III. Folgen für das Nicht-Eine bei bezüglicher Nichtsetzung des Einen (Kap. 26).

[272] Das Verständnis dieses so schwierigen wie wiederum hoch bedeutenden Kapitels hängt von zwei Voraussetzungen hauptsächlich ab, erstens, daß man in der Hypothesis, daß »das Eine nicht ist«, die bezügliche Nichtsetzung versteht, die ebensowohl bezügliche Setzung ist und nur die absolute schlechthin verneint; zweitens, daß man die Umwendung der Frage scharf beachtet, der zufolge jetzt wieder nicht das Eine selbst, sondern das Nicht-Eine, der Korrelatbegriff zum Einen, daß heißt aber,[272] wie jetzt schon vorausgesetzt werden darf und übrigens gerade durch dies Kapitel seine letzte und klarste Bestätigung erhält, das x der Erfahrung als Subjekt zu verstehen ist.

Im 24. Kapitel war nur gezeigt, daß die negative Setzung die Anwendbarkeit von Denkbestimmungen nicht etwa überhaupt verhindert, sondern ebenso notwendig macht wie die positive. Bliebe nun aber das Subjekt das Eine und gar das nichtseiende Eine, so bliebe es bei der im Grunde widersinnigen gegenseitigen Bejahung und auch wieder Verneinung aller Denkbestimmungen von allen, das heißt, bei jenem Widersinn, der in Kap. 13-20, zur Antwort auf die leichtsinnige Herausforderung des jungen SOKRATES, nur allzu gründlich durch alle Einzelheiten durchgeführt worden war. Der gesunde Sinn der Verknüpfung der Denkbestimmungen kann vielmehr nur sein ihre Verknüpfung im Urteil über das Erscheinende. Die allgemeine Möglichkeit dieser Verknüpfung aller, auch der kontradiktorischen Bestimmungen in Bezug auf das wahrhaft gegebene, das heißt unsrer Erkenntnis zum Problem gestellte Subjekt, das x der Erfahrung, beruht aber darauf allein, daß alle Setzungsweisen ausnahmslos als bezügliche verstanden werden. Was beziehentlich A, kann und wird beziehentlich auch nicht-A, und ferner B und so fort sein. Der Gegenstand der Erfahrung aber wurde schon definiert als das Mannigfaltige, in welches die Einheit, das Indeterminierte, in welches die Determination erst eintreten soll, so daß eine Aussage »x ist A« möglich wird. Soll nun dies durch einen, nicht wie dort vom Sein, sondern vom Nichtsein des Einen ausgehenden Beweisgang bestätigt werden, so muß dies Nichtsein nur bezügliches Nichtsein, also nur Verneinung des absoluten Seins bedeuten. Dann versteht sich sofort, daß die bezügliche Nichtsetzung zugleich bezügliche Setzung ist, die aber zum Subjekt nicht die reine Denksetzung selbst, die als absolute ja durch die Hypothesis verneint wird, sondern ihr Korrelatum, den problematischen Gegenstand der Erfahrung haben muß.

Wir verstehen demnach die Frage so: Wenn die absolute Setzung (z.B. des Einen) wegfällt, die relative aber bleibt, was gilt dann von dem Korrelatum aller Denksetzung, von dem zuletzt sie gelten soll: dem x der Erfahrung?

