[Vorwort]

[191] Diese Schrift, die mein nun verewigter Freund mir ebenso, wie seine Morgenstunden, zur Herausgabe anvertraute; – kann ich sie der Welt übergeben, ohne ihr wenigstens ein Wort von der Grösse meines Verlustes und der Kränkung meines Herzens zu sagen?

Wieviel die Gelehrsamkeit, die Weltweisheit, die deutsche Literatur an einem Mendelssohn verloren haben, das wissen alle, denen diese Gegenstände wichtig sind; aber wie wenig reicht das hin, den unersetzlichen Verlust zu ermessen, den seine Freunde erlitten! Was von dem Manne öffentlich vor der Welt geglänzt hat, war der kleinste Teil seines Wertes, nicht einmal seinen Geist kann man aus seinen Werken,[191] so voll mannigfaltiger Kenntnisse, so geschmackvoll und so scharfsinnig sie sind, nach Würden schätzen; und wieviel minder noch seine sittliche Güte, seinen Diensteifer, seine Bescheidenheit, alle die grossen und liebenswürdigen Tugenden seines Charakters! – Ich gestehe frei, dass an dem Orte, wo ich lebe, mich kein Schlag empfindlicher hätte treffen, kein Unfall mich tiefer hätte verwunden können, als der Tod dieses Edlen. –

Den nächsten Anlass zu diesem hier so gerecht und so allgemein bedauerten Tode gab eben das, was den Anlass zu dieser Schrift gab. – Wenn Denken überhaupt der Maschine nicht zuträglich ist, so musste das tiefe angestrengte Denken eines Mendelssohn seiner so schwachen, so unglücklich gebauten Maschine notwendig verderblich werden. Dennoch hatte der vortreffliche Mann ohne merkliche Schwächung seiner Gesundheit fortgearbeitet, solange seine Arbeit nur noch Spekulation war: erst, da die Lavaterische Aufforderung auch sein Herz in Bewegung setzte, empfand er plötzlich die fürchterlichsten Folgen von seiner Lebensart; und ohne die Stärke der Seele, womit dieser wahre praktische Weise allem sinnlichen und allem geistigen Genuss auf ganze Jahre entsagte, würde er schon damals der Welt und seinen Freunden sein entrissen worden. Dem sinnlichen Genuss entzog er sich standhaft bis an sein Ende; es war unbegreiflich, wie die Nahrung, auf die er sich einschränkte, einen menschlichen Körper erhalten konnte, und es war rührend, ihn seine Freunde mit der heitersten Miene zu Speisen und Getränken einladen zu sehen, wovon er selbst, bei aller Lüsternheit, nicht zu kosten wagte.[192] Nur den geistigen Genuss der Lektüre und den noch reizenderen der eigenen Arbeit konnte der Mann, der so ganz Geist war, in die Länge nicht mehr entbehren. Kleinere Aufsätze, die er in seinen beste Stunden ohne Schaden gewagt hatte, lockten ihn nach und nach weiter; er fing an, seine ehemaligen Lieblingsideen wieder hervorzusuchen: und hätte man ihn seinen Gang gehen lassen, hätte man ihn nicht abermals aus der Sphäre der ruhigen Spekulation herausgerissen; so wurde er wahrscheinlich, trotz diesen Beschäftigungen, sein Leben noch auf Jahre erhalten haben. –

Die Ausarbeitung des ersten Teils seiner Morgenstunden hatte ihn angegriffen; er dankte mir so innig, da ich mich zur Besorgung des Drucks gegen ihn erbot, und er war entschlossen, sich ganze Monate lang bloss seinen gewöhnlichen Geschäften zu widmen, bis er erst wieder volle Kräfte zur Ausarbeitung des zweiten Teils fühlte. Auf einmal erschien die bekannte Schrift des Herrn Jacobi, die ihn ein wenig zu nahe anging, um sie ungelesen zu lassen. Anfänglich wollte er die Existenz dieser Schrift, und als diese bald ausser Zweifel gesetzt war, wenigstens einen solchen Inhalt derselben durchaus nicht glauben. Dass Herr Jacobi gegen ihn selbst, gegen seine unbescholtene Ehre das Misstrauen hegte, als ob er, seinem ausdrücklichen Versprechen zuwider, des zwischen ihnen vorgefallenen Briefwechsels erwähnen und ihn hämischerweise in den so gehässigen Verdacht des Atheismus bringen würde; das kränkte ihn zwar allerdings, doch verzieh er's: und da sein Buch den Ungrund dieses Misstrauens durch das überall darin beobachtete tiefe Stillschweigen von jenem Briefwechsel so unleugbar[193] bewies; so würde dies allein seinen Entschluss, sich auszuruhen, nicht geändert haben. Aber, dass Lessing, dieser ihm so teure, so unvergessliche Mann, dieser Freund seiner Jugend, dem er einen grossen Teil seiner Bildung, dem er ursprünglich alle seine Kenntnis der alten und neuen Literatur zu verdanken hatte, und durch den er zuerst, gleichsam wider seinen Willen, zum Schriftsteller geworden; dass dieser nicht bloss als Atheist, sondern als Spötter, als Heuchler vor der Welt erscheinen und er, Mendelssohn, leben und es zugeben sollte; das war ihm durchaus unerträglich. Sein Entschluss, sich zu erholen, war in dem Augenblicke dahin; er überwand seinen Abscheu gegen Streitigkeiten; er wollte sogleich den ersten Eindruck vertilgen, den die Jacobische Schrift gemacht haben konnte, und so opferte er, in der Ausarbeitung der nachfolgenden Bogen, den letzten Rest seiner Kräfte Gott und der Freundschaft. Die ungewöhnliche Lebhaftigkeit, womit er mir und mehreren anderen von dieser Sache sprach, und so ausführlich, selbst in den späteren Abendstunden sprach, in denen er sonst bloss zuzuhören, oder von den gleichgültigsten Dingen zu reden pflegte; diese Lebhaftigkeit zeigte nur allzudeutlich, wie sehr sein Kopf und sein Herz in Bewegung waren. Zugleich war ihm nun der Plan zu dem zweiten Teile seiner Morgenstanden, dem er den obenerwähnten Briefwechsel einflechten wollte, zerrissen; er konnte die Ausarbeitung nicht mehr so ruhig, wie bisher, verschieben und strengte sich an, einen ganz neuen Entwurf, in Ansehung der Folge der Materien und der Art ihrer Entwickelung, zu machen. Bei der Wallung, die diese zu anhaltende und zu interessante Beschäftigung in seinem Blute hervorgebracht hatte,[194] und bei der ohnehin schon so grossen Schwäche seines Nervensystems, bedurfte es nur des mindesten äusseren Zufalls; und der vortreffliche Mann war verloren.

Die Geschichte seiner letzten Krankheit und seines Todes werden meine Leser lieber aus dem Munde des Arztes hören, der ihm in seinen letzten Augenblicken beistand. Herr Hofrath Herz, der nicht bloss, wie wir übrigen, einen Mitforscher der Wahrheit und einen höchst liebenswürdigen Freund, der auch eine Zierde und Stütze seiner Nation an ihm einbüsste, konnte vor inniger Wehmut die Erzählung, die er mir mündlich machen wollte, nicht vollenden und verliess mich, um sie mir aufzuschreiben. Es geschieht mit seinem Vorwissen, dass ich diesen Aufsatz öffentlich mitteile, der nicht bloss unserem verewigten Mendelssohn, der auch ihm, dem Verfasser, durch die darin herrschende Wärme der Empfindung zu soviel Ehre gereicht.

»Wie gesagt, mein lieber Engel, unser Moses starb, wie er geteilt hatte, sanft und weise. Er ging hinüber, wie zu einem lange vorbereiteten Geschäfte, ganz nach seiner Art, wie er zu guten Handlungen in seinem Leben zu schreiten pflegte, ohne Geräusch oder Aufhebens zu machen; mit einer Leichtigkeit, mit der er von seinem Tische, wo er uns so oft vergnügt essen sah und sich uns dafür hören liess, nach seinem Sofa unter die Büste seines Lessings hinschlich. – Ich werde ihn nie vergessen, diesen beneidenswerten Tod in meinen Armen: und o dass Sie, dass ihr, seine Freunde, nicht alle bei diesem Tode des Gerechten zugegen wäret! –

Ich hatte es erst am Montage zufälligerweise gehört, dass der fromme Mann nicht wohl wäre und[195] das Zimmer hütete. Ich eilte zu ihm und fand ihn stehend an der Kommode mit seinen Handlungsbüchern beschäftigt. Wie geht es, mein lieber Moses? Sie sind krank? – Ich habe mich Sonnabend erkältet, war seine Antwort, als ich meine Schrift im Betreff der Jacobischen Sache zu Vossen brachte; ist es mir lieb, dass ich diese verdriessliche Sache vom Halse habe.« – Er sagte dies letzte mit einem ihm ungewöhnlichen Widerwillen und Missmut, der mir durch die Seele ging. In der Tat schien ihm noch nichts in seinem Leben soviel oder vielmehr überhaupt eigentliche Gemütskränkung verursacht zu haben, als diese Sache seines Lessings. – Sie glauben nicht, fuhr er fort, wie schwach seit einiger Zeit mein Gedächtnis ist; mein Kassenbuch ist voller Unordnung; bald fehlt es hier, bald da, und da muss ich nun stehen und mich anstrengen, um es wieder in die Richte zu bringen. Er klagte ferner über Schwäche, machte aber nicht viel aus seiner Unpässlichkeit; sein Puls war natürlich, der Atem frei; nur der Husten etwas feste, wider welchen er sich eines nichts bedeutenden Hausmittels bediente, und öfters Zucker nahm. Dieser war überhaupt seine Lieblingsnäscherei, so oft man ihm denselben auch widerriet. Der Zucker, pflegte er zu sagen, hat nur den einzigen Fehler, dass man keinen Zucker dazu essen kann. Wir sprachen hierauf von dem Zustande der Medizin, von dem er eine sehr grosse Idee hatte, und von den Geistesfähigkeiten und Nebenwissenschaften, die zum grossen praktischen Ärzte erfordert werden; und so verliess ich ihn, ohne ihm etwas zu verordnen, weil sein Körper schlechterdings keine Arzneien vertragen konnte. –

Dienstags vormittag fand ich ihn, in Pelz gehüllt,[196] auf dem Sofa unter seines Lessings Büste sitzen, gleich dem ersten Blicke nach kränker und schwächer. »Ich bin heute recht herzlich krank, lieber Doktor,« sagte er. »Mein Husten will nicht los; ich kann nicht essen, habe nicht geschlafen und bin sehr entkräftet.« Dennoch unterhielt er mich von den Geistesfähigkeiten seines kleinsten Sohnes, der gerade im Zimmer war, mit völliger Klarheit des Geistes. Sein Puls war etwas schwach und in einiger Bewegung. Ich beredete ihn, von einem sehr gelinden auflösenden kühlenden Tränkchen dann und wann einen Löffel voll zu nehmen.

Des Abends um fünf Uhr lag er auf dem Sofa in einem etwas starken Fieber, wobei sein Atem aber freier und sein Geist heiterer als des Vormittags war. Um 9 Uhr war das Fieber fast gänzlich weg, auch sein Atem freier; nur zeigte er eine kleine Stelle in der Brust, in welcher er Stiche fühlte, setzte aber sogleich hinzu: er empfände, dass es Blähungen wären. Ich verabredete mit Herrn D. Bloch, dass ihm ein Klistier gegeben werden und auf den leidenden Ort warme Umschläge gelegt werden sollten. Auf den Fall, dass die Stiche sich nicht verlören, wurden wir einig, ihm eine Ader zu öffnen. Er war bei ziemlicher Heiterkeit; als wir sagten, es wären zu viele Leute in seinem Zimmer, antwortete er mit einiger Laune: nach Achards Versuchen ist ja diese Luft die gesündeste; und so wünschten wir ihm eine gute Nacht. –

Mittewochs des Morgens um 7 Uhr kam sein Sohn bestürzt zu mir, und bat mich, sogleich zu seinem Vater zu kommen, der sehr unruhig wäre. Ich eilte hin und fand ihn auf seinem Sofa; nicht mehr unter Lessings Büste; denn diese stand ihm gegenüber auf[197] der Kommode. Ich erschrak beim ersten Anblick; seine Augen hatten nicht mehr jenes durchdringende Feuer, sein Gesicht war eingefallen und blass. Er empfing mich, nach seiner freundlichen Weise, mit einem Händedruck. Nehmen sie es nicht übel, lieber Herr Doktor, dass ich Sie so früh beunruhige; ich habe eine elende Nacht gehabt. Die Stiche haben sich gleich nach den Umschlägen verloren, aber ich habe einige Ausleerungen gehabt, die haben mich ganz mitgenommen, ich habe Beängstigung und Unruhe, ich fühle es, dass es mir vom Unterleibe herauftreibt, und in eine Brust ist sehr voll. Sein Puls war fast natürlich, nur etwas schwach, ohne die mindeste Unregelmässigkeit. Ich erklärte ihm, nachdem ich einige Minuten nachgedacht hatte, geradezu meine Verlegenheit. Ich weiss wahrlich nicht, lieber Herr Moses, was man mit Ihnen anfängt, da Sie schlechterdings keine Arzneien vertragen können. Alles macht ihnen Blähungen, alles Beängstigungen; das mindeste wirft Sie über den Haufen. Ich will mich einmal aufsetzen, vielleicht geht es besser, sagte er. Er richtete sich mit ziemlicher Kraft, setzte sich auf den benachbarten Stuhl, stand nach einer halben Minute wieder auf, setzte sich auf das Sofa und sagte: Es ist nun etwas vorüber. Aber sein Ansehen ward immer misslicher, und während, dass ich in das benachbarte offene Zimmer zu seiner Gattin und seinem Schwiegersöhne ging, ihnen seinen Zustand zu verkündigen und zu bitten, dass man mir einen Gehilfen riefe, hörte ich ein Geräusch auf dem Sofa; ich sprang hinzu, und da lag er, ein wenig von dem Sitze herabgesunken, mit dem Kopfe rücklings, etwas Schaum vor dem Munde; und weg war Atem, Pulsschlag und Leben.[198] Wir versuchten Verschiedenes, ihn zu ermuntern, aber vergebens. Da lag er ohne vorhergegangenes Röcheln, ohne Zuckung, ohne Verzerrung, mit seiner gewöhnlichen Freundlichkeit auf den Lippen, als wenn ein Engel ihn von der Erde hinweggeküsst hätte. Sein Tod war der so seltene natürliche, ein Schlagfluss aus Schwäche. Die Lampe verlosch, weil es ihr an Öl gebrach, und nur ein Mann, wie er, von seiner Weisheit, Selbstbeherrschung, Mässigkeit und Seelenruhe, konnte bei seiner Konstitution die Flamme 57 Jahre brennend erhalten. – Teil umfasste gleich im ersten Augenblicke des Schreckens seinen Kopf und blieb so – Gott weiss wie lange? versteinert stehen. Da neben ihm hinzusinken und mit ihm zu entschlafen, das war der heisseste Wunsch, den ich je gehabt und je haben werde.

»Leben Sie wohl! Der Himmel erhalte uns unsere Freunde!« – –

Engel.[199]

Quelle:
Jacobis Spinoza-Büchlein nebst Replik und Duplik. Herausgegeben von Fritz Mauthner, München 1912, S. 191-200.
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