1. Das Unbestimmte und dessen Bestimmung (23 E – 26 D).

[321] Das erste Prinzip wird erläutert durch den Sinn komparativer Prädikate wie Wärmer, Kälter, Mehr, Weniger, Größer, Kleiner, Schneller, Langsamer (24 A, 25 C). Solche enthalten eine Unbestimmtheit. Eben das, was sie zu Komparativen macht, das Mehr und Weniger, das in diesen Begriffen selbst liegt (en autois oikounte tois genesin), gestattet, solange es darin enthalten ist, keinen Abschluß (telos, teleutê). Ist dagegen eine abschließende Bestimmung erreicht, so hört damit das Mehr und Weniger auf.[321] Der Komparativ besagt also den Mangel des Abschlusses (mê telos echein). Ein Unabgeschlossenes (ateles, 24 B) ist aber eben ein Unbestimmtes. Die Bestimmung bedeutet den Abschluß im Urteil. – Wir erinnern uns, daß das Urteil als Abschluß des Denkprozesses (dianoias apoteleutêsis) im Sophisten (264 A) und schon im Theaetet (190 A) erklärt wurde. Wenn das Bewußtsein eine Bestimmung getroffen hat (horisasa) und fortan Eins und dasselbe aussagt, nicht mehr schwankt (distazê), so nennen wir das Urteil, hieß es dort.

Im Parmenides aber (157 E) war es eben diese logische Geschlossenheit (das teleion), welche den Begriff des Ganzen als des Einen, Bestimmten gegenüber der unbestimmten Vielheit der Teile ausmachte. Diesen mathematischen Sinn erhält der Abschluß in der »Grenze« oder Bestimmtheit (dem peras) auch hier. Gegenüber der unbegrenzbaren Mannigfaltigkeit des zu Bestimmenden, welche zugleich auch die Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit bedeutet, der die Bestimmung ein Ende macht (pauei ta enantia diaphorôs exonta 25 E), wird diese genauer zur bestimmten Quantität, zum »so und so Viel« (poson) im Unterschied von dem, nun ebenfalls quantitativ gedachten, aber unbestimmten »Mehr und Weniger«; oder gleichbedeutend zur Maßbestimmtheit (metrion, was Maß hat). Tritt dies an die Stelle (hedra oder chôra, Sitz oder Platz); wo zuvor das Mehr und Weniger (oder Stark und Schwach, sphodra kai êrema) sich befand, so muß eben dies den Platz räumen, den es zuvor innehatte (errhei tauta ex tês hautôn chôras en hê enên). Die Unbestimmtheit der komparativischen Aussage bedeutet ein Fortrücken, nicht identisches Beharren (grochôrei gar kai ou menei ... aei ... hôsautôs), die bestimmte Quantität dagegen Stillstand, Einhalt im Weitergehn (to de poson estê kai proion epausato, 24 CD). – Dazu nehme man noch den Ausdruck des Unvollendbaren (aperanton, 28 A), oder dessen, was von sich selbst aus weder Anfang noch Mitte noch Ende in sich hat (31 A); was besonders an die Beschreibung im Parmenides (165 A B) erinnert: daß vor jedem Anfang ein noch früherer Anfang, nach jedem Ende ein ferneres Ende, in jedem Mittleren ein wiederum Mittleres erscheine.