Die Argumentation nimmt nun diesen Gang. Das Andre muß als Andres (Nicht-Eines) zunächst Verschiedenes sein; verschieden nicht vom Einen, das ist ja nicht, von ihm ist hier[273] nicht die Rede; also von einander verschieden. Also ist es (wie in Kap. 22) unter dem Begriff des Mannigfaltigen (kata plêthê) zu denken, so zwar, daß jedes beliebige Quantum (onkos) von ihm ein unbestimmt Mannigfaltiges ist (auch dies wie 158 C). Nimmt man von ihm auch was für das Kleinste galt, so zeigt sich auf einmal (exaiphnês) statt dessen, was Eins schien, Vieles, statt des Kleinsten ein überaus Großes im Vergleich zu den Teilen, die durch Zerlegung aus ihm hervorgehen. So werden es viele Quanta sein, deren jedes Eins zu sein scheint aber nicht ist, denn das (absolut genommene) Eine ist ja nicht. Es wird von ihnen auch eine Zahl zu geben scheinen, wenn doch (scheinbar) jedes Eins, und ihrer Viele sind... Und da Dasselbe klein und auch wieder groß erscheint, klein gegen das, dessen Teil es ist, groß gegen seine eignen Teile, so muß im Übergang vom einen Schein zum andern auch die Grenze beider Begriffe überschritten werden, das aber ist die Erscheinung der Gleichheit. Es muß ferner jedes Quantum sich gegen ein andres abzugrenzen scheinen, obwohl es in sich betrachtet weder Anfang noch Ende noch Mitte hat, denn, wann immer man etwas in Gedanken als Anfang, Ende oder Mitte nimmt (d. i. annimmt oder setzt), wird sich stets vor dem Anfang ein andrer Anfang, nach dem Ende ein ferneres Ende, in dem Mittleren wieder ein andres Mittleres zeigen, da ja keins von diesen als ein Bestimmtes angenommen werden darf, denn es gibt ja gar nicht das (absolut) Eine. – Nachdem nun hier schon an die Stelle des scheinbaren, nicht wahren Seins das »wie seiend« (hôs on) in Gedanken Gesetzte getreten ist, heißt es dann geradezu: Also wird notwendig jedes Seiende, das man in Gedanken setzen mag, sich zerbröckeln und zerstücken (thryptesthai kermatizomenon, vgl. 144 B E), denn es kann nur angenommen werden als Quantum ohne Einheit (onkos aneu henos, 165 B, vgl. 158 C klêthê en ois to hen ouk eni). Von fern zwar und stumpf gesehen, wird es Eines zu sein scheinen, aus der Nähe aber in Schärfe gedacht zeigt sich jedes Einzelne unendlich an Menge, da es ja der Einheit ermangelt, die es (immer im absoluten Verstande) der Voraussetzung nach gar nicht gibt. Also wird ein Jedes von dem Andern sich darstellen als grenzenlos (unbestimmt) und der Grenze (Bestimmung) teilhaft, desgleichen als Eins und Vieles, gleichartig und ungleichartig; so wie auf einer Zeichnung dem Fernstehenden alles Eins, identisch und qualitativ gleich erscheint, wenn man aber nahe[274] hinzutritt, als Vieles und verschieden, nämlich durch die Erscheinung der Verschiedenheit verschieden geartet und ungleich. Die Ableitung der weiteren Bestimmungen wird wieder nur in kurzer Zusammenfassung angedeutet, die Ausführung bleibt, als »nunmehr für uns leicht«, dem Leser anheimgestellt.

Der Beweisgang fordert die schärfste Aufmerksamkeit. Als sein eigentliches Ziel tritt deutlicher und deutlicher hervor die genaue Herausarbeitung des Begriffs der Erscheinung, oder richtiger: des Gegenstands in der Erscheinung. Erst steht dem Scheinen das Sein schroff gegenüber. Jedes Quantum, heißt es, erscheint als Eines, ist's aber nicht (164D); es scheint von ihm eine Zahl zu geben (doxei), es erscheint an ihm, ohne Wahrheit (ouk alêthôs phainetai, 164E) Gerades und Ungerades. Dann schon positiver: es wird vorgestellt (beurteilt?) als das und das (doxasthêsetai einai, 165A), oder es tritt an ihm die Erscheinung der Gleichheit auf (phantasma isotêtos), die doch schon etwas Positives ist. Dann aber: man nimmt (setzt) es im Denken wie seiend; und endlich wird es geradezu on, seiend (Gegenstand) genannt (165 A, pan to on, ho an tis labê tê dianoia), ja, dies Sein in der Erscheinung, es ist jetzt das (scharf, aus der Nähe) Gedachte im Unterschied vom (stumpf, aus der Ferne) Gesehenen, es ist genau das, was »durch den Verstand zu erfassen ist, nicht durchs Gesicht«, nach dem Phaedo (81 B), dem Staat (529 D: ha dê logô kai dianoia lêpta, opsei d' ou, ferner 507 C, 510 E, 511 C, 526 A) und dem Timaeus (49A). Und wenn der Ausdruck »Erscheinung« dann doch weiter gebraucht wird, so bedeutet das jetzt nicht mehr gegenstandslosen Sehern, sondern es bedeutet die bestimmte, obwohl bezügliche Darstellung des Gegenstands in der zwar bedingten, in ihrer Bedingtheit aber wahren, weil nunmehr begründeten empirischen Erkenntnis.

Nicht minder aber wird die Relativität dieser empirischen Wahrheit hier erst bis zur letzten Schärfe ausgearbeitet. Jede empirische Bestimmung ist wieder überschreitbar ins Unendliche, sie wird aber überschritten in immer neuen und neuen Bestimmungen. Diesseits jedes gesetzten Anfangs zeigt sich immer wieder ein noch früherer Anfang, jenseits jedes gesetzten Endes ein weiteres Ende, innerhalb jeder Mitte ein wiederum Mittleres; was man sich nun weiter ausgeführt denken mag in Hinsicht des Raumes, der Zeit, der Bewegung, der Energie und so fort. Da gibt es keinen Abschluß, kann es keinen[275] geben, denn er wäre nur denkbar in einer absoluten Einheit der Bestimmung; diese aber ist ausgeschlossen durch die Voraussetzung, deren Sinn durch den Gegensatz dieser grenzenlosen Relativität nun vollends klar wird: daß »das Eine nicht ist«, d.h. absolute Bestimmtheit nicht stattfindet. Die erscheinende Einheit dagegen, das heißt die relative und in ihrer Relativität wahre Bestimmung gibt es, und gibt es immer.

Diese Relativität aber enthüllt sich eben in der Entfaltung der für sich starren und toten »Einheit« der Denkform zur lebendigen Funktion einer grenzenlos fortschreitenden, nie in einem absoluten Abschluß zum Stillstand kommenden Bestimmungsweise. Es erinnert direkt an KANT, wenn die Erscheinung hier zum Gegenstand wird, und zwar zum Gegenstand für den Verstand; wenn mit dem Zusatz phainomenon, »als Erscheinung«, »in der Erscheinung«, alle reinen Begriffe, als Funktionen zur Ermöglichung des Erfahrungsgegenstands, gesetzt, als Absoluta aber, als Ausdrücke abgesonderter reiner Vernunftdinge (für die man merkwürdigerweise die Ideen gehalten hat) verneint werden. Der Verstand dianoia, im Unterschied von nous, der Denkprozeß) war als Funktion der bedingten Setzung ja schon im Staat eingeführt worden. Aber dort blieb zum wenigsten scheinbar über ihm die Vernunft als Vermögen echtester, absoluter Erkenntnis stehen. Hier dagegen ist jeder letzte Schein, als ob dem reinen, d.i. von der Erfahrung gänzlich absehenden Denken irgend welche eigentümliche Gegenständlichkeit verbliebe, man darf wohl sagen, endgültig überwunden. Die Gegenständlichkeit der Erfahrung dagegen, die einzige, die es für uns gibt oder die in unserm Bereich ist, beruht auf dem Verstande, das heißt, auf der grenzenlosen Verflechtung und wechselseitigen Durchdringung der in die Welt der allseitigen Bezüglichkeit, d.i. der »Erscheinung« eingetretenen ursprünglichen Denkfunktionen.

Damit ist die Aufgabe gelöst: zu zeigen, erstens, daß wir die Begriffe a priori haben, obgleich nur Erfahrung uns zusteht; zweitens, daß und wie sie dem wahren Problem unsrer Erkenntnis, der Gegenständlichkeit der Erfahrung, gewachsen sind. Beides deswegen, weil sie, als Funktionen, nicht Dinge der Bezüglichkeit nicht entbehren, auf sie vielmehr ganz hingewiesen, und eben dazu geschaffen und geartet sind, inmitten der grenzenlosen Bezüglichkeit doch bestimmte, nämlich relative Setzungen zu ermöglichen.[276]

Noch Eins verdient hier wohl eine Anmerkung. Man hat bei den Quanta ohne Einheit an DEMOKRIT gedacht (SUSEMIHL). Allerdings wird onkos von den Atomen des DEMOKRIT gesagt, und auch im Timaeus läßt sich bei diesem Terminus (56 C, 62 C, besonders wenn man zur ersteren Stelle ARISTOTELES de gen. et corr. I 8, pag. 325 a 30, vergleicht) der Gedanke an den Atomismus nicht wohl abweisen. Aber dann hat PLATO gerade die Atome als absolute unteilbare Quanta, als Analoga des Einen des PARMENIDES, als falsche eteê onta, d.i. vermeintlich absolute Bestimmtheiten in der Erscheinungswirklichkeit selbst, abgelehnt, um auch in Hinsicht der Konstitution der räumlichen Wirklichkeit die (im 21. Kapitel ja eingeführte) Stetigkeitsbetrachtung in Strenge durchzuführen. Das »Quantum ohne Einheit« geht merklich hinaus über die bloße »Mannigfaltigkeit ohne Einheit« (plêthê 158 C, wieder aufgenommen 164 C). Die Mannigfaltigkeit erscheint noch diskret, im onkos, der (Ausdehnungs-) Größe, ist dagegen unfraglich nicht etwa bloß unendliche Teilbarkeit, sondern Stetigkeit gedacht. Es wird das eine Quantum an Menge unendlich gesezt (ho onkos autôn apeiros esti plêthei, 164 D). Und ogos heißt einmal Größe (populär oft Last, Gewicht, Masse, im wissenschaftlichen Gebrauch eher Volumen, so besonders bei ARISTOTELES, s. BONITZ ARISTOTELES-Index), niemals aber Zahl (Theaet. 155 A mête onkô mête arithmô). Somit ist es kein Zufall, wenn eben in diesem Zusammenhang jenes seltsame Ding, das exaiphnês, wieder auftritt, welches als Ausdruck des Denkübergangs, der die Stetigkeit begründet, erkannt wurde.

Es ist demnach richtig, daß auch das Problem der Materie hier berührt ist. Aber die These ist an sich in unbeschränkter Allgemeinheit zu verstehen. Das Prinzip der Kontinuität oder des Ursprungs dient nicht bloß zur Beantwortung dieses einen, sondern aller von gleicher Ordnung fundamentalen Probleme der »Möglichkeit der Erfahrung«.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 272-277.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon