2. Das Prinzip des Grundes (pag. 26 E-30 D).

[327] Die ganze Schwierigkeit liegt hier darin: im Zusammentritt des Unbestimmten und der Bestimmung scheint der logische Grand des Seins schon aufgezeigt; und nun wird noch ein besondres Prinzip des Grundes aufgestellt. – Zwar daß »aus« den beiden, dem Unbestimmten und der Bestimmung, das Sein hervorgeht (ek toutôn ... gegone, 26 B), daß es also ihr Sprößling ist (ekgonon, 26 D), würde an sich noch nicht einen anderweitigen Grund ausschließen, da das, woraus etwas wird, nicht notwendig auch das ist, was das Sein selbst hervorbringt, sondern nur das zu seiner Entstehung Dienende, im gewöhnlichen Ausdruck die Materie darstellt (27 A). Aber von dem Zusammentritt Beider heißt es gradezu, daß er Maß und Einstimmigkeit und damit das Sein hervor- oder zustandebringe (apergazesthai, 25 E, 26 A und D) ja erzeuge (egennêsen, 26 A), desgleichen für seine Erhaltung einstehe (aposôsai, 26 C). Überhaupt, wenn doch das Dritte die Entstehung, das »Werden zum Sein« bedeutet, Entstehen aber und Hervorgebracht- oder Bewirktwerden, andrerseits Bewirken und Verursachen Dasselbe ist (26 E), was anders kann überhaupt das Bewirkende oder Hervorbringende oder Verursachende sein als eben der, in dem dritten Prinzip ausgedrückte, Zusammentritt von Unbestimmtheit und Bestimmung?

Als »Grund« wird nun aufgestellt: die Vernunft; auch Erkenntnis und Weisheit genannt. Denn (wie schon im Sophisten, doch ohne nähere Begründung, kurz ausgesprochen wurde, 265 C) es kann doch nicht Grundlosigkeit, Zufall und Ungefähr im All walten, sondern nur Vernunft und Einsicht (28 D). In uns jedenfalls findet sie sich; wie aber die Stoffe unsres Körpers von denen des Weltalls sich nähren, abstammen und regiert werden, so muß auch Seele und Erkenntnis in uns ihren Ursprung haben in der Seele und Vernunft des Alls. (So wird das All als lebendig und vernunftbegabt ebenfalls im Staatsmann eingeführt, 269 D). Denn es müssen wohl, wenn bei uns die vier Prinzipien im Verein, insbesondre das des Grundes, die Beseelung ebenso wie die normale Verfassung des leiblichen Organismus, überhaupt jederlei Gestaltung und Herstellung bewirkt,[327] und darum (bei uns) dies Vierte, als Ganzes und in allen seinen mannigfachen Gestalten, Weisheit heißt, dieselben Prinzipien auch im Weltall Entsprechendes wirken; es wird also auch in ihm das Prinzip des Grundes, das Jahre, Jahreszeiten und Monate anordnet und bestimmt, mit größtem Recht Weisheit und Vernunft genannt werden (30 A – C). Vernunft aber und Erkenntnis setzt Beseelung voraus (ebenda, C).

Zwar schwankt die Darstellung einigermaßen. Nach 30 D soll dem Zeus (d.i. dem All) eine königliche Seele und königliche Vernunft durch die Macht des Grundes zukommen; als ob der Grund der Vernunft des Alls noch von dieser selbst verschieden sein sollte. Aber abschließend wird doch (30 D B) die Vernunft selbst, offenbar die des Alls, als Grund gesetzt. Im Sophisten (265 C) wurde schlechtweg personifizierend Gott der Weltbildner (theos dêmiourgôn, so Staatsm. 270 A, und hier, Phileb. 27 B das Weltbildende, to dêmiourgoun), der mit Verstand und Erkenntnis (meta logou te kai epistêmês) alles, Lebendes wie Unbelebtes, hervorbringt, als Grund bezeichnet. Im Staatsmann ist das Weltall selbst ein lebendiges, und der Vernunft teilhaft geworden von dem, der es »im Anfang« harmonisch zusammengefügt hat: Gott oder der göttlichen Ursache, dem Weltbildner (269 C, 270 A). Dieselbe personifizierende Darstellung wird uns, noch ausgeprägter, im Timaeus wieder begegnen.

