Thomas Morus

seinem Petrus Aegidius Gruß!

[19] Fast schäme ich mich, vortrefflicher Peter Aegidibus, daß ich Dir das Büchlein über das utopianische Staatswesen erst beinahe nach einem Jahre schicke, das Du gewiß schon nach einem halben Jahre erwartet hast, da Du ja wußtest, daß ich bei diesem[19] Werke der Erfindung überhoben war, über die Anordnung des Stoffs nicht nachzudenken und einfach nur zu berichten brauchte, was ich mit Dir zusammen von Raphael erzählen gehört hatte. So machte die Diktion mir keine Mühe, denn seine Sprache konnte, da seine Rede eine improvisirte war, nicht durchdacht und gefeilt sein, und dann ist er, wie Du weißt, mehr im Griechischen als im Lateinischen zu Hause. Und je näher meine Darstellung seiner unstudirten schlichten Sprache kam, desto näher kam sie der Wahrheit, der ich hierbei allein obzuliegen habe. Ich gestehe, Freund Peter, daß mir, da Alles so gegeben vorlag, die Arbeit so erleichtert war, daß mir fast nichts aus Eigenem zu thun übrig geblieben ist. Sonst würde Erfindung und Komposition des Ganzen Zeit und Studium eines nicht unbedeutenden und kenntnißreichen Geistes erfordert haben. Wäre verlangt worden, daß die Darstellung nicht nur wahr sondern von rednerischer Kunst sei, so hätte ich sie überhaupt nicht liefern können. Nachdem aber diese Schwierigkeiten von mir genommen waren, die allein ein Ziel des Schweißes gewesen wären, blieb nur die einfache Nacherzählung des Gehörten übrig und das war keine nennenswerthe Aufgabe. Aber selbst zur Ausführung dieser sehr geringen Arbeit ließen mir andere Geschäfte fast keine Zeit übrig. Bald muß ich in gerichtliches Angelegenheiten emsig plädiren, bald solche anhören, bald als Schiedsrichter schlichten, bald als Richter Urtheile fällen, bald einen amtlichen, bald einen privaten Gang machen. Während ich fast den ganzen Tag außer Hause Andern widme, bleibt mir für meine eigenen Angelegenheiten, d.h. für Litteratur und Wissenschaft, keine Zeit übrig. Komme ich heim, so heißt es mit der Gattin plaudern, mit den Kindern schäkern und mit der Dienerschaft verkehren. Das rechne ich alles zu den Geschäften, die verrichtet werden müssen (und es muß geschehen, wenn du nicht im eigenen Hause ein Fremdling sein willst). Man muß durchaus Sorge tragen, mit denen, die entweder die Natur, der Zufall oder die eigene Wahl zu unsern Lebensgefährten gemacht haben, so angenehm als möglich zu verkommen, damit sie durch zu große Vertraulichkeit nicht verhätschelt,[20] oder durch zu große Nachsicht aus Dienern zu Herren werden. So rauschen Tage, Monate, Jahre dahin. Wann also schreiben? Und da habe ich nicht einmal vom Schlafen und vom Essen gesprochen, das bei Vielen nicht weniger Zeit in Anspruch nimmt als der Schlaf selbst, der doch fast die Hälfte des Menschenlebens für sich in Beschlag nimmt. So erübrigt mir nur die Zeit, die ich mir vom Schlafe und vom Essen abbreche, und so wenig das ist, so ist es doch etwas, und so habe ich endlich die Utopia zu Stande gebracht, und sende sie Dir jetzt, lieber Peter, zum Durchlesen, damit, wenn mir etwas entgangen ist, Du mich darauf aufmerksam machst, obwohl ich mir nämlich in dieser Beziehung nicht gerade mißtraue, – ich wünschte, es fehlte mir ebensowenig an Genie und Gelehrsamkeit als an der Gabe des Gedächtnisses – so hege ich doch auch kein übertriebenes Vertrauen zu mir selbst, daß ich etwa glaubte, es könne mir nichts entfallen sein. Denn auch Johann Clement, mein jugendlicher Aufwärter, der, wie Du weißt, zugegen war, der mir bei keiner Unterredung von einigem Belang fehlen darf, ein junges Pflänzchen, das bereits in der griechischen und lateinischen Litteratur zu grünen beginnt, und von dem ich mir einst ausgezeichnete Frucht verspreche – hat mich sehr an mir zweifeln gemacht. So viel ich mich nämlich erinnere, hat Hythlodäus erzählt, jene Brücke von Amaurotum über den Fluß Anydrus sei fünfhundert Schritt lang, mein Johannes aber sagt, davon seien zweihundert Schritt in Abrechnung zu bringen, indem die Breite des Flusses dort nicht über dreihundert Schritt betrage. Ich bitte Dich, rufe Dir den Sachverhalt ins Gedächtniß zurück. Stimmst Du mit ihm überein, so trete ich euch bei, und glaube, daß mich mein Gedächtniß trügt; kannst Du Dich aber nicht erinnern, so lasse ich stehen, was ich niedergeschrieben und baue auf mein Erinnerungsvermögen. Denn da ich aufs äußerste besorgt bin, alles Falsche in meinem Buche zu vermeiden, so will ich, wo die Wahrheit nicht festzustellen ist, lieber eine Unwahrheit sagen, als lügen.[21] Denn lieber ehrlich als pfiffig. Diesem Uebelstande wäre leicht abzuhelfen, wenn Du den Raphael entweder mündlich oder schriftlich befragen wolltest, was Du ja doch wegen eines anderen Skrupels, der uns aufstößt, thun mußt, handle es sich nun um ein Versehen, meiner, Deiner oder Raphaels. Ist es uns doch nicht eingefallen, ihn zu fragen, noch ihm von freien Stücken zu sagen, in welcher Gegend des neuen Welttheils Utopia liegt. Lieber möcht' ich es mich eine ziemliche Summe Geldes haben kosten lassen, als daß uns das widerfahren wäre, theils, weil ich mich wirklich schäme, nicht zu wissen, in welchem Weltmeere die Insel liegt, über die ich so viel schreibe, theils weil es den Einen oder Andern bei uns gibt, Einen aber vor allen, einen frommen Mann, von Beruf Gottesgelehrten, der vor Begierde brennt, Utopien zu betreten, nicht aus einem eiteln und neugierigen Gelüsten, Neues zu sehen, sondern um unsere Religion, die dort einen vielversprechenden Anfang genommen hat, zu fördern und zu verbreiten. Um dies in regelrechtem Gange zu erreichen, will er bewirken, daß er vom Papste dorthin gesendet, dann von den Utopiern zum Bischof gewählt wird, indem er keinen Augenblick bezweifelt, daß er zu dieser Vorsteherwürde durch Bitten gelangen werde. Er hält dies für einen frommen Ehrgeiz, nicht den Rücksichten auf weltliche Ehren und Gewinn, sondern religiösen Motiven entsprungen. Darum bitte ich Dich, lieber Peter, entweder, wenn möglich, mündlich, sonst aber brieflich, dem Hythlodäus anzuliegen, daß in meinem Werke nichts Falsches stehen bleibe, aber auch nichts, was wahr ist, vermißt werde. Ich weiß nicht, ob es darum nicht gut wäre, ihm das Buch selbst zu zeigen. Denn etwas Irrthümliches kann Niemand so verläßlich beseitigen als er, er selbst kann das aber auch nur, wenn er liest, was ich geschrieben habe. Dazu kommt: auf diese Weise wirst Du merken, ob es ihm recht ist, oder ob er nicht erbaut davon ist, daß ich dieses Werk verfaßt habe. Denn wenn er etwa gesonnen ist, die Geschichte seiner Mühen und Strapazen selbst in Druck zu geben, so wird es ihm eben nicht angenehm sein und ganz ebenso erginge es desfalls mir, wenn ich durch meine ihm zuvorkommende[22] Veröffentlichung des utopianischen Staatswesens seine geschichtliche Darstellung des Reizes der Neuheit beraubte.