Das Fließende, die Möglichkeit über jede erreichte Bestimmung mit neuen Bestimmungen wieder hinauszugehen, Unmöglichkeit mit irgend einer Bestimmung je zu einem absoluten Abschluß zu kommen, gelangt in diesen so vielfältigen Wendungen zu scharfer Ausprägung. Indem aber die bestimmte[322] Größensetzung es ist, die solcher Unbestimmtheit ein Ende macht, so enthüllt sich hier der tiefste Grund der im Philebus durchweg und mit so besonderem Nachdruck ausgesprochenen Überzeugung: daß nur auf Grund mathematisch exakter Bestimmung empirische Wissenschaft möglich sei. So wird geradezu zum Allgemeinausdruck der Bestimmung des Unbestimmten und damit der konkreten Seinsbestimmung überhaupt die Maßbestimmtheit: Gleichheit, Doppelheit, Zahl– und Maßverhältnis überhaupt (25 A B); was dann, aber auch nur dann richtig ist, wenn man den Begriff der Quantität in äußerster Weite nimmt; zum Beispiel die Lagebeziehungen der projektiven Geometrie, die ohne Einführung von Maßbegriffen doch einer rechnerischen Behandlung unterliegen, würden unfraglich unter den weiteren platonischen Begriff des Maßes oder der Quantität fallen. Vor allem aber ist sicher erkannt, daß die sogenannten Qualitäten, wie die hier von PLATO als Beispiel gebrauchten der Wärme und der Tonhöhe, einer Bestimmung (wie warm oder kalt, wie hoch oder tief) nur durch Zahl und Maß fähig, insofern durchaus als Quantitäten (veränderliche Größen) zu behandeln sind.

Besondere Aufmerksamkeit fordert noch die Verbindung der Begriffe des Unbestimmten und seiner Bestimmung mit denen des Raumes und andrerseits der Zeit. Im Phaedo wurde das Werden, Vergehen, Anderswerden als bloßer Stellenwechsel der selbst unveränderlich bleibenden Bestimmtheiten (Ideen) beschrieben. Dieser setzt ein Stellensystem voraus, die letzte logische Grundlage des Raumbegriffs. Die wechselnde Besetzung aber derselben Stellen durch verschiedene, ausschließende Bestimmtheiten führte die Zeit ein, als Bedingung der Möglichkeit auf dasselbe x, nämlich dieselbe zu besetzende Stelle bezogener kontradiktorischer Aussagen. Die Raumbedeutung des »Unbestimmten« drückte sich im Parmenides (Kap. 26) in dem Begriff des onkos aus, was wir mit Quantum übersetzten, freilich so nur übersetzen durften, indem wir darin das, was im Philebus als bestimmte Quantität (poson) und andrerseits unbestimmtes Mehr und Weniger unterschieden wird, zusammenfaßten, denn der onkos ist in sich unbestimmt, aber ins Unendliche bestimmbar.

Dieser Begriff scheint wieder aufgenommen zu werden in dem »Unbestimmten« des Philebus, sofern ihm ein Sitz oder Ort zugeschrieben wird, in welchen, an Stelle der fließenden Unbestimmtheit, die quantitative Bestimmtheit eintrete. Nun kann aber der Ort des zu Bestimmenden = x nicht voraus[323] schon bestimmt sein. Also muß die Meinung vielmehr die sein: zwischen den Grenzen, welche durch sukzessive Setzungen bestimmt werden, verbleibt allemal ein Gebiet der Unbestimmtheit, zugleich weiteren Bestimmungsmöglichkeit, und in dies Gebiet, welches also seinen Grenzen nach bestimmt, übrigens aber unbestimmt ist, tritt die neue Bestimmtheit ein, die damit zugleich eine neue Grenze, also auch eine neue Stellbestimmtheit setzt. Auf Grund dieser Betrachtung schwindet jeder Schein, als ob PLATO das »Unbestimmte« selbst zu etwas irgendwie schon Seiendem mache, da es doch vielmehr einen bloßen Seinsfaktor vertreten soll, dem für sich kein Sein zugeschrieben werden darf; denn jedes ihm zugeschriebene Sein würde schon eine Bestimmtheit an ihm setzen, also das peras in das apeiron schon einführen. Das Unbestimmte vertritt also zwar den Raum, aber als bloße Bestimmbarkeit und zwar grenzen- und abschlußlose, fließende Bestimmbarkeit, während die Ortsbestimmtheit, wenn irgend etwas, dem Prinzip der »Grenze« zu unterstellen ist.

Das Fließende aber ist zugleich schon das Veränderliche. Die Größe als Veränderliche (prochôrein, proienai und andrerseits Konstante (menein, stênai), das schien es zu sein, worauf die ganze Betrachtung eigentlich zielte. Ist nun hierin der Begriff der Zeit schon vorausgesetzt? Schwerlich, denn dann hätte er als eigner Grundbegriff neben Unbestimmtheit und Bestimmung voraus aufgestellt werden müssen. Sondern es kann sich nur fragen, ob er etwa durch eben diese Betrachtung eingeführt wird. Eingeführt wurde er im Phaedo, und anfänglich auch im Parmenides, als logische Bedingung der kontradiktorischen Setzungen (A und nicht-A.) in Beziehung auf dasselbe zu Bestimmende (x). So wäre aber die Zeit nur Ausdruck der Sonderung: was im Punkte 1, das gilt nicht im Punkte 2, und umgekehrt. Das echte Problem des Zeitbegriffs liegt aber vielmehr in der Möglichkeit des Übergangs von A. in nicht-A, in welchem Übergang die kontradiktorischen Bestimmungen nicht in verschiedene Punkte (Setzungen) auseinandertreten, sondern in einem Punkte zusammenzutreffen drohen; wenn man nämlich den Übergang in einem Punkte zu denken versucht. Aber im Übergang selbst darf eben keine von beiden Bestimmtheiten gedacht werden, da jede die andre ausschließen würde. Also kommen wir genau auf jene Unbestimmtheit, die zwischen den bestimmten Grenzen ihren »Sitz« hat. Dieser Sitz ist also kein Punkt; er ist, genau wie es im Parmenides (156 D) erklärt wurde, [324] in keiner Zeit zu denken, wenn Zeit (d.i. Nacheinander), zumal Zeitpunkt (das Eine und Andre im Nacheinander), schon Bestimmtheit besagen soll. Dieser Sitz der Unbestimmtheit vertritt also genau jenes seltsame Etwas, das exaiphnês des Parmenides, in welches, so hieß es ausdrücklich, die eine Bestimmtheit vergehen und aus welchem die andre hervorgehn müsse, da doch nicht, indem A. noch ist, nicht-A. eintreten könne. Denkt man aber in der Zeit nicht bloß die Bestimmtheit des Dann-und-dann, sondern auch den Durchgang durch die Unbestimmtheit, so kann man in diesem Sinne sagen, daß das Unbestimmte zugleich, wie den Raum, auch die Zeit mitvertrete. Genauer wird man sich so ausdrücken: es bedeute auch die Unbestimmtheit, das Fließende der Zeit und des Raumes, während die zeitliche und räumliche Bestimmtheit der Gattung der »Grenze« zuzurechnen ist.

Früher wurde diese Unbestimmtheit bei PLATO gern bezeichnet durch den Ausdruck des Werdens oder der Bewegung, d.h. des Übergangs von Bestimmtheit zu Bestimmtheit. Das ist jedoch eigentlich nur die Möglichkeit des Werdens, nicht das Werden im positiven Sinne des Entstehens. Dieses ist vielmehr zu repräsentieren durch den Eintritt der Bestimmtheit in das Unbestimmte. So wird nun hier (26 D) das »Dritte aus beiden«, der »Sprößling« des Unbestimmten und der Bestimmung, definiert als Werden zum Sein (genesis eis ousian), vermöge der gemäß dem Prinzip der Bestimmung (des peras) zustande gebrachten Maßbestimmtheiten (ek tôn meta tou peratos apeirgasmenôn metrôn).

