6. Die menschliche Natur. V: Abschließendes

[163] Gung-Du Dsï sprach: »Gau Dsï behauptet, die Natur sei weder gut noch böse. Andere behaupten, die Natur lasse sich gut machen oder böse machen; darum als die guten Könige Wen und Wu herrschten, sei das Volk dem Guten zugetan gewesen, als die schlechten Könige Yü und Li herrschten, sei das Volk zu Gewalttätigkeiten geneigt gewesen. Wieder andere behaupten, es gäbe teils solche, die von Natur gut, und teils solche, die von Natur böse seien. So habe es unter einem Yau als Fürsten Menschen wie Siang gegeben. Umgekehrt habe ein Vater wie Gu Sou einen Schun zum Sohne gehabt. Mit einem Dschou Sin als Neffen und gleichzeitig als Herrscher habe es einen We Dsï Ki und einen Königsohn Bi Gan gegeben. Wenn man nun sagt, die Natur sei gut, so haben jene alle Unrecht.«

Mong Dsï sprach: »Die natürlichen Triebe tragen den Keim zum Guten in sich; das ist damit gemeint, wenn die Natur gut genannt wird. Wenn einer Böses tut, so liegt der Fehler nicht in seiner Veranlagung. Das Gefühl des Mitleids ist allen Menschen eigen, das Gefühl der Scham und Abneigung ist allen Menschen eigen, das Gefühl der Achtung und Ehrerbietung ist allen Menschen eigen, das Gefühl der Billigung und Mißbilligung ist allen Menschen eigen. Das Gefühl des Mitleids führt zur Liebe, das Gefühl der Scham und Abneigung zur Pflicht, das Gefühl der Achtung und Ehrerbietung zur Schicklichkeit, das Gefühl der Billigung und Mißbilligung zur Weisheit. Liebe, Pflicht, Schicklichkeit und Weisheit sind nicht von außen her uns eingetrichtert, sie sind unser ursprünglicher Besitz, die Menschen denken nur nicht daran. Darum heißt es: ›Wer sucht, bekommt sie; wer sie liegen läßt, verliert sie.‹ Daß so große Unterschiede vorhanden sind, daß manche doppelt, fünffach, ja unendlich mehr besitzen als andere, kommt nur davon her, daß diese ihre Anlagen nicht erschöpfend zur Darstellung bringen.

Im Buch der Lieder4 heißt es:


›Gott schuf die Menschen in der Welt,

Und jedes Ding hat sein Gesetz,

Das jeder fest im Herzen trägt,

Der hehren Tugend zugetan.‹
[163]

Meister Kung sprach: ›Der dies Lied gemacht hat, der kannte die Wahrheit. Wo immer eine Fähigkeit im Menschen ist, hat sie ihr festes Gesetz. Und weil den Menschen allen dieses Gesetz ins Herz geschrieben ist, darum lieben sie jene hehre Tugend.‹«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 163-164.
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