Vermittlung zwischen I und II (Kap. 21).

[260] Die erste Thesis und Antithesis ist von PLATO nicht nur am breitesten ausgeführt (in drei und acht Kapiteln, während den sechs folgenden Deduktionen nur je ein Kapitel gewidmet ist), sondern es ist in diesem einzigen Fall noch ein besondrer Nachtrag beigefügt, der ersichtlich bestimmt ist, einen Ausgleich zwischen den sich schroff kontradiktorisch gegenüberstehenden Ergebnissen beider Deduktionen anzubahnen und zugleich über die Absicht der Gegenüberstellung etwas mehr Licht zu verbreiten.

Die erste Deduktion bewies, daß das Eine weder Eins noch Vieles usw. ist, noch überhaupt ist; die zweite, daß es sowohl Eins als Vieles usw. ist und so auf alle Weise, nach allen möglichen Bestimmungsweisen, ist. Das Erstere kam dadurch heraus, daß der Begriff des Einen schlechthin, für sich, beziehungslos gesetzt wurde, das Letztere, indem klar wurde, daß eben die Setzung der Einheit schon deren Verknüpfung mit andern reinen Denkbestimmungen zwingend herbeiführt, so zwar, daß auch die kontradiktorischen Bestimmungen, nämlich beziehentlich, von ihm gelten.

Es können aber beide einander verneinenden Behauptungen nur unter einer Bedingung mit einander bestehen, nämlich so, daß das Eine in einem, das Andre in einem andern Zeitpunkt gilt.

Dieser Ausgleich ist allerdings so, ohne nähere Erklärung, noch nicht verständlich. Denn erstens hatte die Thesis zuletzt überhaupt sich selbst aufgehoben; es ergab sich, daß bei der gedachten absoluten Isolierung des Begriffs der Einheit dem Einen auch das Sein, jedenfalls im Sinne der Existenz, abgesprochen werden müßte. Zweitens wurde besonders auch die Möglichkeit, in einer Zeit zu sein, mit demselben logischen Zwang wie alle übrigen Grundbestimmungen von ihm verneint. Sollen diese früheren Folgerungen stehen bleiben, und sie waren doch zulänglich bewiesen, so kann nicht hinterher die Hypothesis aufgestellt werden, daß das im Sinne der Thesis verstandene Eine in einem bestimmten Zeitpunkt existiere.

Besinnt man sich jedoch, daß der ganze Sinn der Thesis die Setzung des reinen Grundbegriffs der Einheit, und[260] zwar zunächst isoliert von allen andern, sei es ursprünglichen oder abgeleiteten Begriffen, war, so ist es möglich, nicht zwar in einem Punkte der Existenz, oder der Zeit als Existenzform, wohl aber in einen bestimmten Stadium des Denkprozesses diesen Grundbegriff rein für sich, unbezüglich, in einem zweiten Stadium des Denkprozesses dagegen denselben Begriff als entfaltet in die ganze Mannigfaltigkeit auch unter einander kontradiktorischer, aber beziehentlich verstandener Begriffe zu setzen. Der Begriff der Zeit würde dann also nur die logische Sonderung dieser verschiedenen Stadien oder Momente des Denkens vertreten. Es wird sich aber auch sogleich erweisen, daß überhaupt in keiner andern Funktion die Zeit hier eingeführt ist, ja daß sie wohl überhaupt bei PLATO nichts andres vertritt als die Auseinandersetzung im Denken, die Setzung in verschiedenen Denkstadien, wovon die gewöhnliche, konkretere Bedeutung der Zeit erst abgeleitet wird.

Es soll nun auch mit der Einführung der zeitlichen Unterscheidung der gesuchte Ausgleich nicht etwa schon gefunden sein. Es wäre ja so weit nur in getrennten Denkstadien einmal die reine, unbezügliche Setzung, das andere Mal die bezügliche gedacht, ohne daß ein Übergang, eine wahre Vermittlung von der einen zur andern Weise der Setzung aufgezeigt wäre. Für diese Vermittlung aber kann nicht etwa der Begriff der Zeit einstehen. Zwar heißt es zunächst weiter, es müsse also auch eine Zeit sein, in der der Übergang (von der einen zur andern Weise der Setzung) stattfinde. Aber das wird, wie wir sogleich sehen werden, alsbald wieder zurückgenommen, es ist nur ein einstweiliges Zugeständnis an die gemeine Denkweise, die, wenn etwas ein zweites Mal anders ist als es erstmals gewesen, die dazwischen verflossene Zeit verantwortlich macht für das Werden dessen, was zuvor nicht war, und das Vergehen dessen, was zuvor war. Also bleibt von diesem Satze endgültig nur stehen: es muß ein Übergang, und es muß Etwas sein, worin der Übergang stattfindet.

Dies aber ist nun eben die Zeit nicht. Das wird jetzt festgestellt. Es heißt, paradox in der Fassung, aber klar im Sinn: »Wann« das in Bewegung Befindliche zum Stehen oder das Stillstehende in Bewegung kommt, muß es nicht in irgend einer bestimmten Zeit sein. Es ist kein Zeitpunkt, in dem der Übergang von einem zum andern Zustand gedacht werden könnte, denn in diesem müßten ja die kontradiktorischen Zustände[261] zugleich gedacht werden. Da nun doch der Übergang notwendig zu denken ist, wann findet er also statt? (»Wann«. das kann jetzt nicht heißen: in welchem Zeitpunkt? sondern: in welchem Punkte des Denkens?) Die Antwort lautet: nicht »wann« es in Bewegung noch »wann« es in Ruhe ist, noch überhaupt indem es sich in einem Zeitpunkt befindet: sondern in etwas Seltsamem, er nennt es to echaiphnês, das »Im Nu« oder »Auf einmal« oder »Unversehens«, was nur besagen will, daß der Übergang selbst nicht empirisch gegeben ist oder aufgezeigt werden kann. Es ist nachher, was es zuvor nicht war, ist nicht mehr, was es zuvor war, ohne daß der Übergang wahrgenommen werden konnte – der aber dennoch stattgefunden haben muß, das heißt, den das Denken zu setzen nicht umhin kann. Es wird weiterhin bestimmt als das, worein und woraus der Übergang geschieht. Nicht während des Stillstands kann der Stillstand in Bewegung, nicht während der Bewegung die Bewegung in Stillstand übergehen, sondern »zwischen« beiden, in keiner Zeit, muß dies seltsame Wesen (physis), das »Auf einmal«, seinen Sitz haben. Und in diesem unsagbaren Denkstadium kann man, wenn etwas vom Sein zum Vergehen, vom Nichtsein zum Werden gelangt, weder sagen, daß es ist, noch, daß es nicht ist, weder, daß es wird, noch, daß es nicht wird.

Was PLATO so mit den Worten ringend zu sagen versucht, wird deutlich, wenn man die ersichtlich hier vorschwebende Unterscheidung des Diskreten und Stetigen ausdrücklich einführt. Die Zeit wurde aufgestellt als Ausdruck der diskreten Setzung. Als solche steht sie nur dafür ein, daß in dem diskreten Denk-punkt 2 etwas ein Anderes ist als es in dem diskreten Denkpunkt 1 gewesen, das heißt, daß es in 2 nicht ist, was es in 1 gewesen, und ist, was es nicht gewesen ist. Die Momente 1 und 2 negieren sich, d. h. sondern sich, schließen sich aus, und sondern damit oder schließen voneinander aus die in beiden gesetzten Inhaltsbestimmungen, etwa A und B. Dagegen wird im echaiphnês (dem Nu) der stetige Übergang von A in nicht-A und von nicht-B in B gedacht. Dieser ist in der Tat durch die Zeit zunächst nicht darstellbar. Zeit besagt, jedenfalls unmittelbar, nur: Vor und Nach. Sie ermöglicht, was vorher war und was nachher ist, nicht aber, von sich aus, den stetigen Zusammenhang zwischen beiden, d. h. das Werden zu denken. Sondern das gehört einem Denken an, welches dem Zeitdenken[262] vorausliegt, welches die Zeit als Kontinuum zu denken vielmehr erst ermöglicht, als daß es selber durch das Zeitdenken ermöglicht würde. In diesem wird weder A noch nicht-A gedacht, aber auch nicht bloß negativ dies Weder-noch, oder die logische Indifferenz von A und nicht-A, sondern die Grenze, als das, in dessen Begriff das, worin die eine Bestimmung endet und von wo die andere ihren Ausgang nimmt, identisch gesetzt wird. Das aber ist der genaue Begriff der Kontinuität.

Endgültig zwar kann dieser Begriff der Grenze nicht in dieser gegensätzlichen Stellung zur zeitlichen Setzung verbleiben; wiewohl es instruktiv war, ihn in diesem Gegensatz zunächst einzuführen, denn so mußte seine unbedingte Priorität vor der zeitlichen Setzung eindringlich klar werden. Aber auf Grund der schlechthin ursprünglichen Setzung der Grenze und damit der Kontinuität kann nunmehr die Zeit selbst als stetig, und kann so auch der Übergang in die kontradiktorische Bestimmung, das Werden oder Vergehen, in die Zeit, die nunmehr stetige, nicht bloß diskrete, gesetzt werden.

Durch das Denkmittel der Kontinuität, wie wir jetzt Kürze halber sagen wollen, ist somit der Ausgleich zwischen der unbezüglichen Setzung (der Thesis) und der bezüglichen (der Antithesis) angebahnt. Es ist die Möglichkeit eröffnet, daß die erst unbezügliche Setzung in die Bezüglichkeit, das heißt, die erst rein gedachte Idee, das a priori, in die Erfahrung, die ja das Gebiet der Bezüglichkeit bedeutet, eintritt. Es ist der erste Grund gelegt zur Möglichkeit der Erfahrung als methodisch gesicherter Erkenntnis, was ja das Ziel der ganzen Untersuchung ist. Die folgenden Deduktionen werden das von immer neuen Seiten und in immer deutlicheren Fassungen bestätigen.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 260-263.
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