knabenschule solche Freunde der geschlechtlichen Aufklärung. Aber wir erfuhren gerade von diesen Ministranten auch – und es wurde uns bald von Schülern der höheren Klassen bestätigt –, daß unser Gymnasium allgemein für das weitaus schlechteste der[40] drei Prager Gymnasien galt. Ich konnte es zuerst gar nicht fassen, daß es ein Gymnasium geben könnte, dessen Lehrer uns die ganze Wahrheit und Schönheit nicht darreichen konnten oder wollten. Und als mir mit der Zeit klar wurde, daß das Urteil der öffentlichen Meinung recht hatte, da half das auch nicht. Was blieb mir übrig? Das Gymnasium der Altstadt, das in der Nähe unserer Wohnung lag, war vollkommen tschechisch geworden, und das Gymnasium der Kleinseite, jenseits der alten Nepomukbrücke am Fuße des Laurenziberges, war für einen Parvisten zu weit entfernt. Mit diesem Grunde wurde ich abgespeist, wenn ich über unsere Lehrer klagte. So schlug ich denn jeden Morgen den Riemen um meine Bücher, wanderte durch eine Reihe dunkler, schmutziger Durchhäuser täglich nach dem Piaristengymnasium und ließ mir bei der Heimkunft von den lachenden Dienstmädchen entgegenrufen: »Piaristen, schlechte Christen!«

Ich habe in diesem Klostergymnasium fünf Jahre verloren. Vom Herbst 1861 bis zum Ausbruch des Krieges von 1866 habe ich dort die Bänke gedrückt und für die Schule nichts, aber auch gar nichts gearbeitet, weil die Lehrer nichts von mir verlangten. Noch einmal: ich möchte meine Erfahrungen an dieser Anstalt nicht generalisiert wissen, möchte selbst nicht generalisieren.

Auch wäre es ein Irrtum, die Schuld ausschließlich und ohne weiteres auf den geistlichen Charakter der Anstalt zu schieben. Die Lehrer waren geistliche Herren, aber der Unterricht war schon ziemlich verweltlicht. Von den fünfundsechzig Schülern der Parva waren beinahe die Hälfte Juden, und an einigen Protestanten fehlte es auch nicht. So gab es keine Glaubenseinheit, und wenn die Herren Piaristen mitunter über Luther[41] und über die Juden ihre Witze rissen, so taten sie das zu ihrem Vergnügen und nicht aus Glaubenseifer. Ich weiß von österreichischen Gymnasien aus jener Zeit, in denen wirklich ein streng katholischer Geist herrschte und die dennoch Musteranstalten waren.

Wir wurden nicht mit allzuviel Frömmigkeit geplagt. Der Unterricht wurde freilich an jedem Tage durch ein Gebet eröffnet und durch ein Gebet geschlossen; aber nur der Katechet, wenn er zufällig die erste Stunde zu geben hatte, machte die Sache mit einiger Würde ab. Die anderen Lehrer hatten ungefähr die gleiche Gewohnheit angenommen: sie schlugen in dem Augenblick, da sie das Katheder betraten, eilfertig oder zerstreut ein Kreuz und gaben damit den Schülern ein Signal, das lateinische Gebet zur Mutter Gottes herunter zu plärren. Wir erlangten darin eine gewisse Virtuosität; vor den erwünschteren Stunden beteten wir viel rascher als vor den unangenehmen, aber meistens taktmäßig und langsam. Inzwischen nahm der geistliche Lehrer seine erste Prise – sie schnupften alle –, wischte sich die Finger an der neuen oder alten Kutte ab, schneuzte sich und überblickte die Klasse bissig oder gelangweilt, wie ein böser Hund oder wie eine alte müde Katze. Viele Protestanten und Juden sprachen die Gebete mit. Es gehörte zum Ganzen wie die Frühstückssemmel, die auch ohne Unterschied der Konfession beim Schuldiener gekauft wurde. Als wir später auf dem weltlichen Gymnasium der Kleinseite einen kirchenfeindlichen Lehrer hatten, der das Gebet mit gutgespielter Zerstreutheit zu vergessen liebte, da wurde er häufig von ordentlichen Schülern an seine Pflicht gemahnt; vielleicht waren sie fromm, vielleicht wollten sie auch nur die gefürchtete Stunde um einige Minuten kürzen. Gerade[42] dort auf dem weltlichen Gymnasium nahmen viele die Religion ernster und innerlicher; aus Knaben waren Jünglinge geworden.

Bei den Piaristen sorgte schon die Körperlichkeit der Lehrer dafür, das Göttliche zum Spott werden zu lassen. Einen einzigen, sinnigen und kränklichen, magern und kleinen Mann ausgenommen, waren sie alle so beschaffen, daß die Schülerkarikaturen nicht viel an ihrem Umriß zu verändern brauchten. Es war einer unserer Schülerwitze: der faule Bauch der Piaristen fange bei der Stirn an. Namentlich die drei Hauptlehrer des Untergymnasiums waren Kolosse, hätten Modelle für Grützner werden können. Der eine hatte ein rohes, erschreckend gemeines Knechtsgesicht, der zweite feine, aber lüsterne Pfaffenzüge, der dritte sah so apathisch aus, als hätte er anstatt sechzig Schülern sechzig Pflastersteine vor sich, die er in die Erde rammen müßte. Aber dick waren sie alle drei, fabelhaft dick, dick von Müßiggang und Kreuzherrnbier. Der mit dem gemeinen Knechtsgesicht, ein jähzorniger und böser Mensch, warf im Laufe der Jahre zweimal den Kathedertisch mit der eigenen Körperfülle um, als er aufsprang, um einen von uns beim Schopf zu packen.

Nein, die Religion spielte auf dem Piaristengymnasium keine große Rolle. Und die heiligste Pflicht eines Lehrers, die religiöse oder moralische Pflicht der Gerechtigkeit, wurde nicht erfüllt. Ich ahnte damals noch nicht, daß die Korruption fast auf allen Schulen zu Hause ist, daß der ärmere Schüler bei der Gebrechlichkeit des Weltlaufs immer im Nachteil ist gegen den Schüler, dessen Eltern bestechen können und wollen.

Ein förmliches Institut der Bestechlichkeit war es, das meine Entrüstung über meine geistlichen Lehrer[43] weckte, noch bevor ich ihre geistige Unfähigkeit begreifen konnte.

Zwar daß die Ministranten bevorzugt wurden und noch weniger Latein zu lernen brauchten als wir, schien mir weniger bedenklich; es waren Kinder unbemittelter Eltern und hatten sich das Wohlwollen des Ordinarius immerhin durch eigene Arbeit erkauft. Nur die Rigoristen unter uns nahmen auch das übel. Aber die ganz schamlose Einrichtung der Bestechung, von der ich berichten will, war doch wohl eine dem Klostergymnasium eigentümliche Erscheinung.

Es war den Geistlichen verboten, Privatunterricht zu erteilen. Dafür entschädigte sich unser Klassenlehrer – von andern Lehrern des Gymnasiums kann ich das nicht mit Bestimmtheit bezeugen – durch die schlichte und sinnreiche Begründung eines Privatissimums, das immerhin ein paar hundert Gulden im Jahre abwarf. Zweimal wöchentlich blieben die kleinen Schüler, deren Eltern die Ausgabe erschwingen konnten, nach der Schule im Klassenzimmer beisammen und der gute Ordinarius diktierte ihnen die Hausarbeiten in die Feder, die er vorher selbst aufgegeben hatte. Christliche Barmherzigkeit war auch dabei; denn die Freischüler, deren Väter keinen Kreuzer aufbringen und darüber ein schönes Armutszeugnis vorzeigen konnten, durften an dieser Privatstunde gratis teilnehmen; aber das Fernbleiben zahlungsfähiger Schüler wurde mit Recht als Hochmut und Gemeinheit ausgelegt. Ich war meines Erinnerns der einzige in der Klasse, der an diesen Nachhilfestunden nicht teilnahm; aus Rechtsgefühl und aus Trotz, wie ich wohl sagen darf. Auch war ich zu stolz, meiner Mutter zu sagen, daß sie den Vater um die zwei Gulden für jedes Semester bitten sollte.[44]

Gerade weil ich das Fernbleiben von dieser Lumperei eigentlich fast freiwillig auf mich nahm, empfand ich doppelt mit den Schülern, die amtlich ein Armutszeugnis vorgelegt hatten, und die ihre Armut überaus häufig mit Sticheleien und anderen Schändlichkeiten zu büßen hatten. Mein Zorn gegen die Schulkorruption, von diesen »Privatstunden« entfacht, hat vorgehalten; und heute noch predige ich bei jeder Gelegenheit das Ideal, die Gerechtigkeit, das unzulänglich gesicherte Fundament des Staates, wenigstens in der Schule gelten zu lassen. Ich habe meinen alten Zorn gegen die Schulkorruption neben manchen andern rebellischen Gedanken (»mehr Sachen als Worte«) leidenschaftlich genug dargestellt in meinem »Wörterbuch der Philosophie« (Artikel »Schule« II. S. 388ff.); ich möchte einen guten Leser gern auf dieses Kapitel verweisen.

Ich weiß jetzt, daß auch Lehrer Menschen sind, daß auch anderswo, auf Volksschulen und auf Universitäten, Gefälligkeiten des Vaters oder der Mutter, Geschenke in Naturalien oder in Geld, auch leiseste Winke eines einflußreichen Vaters, das Fortkommen eines Schülers begünstigen. Ich weiß jetzt, daß die Korruption so allgemein ist wie Gestank in den Städten, und gerate nicht mehr über jedes »Schmieren« in knabenhafte Aufregung. Aber eine so schamlos öffentliche Bestechung wie die, die ich eben geschildert habe, ist doch erzählenswert. Die meisten von uns fanden gar nichts an dieser Privatstunde; geschmiert wurde doch und die zwei Gulden waren ja nicht der Rede wert. Auch von dem krassesten Falle einer individuellen Korruption wurde unter den Mitschülern mit mehr Heiterkeit als Zorn gesprochen. Der Sohn eines reichen und sehr einflußreichen Mannes war von einer Unfähigkeit, die an Kretinismus grenzte,[45] und dazu von einer wahrhaft göttlichen Faulheit; er wußte niemals eine Antwort zu geben und verstand es nicht einmal, bei den Klausurarbeiten vom Banknachbar abzuschreiben. Er war so dumm, daß wir ihm nicht einmal mehr einsagten, wenn er gefragt wurde. Und dieses Roß Gottes fiel niemals durch, ging von Klasse zu Klasse mit, machte übrigens später pünktlich sein Abiturientenexamen und seinen Doktor. Er ist ein ganz angenehmer Mensch geworden und fällt unter seinen studierten Berufsgenossen nicht sonderlich auf.

Bevor ich aus möglichst treuem Gedächtnis ein Urteil über die wissenschaftliche Befähigung unserer Lehrer abzugeben suche, will ich noch eines Umstandes erwähnen, der für den Geist der Schule von Bedeutung war. Mehrere der Geistlichen, die am Untergymnasium unterrichteten, waren nach ihrer politischen und nationalen Gesinnung Tschechen. Nun war unser Piaristengymnasium offiziell eine deutsche Schule. In den beiden untersten Klassen gab es (vielleicht irre ich in der Bezeichnung) tschechische Parallelklassen, in denen die tschechischen Kinder ein wenig an die deutsche Unterrichtssprache gewöhnt wurden. Später saßen Deutsche und Tschechen in derselben Klasse beisammen, ungefähr in gleicher Stärke. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß unter solchen Umständen auch bei besseren Lehrern die sprachliche Langsamkeit der einen Hälfte ein Hemmschuh für den gesamten Unterricht geworden wäre. Von den nationalen Kämpfen Böhmens, die damals schon sehr lebhaft waren und bereits auf die österreichische Politik Einfluß nehmen mochten, wußten wir in unserm jugendlichen Alter noch nicht viel, die deutschen Knaben jedenfalls viel weniger als die tschechischen. Wir lernten voneinander in den Pausen die »zweite[46] Landessprache«, in welcher wir uns ja nach dem Schulregulativ mündlich und schriftlich sollten ausdrücken können wie in der Muttersprache. Ich gewann einen tschechischen Freund, welcher seitdem von sich reden gemacht hat, der mich zu seiner nationalen Gesinnung bekehren wollte; es kam aber nichts dabei heraus, als daß er mir seine tschechischen Gedichte brachte, die ich verdeutschte, wofür er dankbar meine ersten Verse ins Tschechische übersetzte. Wir bewunderten einander umschichtig.

Die tschechische Gesinnung der Lehrer, die sich von Jahr zu Jahr offener und gehässiger äußern durfte, hatte nun wieder üble Folgen für die Behandlung der Schüler. Daß freilich die Lokalgeschichte Böhmens mit besonderer Vorliebe getrieben wurde, war ja wohl ganz in der Ordnung; die romantische Geschichte Böhmens hatte ja nicht nur die heimischen Dichter Ebert und Meißner, nicht nur den großen Österreicher Grillparzer, sondern sogar den Rheinländer Brentano zu Dichtungen begeistert; wir bemerkten es kaum, daß unser Geschichtsprofessor die Geschichte Böhmens wie eine rein slawische Geschichte darstellte und von dem mächtigen Einfluß deutscher Kunst und deutscher Kultur überhaupt wenig zu erzählen wußte. Es kommt auch anderwo vor, daß die Weltgeschichte durch eine farbige Brille gezeigt wird; auch in Preußen. Schlimmer war es schon, daß diese geistlichen Herren für alle nationalen Unternehmungen der Anhänger von Johannes Hus die wärmsten Gefühle äußerten und zu wecken suchten; am schlimmsten aber, daß die Knaben aus den rein deutsch gebliebenen Zipfeln Böhmens für ihre Unkenntnis der tschechischen Sprache bei jeder Gelegenheit gehänselt und zurückgesetzt wurden. Eine theatralische Begeisterung[47] für die Hussitenkriege in einem katholischen Klostergymnasium, da stimmte etwas nicht. Für manchen Schüler etwa aus der Gegend von Eger, wo wieder ein unklarer Wallensteinkultus zu Hause war, hatte der Unterricht in der Religion und in der tschechischen Sprache eine gewisse Ähnlichkeit; sie lernten in beiden »Gegenständen« dogmatische Sätze auswendig, bekamen für beide Leistungen gute »Klassen« (Zensuren), verstanden aber kein Wort von der Sache. Ich werde auf meine persönliche Lehrzeit in der Religion wie in der tschechischen Sprache noch zurückkommen.

Über die Hauptsache, über die wissenschaftliche Befähigung meiner geistlichen Lehrer glaubhaft zu berichten, wird mir schwer fallen; der Gegensatz ihrer Vorbildung zu der der vielverspotteten und doch gründlich geschulten deutschen Oberlehrer war unwahrscheinlich stark. Von dem erwähnten obersten Leiter des österreichischen Schulwesens, der übrigens einige Jahre vor mir das Kleinseitner Gymnasium besucht hatte, wurde mir später einmal gesagt: die Umwandlung des Klostergymnasiums in ein Staatsgymnasium wäre im Unterrichtsministerium damals schon eine beschlossene Sache gewesen, und darum hätte der Piaristenorden diese Anstalt so arg verkommen lassen; der Herr fügte allerdings zögernd hinzu, die schlechten Qualitäten der Lehrer und die skandalösen Leistungen der Anstalt hätten das Ministerium dann plötzlich zu seinem Beschlusse bestimmt. Mein Urteil über meine Lehrer, die uns doch den Glanz der antiken Welt hätten erschließen sollen, versuchte er nicht einmal zu mildern.[48]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 37-49.
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