Es ist sehr zu beachten, daß hiermit, zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit, das Werden einen ganz positiven Sinn erlangt. Es wird etwas, das fortan ist. Das Werden besagt hier das Hervorgehn, das Entstehen des bestimmten Seins; bestimmt nach Maßgabe eines Gesetzes der Bestimmung, und zwar nicht bloß des universalen Gesetzes der Bestimmung des Unbestimmten überhaupt, sondern allemal eines speziellen Gesetzes von notwendig mathematischer Form, welches ein Wieviel, und zwar ein verhältnismäßiges Wieviel, eine Maßbeziehung für es festsetzt.

In gleichem Sinne heißt (27 B) jenes Dritte: die aus beiden gemischte und (kraft dieser Mischung, d.i. des Zusammentritts beider Faktoren) »gewordene (entstandene) Seinsbestimmtheit« (gegenêmenê ousia). Und es wird das vierte Prinzip bezeichnet[325] als Grund der Mischung und (damit) Entstehung (ebenda). Das Werden wird hier zur Schöpfung, es schließt nichts mehr von Verneinung ein, sondern wird zum Quell aller Bejahung und, was sonst zwar schwierig genug, aber für die geänderte Richtung des Denkens über diesen Begriff besonders bezeichnend ist, zum Quell alles Guten (25 D – 26 C): Der Eintritt der Bestimmtheit (des peratoeides, was zur Gattung des Bestimmenden gehört) macht der Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit des fließenden Mehr und Weniger ein Ende und bringt, indem er die Bestimmtheit (des Wieviel) darin setzt, Ebenmaß und Übereinstimmung darin hervor, und eben dies bedeutet jetzt das Werden oder Entstehen. Als Beispiele dienen: die Hervorbringung von Gesundheit im kranken Körper, von Harmonie und Rhythmus im Unbestimmten des Tongebiets, von Maß und zwar übereinstimmendem Maß in Kälte und Hitze, woraus die geregelten (Jahres-)Zeiten entstehen, und so alles Schönen und Guten; die Meldung des Zuviel und aller Schlechtigkeit, als auf Unmaß und Grenzenlosigkeit der Lust und Sättigung beruhend. Das alles kommt zustande durch Eins und dasselbe: Gesetz und Ordnung, die Folge des Prinzips der Bestimmung (nomon kai taxin peras echontôn, 26 B).

Man kann sich wohl verwundern, wie hier auf einmal der teleologische Begriff des Guten an die Stelle der bloßen Bestimmtheit des Seins tritt. Ist denn alles bestimmt Wirkliche damit auch schon gut? Dieser Begriffsübergang ist nur daraus verständlich, daß die Güte eines Dings für PLATO im Grunde nichts mehr als seine Selbsterhaltung besagt (so hier aposôsai, 26 C). Unter diesem Begriff fällt für ihn allerdings das in seiner vollen Positivität verstandene Sein mit dem Guten zusammen. In dieser weiten, Natur und Sittenwelt zugleich umspannenden Bedeutung trat der Begriff der Gesetzesordnung schon im Gorgias auf. Er entsprach dort dem Eidos und Logos ganz wie hier dem Peras, das nur die schärfere Bestimmung des Eidos und Logos ist. Dieselbe Koinzidenz lag auch in der »Idee des Guten« im Staat, welches das (konkrete) Sein doch bloß überragte als das letzte Prinzip des Seins. Dieses Prinzip aber war, da die Seinsbestimmtheiten (onta) allein zu begründen sind in den Setzungen des Denkens (logoi), schließlich kein andres als das Prinzip des Logischen selbst, autos ho logos. Nicht anders hier; denn wenn in der »Bestimmung des Unbestimmten« Sein und Gutes sich als in ihrem letzten gemeinsamen Prinzip[326] vereinigen, so war die Bestimmung des Unbestimmten selbst nur hergeleitet: worden aus der logischen Natur der Aussage, aus dem Urgesetz des Logischen »in uns«.

Oder sollte doch noch ein Höheres sich auftun in dem vierten Prinzip, dem des »Grundes«? Das bleibt zu untersuchen übrig.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 321-327.
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