Auch im Philebus fehlt die Personifikation nicht, doch tritt sie sehr zurück. Jedenfalls ist durch den ganzen Zusammenhang, in dem das Prinzip des Grundes eingeführt wird, die Aufgabe gestellt: sein Verhältnis zu den Grundprinzipien des Unbestimmten und seiner Bestimmung rein logisch klarzustellen. Nur diese folgten aus dem Urgesetz des Logischen; daher erscheint es von Anfang an schwierig, woher noch ein weiteres Prinzip kommen soll.

So oft ich der Frage nachgedacht habe, ich vermag keine andre Erklärung zu finden, als daß der Zusammentritt des Unbestimmten und der Bestimmung selbst der »Grund« der im Weltall wie im Bewußtsein des Menschen sich offenbarenden Vernünftigkeit ist und bleiben soll, vielmehr unmittelbar selbst, dort wie hier, Vernunft, Weisheit, Erkenntnis, Leben und Beseelung bedeutet. Durch nichts andres als den Eintritt der Bestimmtheit der Zahl- und Maßverhältnisse, worauf schon 26 A Gesetz und Ordnung nicht nur in den Wissenschaften und in menschlicher Sittlichkeit, sondern auch im Weltgeschehen (z.B. die[328] Regelung der Jahreszeiten) zurückgeführt wurde, waltet in allem Vernunft und nicht Unvernunft, Grund und nicht Ungrund, Ordnung und nicht Unordnung. Diesen Gedankengang konnte man schon im Sophisten angedeutet finden; daß dem All Vernunft, Seele, Bewußtsein nicht fehlen könne, hieß schon dort nichts andres als daß die allseitige Durchdringung der Ideen, ihre wechselseitige und wechselnde Bezüglichkeit, in der alles Werden und konkrete Sein logisch beruht, wirklich stattfindet und kraft ihrer Leben, Seele und Erkenntnis möglich und wirklich ist.

Welches weitere Prinzip hier noch sollte gefunden werden, ist nicht abzusehen, wenn doch (nach 16 C) auf Unbestimmtheit und Bestimmung alles, wovon ein Sein ausgesagt wird, beruht. Hat man gemeint, es müsse wenigstens unter diesem vierten Prinzip etwas Dinghaftes, ein konkretes Sein, eine Substanz gedacht sein, so hat man vergessen, daß das konkrete Sein ganz allgemein erst Produkt der Bestimmung des Unbestimmten sein soll. Nun mag ein Leser, sogar ein Interpret das vergessen; daß aber der Entdecker dieser Einsicht, der auf sie ein so großes Gewicht legt, daß er sie in feierlichster Einführung als eine Offenbarung der Gottheit an unsere Altvordern darstellt, sie wenige Seiten später wieder vergessen haben sollte, ist auf jeden Fall eine gewagte Annahme.

Aber andrerseits muß doch zwischen dem dritten und vierten Prinzip irgend ein Unterschied angenommen werden. Worin dieser besteht, darauf führt am sichersten die Vergleichung der Aufstellungen im Philebus mit den früheren im Phaedo und im Staat.

Im Phaedo schienen anfangs als zwei mögliche Wege unterschieden zu werden: die Erklärung des Seins und Werdens durch den Grund des Guten oder des Seinsollenden, oder gleichbedeutend durch die waltende Vernunft, und die Rechenschaft über das Warum des Seins und Werdens rein aus der Teilhabe an der Idee, d.i. aus dem Grunde des Gesetzes; wo das Letztere annähernd dem Formalgrunde des Aristoteles, das Erstere dem Final- und zugleich wirkenden oder bewegenden Grunde, der Kraft im Unterschied vom Gesetz entspräche indessen die erstere Erklärungsart wollte PLATO nicht eigentlich vertreten. Es hieß nur: wenn ihm einer diese Erklärung zu geben vermöchte, so würde er sie mit Freuden annehmen und keine weitere vermissen (97 E); aber weder sei ihm bisher[329] geglückt sie selbst zu finden, noch sie von einem Andern zu lernen, und deshalb habe er sich auf den einzig sicheren Weg der Erklärung allein durch die Teilhabe an den Ideen zurückgezogen.

Im Staat aber tritt als Grund (aitia, 508 E, 517 B, vgl. pantôn aitios, 516 C) nicht bloß der Erkenntnis und Wahrheit, sondern auch des Seins (509 B) und, da vom Sein das Werden abhängt, schließlich auch des Letzteren (so bes. 517 C) die Idee des Guten auf. Diese bedeutet ohne Zweifel wieder, wie das Gute oder Seinsollende im Phaedo, die Final- oder bewegende Ursache, die »göttliche Kraft« (daimonia ischys, Phaedo 99 C). Auch die Gleichsetzung mit der Vernunft liegt nicht fern; denn wenngleich sie sich im Reiche der Vernunft zu dieser selbst und ihrem Objekt so – nämlich als Grund – verhalten soll wie im Sinnenreich die Sonne zum Sehen zugleich und zum Sichtbaren, so kann sie doch, eben als Grund aller Vernunft, nicht wohl selbst etwas andres als höchste Vernunft sein. Scheint also in jeder Weise das im Phaedo vergeblich Gesuchte hier, in der Idee des Guten, gefunden, so wird doch diese zugleich aufgestellt nicht bloß als Prinzip der Ideen, sondern selbst als Idee, das heißt nicht bloß als Prinzip alles Gesetzes, sondern selbst als Gesetz, welches schließlich nichts andres zum Inhalt haben kann als die Gesetzlichkeit selbst, als logischen, in aristotelischer Sprache Formalgrund alles Seins, aller Wahrheit. In letzter, deutlichster, ausdrücklich auf alle Metaphern verzichtender Erklärung aber ergab sich die Idee des Guten als identisch mit dem Prinzip des Logischen (autos ho logos), als die Voraussetzung aller Voraussetzungen, der methodisch nichts andres vorausgesetzt werden kann, weil sie nichts andres besagt als das letzte Gesetz aller Methode; wie sie denn auch weiterhin sich deutlich entfaltet als das einheitliche Prinzip der Methode in allen Wissenschaften. Also ist gewiß »Vernunft« der letzte Grund von allem, aber schließlich keine andre als die des Gesetzes der Wissenschaft.

Es ist nun gewiß aufs beste begründet, wenn man das Prinzip des Grundes im Philebus mit der »Idee des Guten« identifiziert. Aus dieser Identität folgt aber nichts weniger, als daß die bewegende von der formalen Ursache, die Kraft vom Gesetz verschieden sein müsse, sondern die einzig logische Konsequenz ist, daß als Grund in einem weitesten Sinne die Idee (das Gesetz) überhaupt, im Philebus vertreten durch[330] die Bestimmung des Unbestimmten, im engern Sinne aber die Idee der Idee (oder das Gesetz der Gesetzlichkeit selbst) zu verstehen ist. Dies allein kann also auch in dem vierten Prinzip gesucht werden, sofern diesem überhaupt eine eigne, von den drei andern klar unterschiedene Bedeutung zukommen soll.

Dadurch bestätigt sich aber nur das vorher ohne Rücksicht auf den Phaedo und den Staat gewonnene Ergebnis. Es kommt nur jetzt zu noch durchsichtigerer Klarheit: Grund ist allgemein das Gesetz oder die Bestimmung des Unbestimmten, nichts andres. Man kann nun verstehen: das Gesetz überhaupt, oder die besondern Gesetze, und je nachdem man dies meint oder jenes, fällt die Antwort auf die Frage nach dem Grunde des Werdens und Seins scheinbar verschieden, und doch im Kern der Sache ganz gleichsinnig aus. Der unmittelbare Grund des besondern Seins und Werdens ist das besondre Gesetz, d.i. der Eintritt dieser und dieser Bestimmtheit in diese und diese, durch die und die vorangegangenen Bestimmungen zurückgelassene Unbestimmtheit. Der allgemeine Grund aller besondern Gründe aber ist der Grund der Gesetzlichkeit überhaupt, der in Rücksicht auf die Urprinzipien des Unbestimmten und der Bestimmung nur bezeichnet werden könnte durch den Eintritt der Bestimmung in die Unbestimmtheit überhaupt, oder durch die ursprüngliche Korrelativität von Unbestimmtheit und Bestimmung.