Um die Wahrheit zu sagen, so bin ich mit mir selbst noch nicht einig, ob ich die Utopie überhaupt herausgeben soll. Der Geschmack der Menschen ist so verschieden, die Gemüther Mancher sind so mürrisch, ihre Sinnesart so unerquicklich, ihre Urtheile so abgeschmackt, daß diejenigen besser zu fahren scheinen, die sich dem Genusse und der Fröhlichkeit hingeben, als diejenigen, welche sich mit Sorgen abäschern, etwas zu veröffentlichen, was Andern zum Vergnügen oder zur Belehrung gereichen könne, während es eben diese verschmähen oder unfreundlich aufnehmen. Die Meisten wissen nichts von Wissenschaft und Litteratur, viele verachten sie. Ein barbarischer Geschmack verwirft Alles, was nicht wieder barbarisch ist. Die Halbwisser verachten Alles als trivial, was nicht von alterthümlichen Ausdrücken wimmelt. Gewissen Leuten gefällt nur das Alte, den meisten nur das, was sie selbst gemacht haben! Dieser ist so sauertöpfisch, daß er von keinem Scherze etwas wissen will, jener so platt und albern, daß er das Salz des Witzes nicht verträgt, andere so stumpfnasig, daß sie vor einer kräftigen Nase scheuen, wie ein von einem wüthenden Hunde Gebissener vor dem Wasser. Wieder Andere sind so wetterwendisch, daß sie Etwas gut heißen, während sie jetzt sitzen, und schon wieder etwas Anderes, wenn sie dann aufstehen. Noch Andere sitzen in der Kneipe und urtheilen auf der Bierbank über litterarische Erzeugnisse und verdammen mit einer ungeheuren Autorität alles Beliebige und die Schriften jedermanns, indem sie alle Welt durchzausen, während sie selbst in Sicherheit sind, außer Schußweite, nach dem Sprichworte, denn diese guten Leute sind um und um so glatt und kahl, daß sie kein gutes Haar an sich haben, bei dem man sie fassen könnte. Ueberdies gibt es so[23] undankbare Gemüther, daß sie, während sie sich im höchsten Grade an einem Werke ergötzen, den Autor doch nicht leiden mögen, nicht unähnlich jenen unwirschen Gästen, die, nachdem sie an einem opulenten Gastmahl vollauf sich gelabt haben, nach Hause gehen, ohne dem Gastgeber ein Wort des Dankes zu sagen. Nun geh und richte für Leute so verwöhnten Gaumens, so verschiedenen Geschmacks, und obendrein von so dankbarer Gesinnung, die der Wohltaten so eingedenk sind, auf Deine Kosten einen Schmaus her.

Aber trotzdem, lieber Peter, verfahre gegen Hythlodäus, wie ich oben gesagt: es bleibt mir ja unbenommen, hinterdrein immer noch zu thun, was ich will. Aber da ich doch einmal die Mühe des Niederschreibens gehabt habe, so möge das nicht gegen seinen Willen geschehen sein. In allem Uebrigen, was bei der Herausgabe noch in Betracht kommt, werde ich den Rath meiner Freunde befolgen, vor allem den Deinigen. Lebe wohl, geliebtester Petrus Aedigius, sammt Deiner lieben Frau, und bleibe mir wie bisher zugethan, wie auch ich Dich immer lieber gewonnen habe.[24]

Quelle:
Thomas Morus: Utopia. München 1896, S. 19-25.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Utopia
Utopia
Utopia: Lateinisch/Deutsch
Der utopische Staat: Utopia. Sonnenstaat. Neu-Atlantis
Utopia
Ein wahrhaft kostbares und ebenso bekömmliches wie kurzweiliges Buch über die beste Staatsverfassung und die neue Insel Utopia

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon