5. Über die Innerlichkeit der Pflicht

[162] Mong Gi Dsï2 fragte den Gung-Du Dsï und sprach: »Inwiefern kann man die Pflicht als etwas Innerliches bezeichnen?«

Gung-Du Dsï sprach: »Sie ist ein Ausdruck meines Gefühls der Achtung; darum nenne ich sie etwas Innerliches.«

Jener sprach: »Wenn ein Dorfgenosse um ein Jahr älter ist als mein älterer Bruder, wen achte ich mehr?«

Gung-Du Dsï sagte: »Meinen Bruder.«

Jener fuhr fort: »Wem aber gieße ich beim Festmahl zuerst Wein ein?«

Gung-Du Dsï sprach: »Dem Dorfgenossen.«

Jener sprach: »Auf der einen Seite ist die Achtung, auf der andern Seite das höhere Alter. Demnach wird der Unterschied in der Ehrenbezeigung tatsächlich durch etwas Äußeres bestimmt und richtet sich nicht nach dem inneren Gefühl.«

Gung-Du Dsï konnte darauf nicht antworten und erzählte es dem Mong Dsï.

Mong Dsï sprach: »Auf die Frage: Wen ehrst du mehr, deinen Oheim oder deinen jüngeren Bruder? wird jener antworten: ›Meinen Oheim ehre ich mehr.‹ Wenn du dann fragst: ›Wenn aber dein jüngerer Bruder beim Ahnenopfer den verstorbenen Großvater darstellt3, wen ehrst du dann mehr?‹ dann wird jener antworten: ›Ich ehre meinen jüngeren Bruder mehr.‹ Dann magst du fragen: ›Wo bleibt da die Achtung für den Oheim?‹ Jener wird antworten: ›Es kommt in diesem Falle auf die Stellung an.‹ Dann magst du auch sagen: ›Es kommt in jenem Falle auf die Stellung an. In der Regel ist die größere Achtung auf seiten meines Bruders, ausnahmsweise bezeuge ich vorübergehend dem Dorfgenossen die höhere Achtung.‹«

Mong Gi Dsï hörte es und sprach: »Das eine Mal ehre ich meinen Oheim, weil ihm die Ehre gebührt; das andere Mal ehre ich meinen jüngeren Bruder, weil ihm die Ehre gebührt. Der Grund dafür ist aber doch tatsächlich ein äußerer, er richtet sich nicht nach dem inneren Gefühl.«

Gung-Du Dsï sprach: »Im Winter trinkt man heiße Suppe, im[162] Sommer trinkt man kaltes Wasser; somit wäre auch Essen und Trinken etwas Äußerliches.«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 162-163.
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