Diese war nun von Anfang an aufgestellt worden als das Prinzip des Logischen überhaupt, sodaß wir in strengster Konsequenz beim »Logos selbst«, dem autos ho logos des Staats wieder anlangen. Dies heißt »Vernunft«, und wird zum schöpferischen Prinzip des Alls, zum Weltbildner, auf keinem andern logischen Wege als dem der Zurückleitung aller besondern Gesetze auf das Postulat der alles beherrschenden und bestimmenden Gesetzesordnung überhaupt. Diese Zurückleitung, die eben in der Idee des Alls und seiner, also allumspannenden, allwaltenden Gesetzlichkeit vollzogen wird, ist gewiß auch so und bleibt immer ein kühnes Wagnis. Aber doch will sie und kann sie nicht irgend ein neues Prinzip einführen, sondern drückt nur in Form eines universellen Postulats, mit dem, wie es ironisch genug heißt, »die Weisen sich selber verherrlichen« (28 C), dies aus: daß der Herrschaft der Weisheit, d.h. der Herrschaft von Gesetz und Bestimmung, sich nichts zu entziehen vermag, und dies selbst gesetzlich[331] bestimmt sein muß. Das Neue des vierten Prinzips liegt also einzig in dem Schritt von den logoi zu dem logos, von den besondern Gesetzen zu dem einen, universalen Gesetz der Gesetzlichkeit selbst, und der eben dadurch erst begründeten Idee des Universums des Seins und Werdens.

Sagt man also, die Idee des Guten, folglich auch das vierte Prinzip im Philebus bedeute für PLATO Zugleich die Gottheit, so kann man das, im Einklang mit der eben gegebenen Erklärung, in dem Sinne, aber auch nur in dem Sinne gelten lassen: daß PLATO Sich den Weltbildner Zeus der ihm überlieferten Religion nach den Prinzipien seiner Philosophie also deutet, und in dieser Personifikation dem einmal unbesieglichen poetischen Hang seiner Darstellung vielmehr als seiner philosophischen Denkweise nicht ungern nachgibt, ohne aber damit von dem streng logischen Sinn und der streng logischen Begründung seiner Aufstellungen auch nur das Geringste preisgeben zu wollen. Nicht die Idee des Guten wird Gott, sondern Gott wird die Idee des Guten. Daß dieser Gott etwas Dinghaftes, eine konkrete Substanz sein solle, dafür fehlt noch immer jeder Beweis, ja überhaupt jeder greifbare Anhalt. PLATO hat vor Metaphern keine Scheu; aber er unterscheidet stets, er hat gerade in Hinsicht der Idee des Guten im Staat sehr bestimmt unterschieden zwischen dem Gleichnis und seinem schlicht logischen Sinn. Ein solcher Fanatiker der Methode hätte doch irgend einmal in seinem Leben das Bedürfnis fühlen müssen, von diesem angeblich letzten Prinzip seiner Philosophie, der göttlichen Substanz, eine Art methodischer Rechenschaft oder irgend welche nüchterne begriffliche Erklärung zu geben, statt daß er von etwas dergleichen stets nur in Metaphern spricht, sobald aber die methodische Rechenschaft wieder in ihre Rechte tritt, nur von der Idee oder dem Bestimmenden, dem Prinzip des Logischen, mit einem Wort von Methode und wieder Methode und nichts als Methode zu sagen weiß. Für den Historiker der Philosophie dürfte es da doch wohl die gegebene Methode sein: über den Sinn jener Metaphern, wenn anders sie einen philosophischen Sinn haben sollen, die Entscheidung in der Philosophie PLATOS zu suchen und nicht in der des Buches XII der Metaphysik; in der Philosophie PLATOS und nicht in seiner aus der Orphik stammenden Mystik.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 327-332.
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