3. Die vier Prinzipien des Philebus und die obersten Gattungen des Sophisten.

[332] Es fordert schließlich noch die Frage unsre Aufmerksamkeit, wie sich die im Philebus aufgestellten vier Seinsprinzipien (so nannten wir sie, in Ermangelung einer besseren Bezeichnung) zu den fünf »höchsten Gattungen« des Seins verhalten, von denen im Sophisten die Rede war. Zwischen beiden Aufstellungen einen logischen Zusammenhang zu vermuten liegt gewiß nahe, da beide ganz allgemein das Sein, alles was ist, betreffen und zwar eine oberste Arteinteilung des Seins geben wollen, auch beide gleichermaßen Arten oder Gattungen, eidê oder ginê, genannt werden (zwei Ausdrücke, zwischen denen PLATO, wo es sich um Einteilung handelt, keinerlei Unterschied macht); und zwar Gattungen des Seins Soph. 260 A, Phileb. 23 CD). Es ist daher weit weniger auffallend, daß PLUTARCH (De E I apud Delphos 15, cf. De defect. orac. 34) eine solche Beziehung herzustellen sucht (welche neuerlich J. LACHELIER, Rev. de Métaph. et de Mor. X 218 zu rechtfertigen unternommen hat), als daß man sonst an dieser Frage meist mit völligem Stillschweigen vorbeigegangen ist.

Indessen ist jedenfalls PLUTARCHS Annahme unhaltbar. Nach dieser soll dem Unbestimmten die Gattung der Veränderung, der Bestimmung die der Beharrung, dem Produkt aus beiden das Sein, dem Grunde ihrer Verbindung die Identität, der Ursache der Scheidung (23 D) die Verschiedenheit oder das Nichtsein entsprechen.

Zunächst ist das fünfte Prinzip an der einzigen Stelle, die davon redet, gänzlich problematisch gelassen, weit eher abgelehnt als angenommen; nachher aber ist wiederholt von »den« vieren gesprochen, ohne die mindeste Andeutung, daß nach einem fünften noch zu suchen sei (27 B, 30 A). Damit wird die ganze Hypothese einer beabsichtigten Entsprechung von vornherein fraglich, da von den fünf Gattungen des Sophisten jedenfalls keine entbehrt werden kann. Es sieht jene Bemerkung vielmehr ganz danach aus, als ob PLATO sich die Frage, ob etwa die Scheidung noch eines eignen Prinzips bedürfe, zwar vorgelegt, aber sich gegen seine Annahme entschieden habe. Auch läßt sich der Grund dafür leicht erkennen. Wenn nämlich überhaupt nur die Vereinigung von Unbestimmtheit und Bestimmung ein Sein zuwege bringt, so könnte die Scheidung beider nur jenes absolute Nichtsein zur Folge haben, welches[333] es nach den klaren Beweisen des Parmenides und des Sophisten gar nicht gibt, welches überhaupt keines Begriffs fähig ist. Um das »Nichtsein« des Sophisten kann es sich hier gar nicht handeln. Dieses vertrat nur das verneinende Urteil, die Auseinanderhaltung zweier gleich sehr positiver, »seiender« Bestimmtheiten, während hier die Frage ist nach der Scheidung des Unbestimmten und seiner Bestimmung. Diese Scheidung würde nichts geringeres als die Zerreißung der ursprünglichen Relation des Prädikats zum Subjekt des Urteils, damit aber die Vernichtung jedes Sinns der Aussage überhaupt bedeuten. PLUTARCH hat also beide, den Sophisten und den Philebus schlecht begriffen, wenn er hier an eine Gleichsetzung überhaupt nur denken kann.

Ebenso wenig läßt sich der Grund der Vereinigung von Bestimmung und Unbestimmtheit der Gattung der Identität vergleichen. Identität ist ein Merkmal, das überhaupt jedem bestimmten Begriff zukommt, und zwar besagt sie eine Relation so gut wie die Verschiedenheit (nämlich zu sich selbst). Wie das auf den »Grund« des Philebus zuträfe, ist unerfindlich. Umgekehrt würde nichts, was von diesem ausgesagt wird, sich auf die Gattung der Identität übertragen lassen. PLUTARCH hat wohl im Sinne gehabt, daß allgemein Identität und Verschiedenheit sich verhalten wie Verbindung und Trennung. Er übersieht aber ganz, daß im Philebus nicht von Verbindung und Trennung überhaupt, als den beiden Grundarten des Urteils, Bejahung und Verneinung, sondern von Verbindung und Trennung des Unbestimmten und der Bestimmung die Rede ist; wo dann die erstere vielmehr das Urteil überhaupt möglich macht, die letztere es ganz und gar unmöglich machen würde, also selbst logisch unmöglich ist.

Viel eher könnte man daran denken, die Identität der Bestimmtheit, die Verschiedenheit der Unbestimmtheit entsprechen zu lassen, wie SCHLEIERMACHER und mehrere andere Forscher versucht haben. Dazu konnte besonders Phil. 25 E verleiten, wonach die Bestimmtheit der Gegensätzlichkeit und Verschiedenheit ein Ende macht. Allerdings soll (nach Phil. 24 D) die Bestimmtheit auch wiederum die Beharrung, die Unbestimmtheit die Veränderung vertreten. Aber das ließe sich etwa so zusammenreimen, daß diese zwei Prinzipien des Philebus den vieren des Sophisten (ohne das Sein) entsprächen; zumal[334] Beharrung und Veränderung wirklich nichts ist als Identität und Verschiedenheit mit hinzukommender Zeitbeziehung.

Indessen auch so will sich keine völlige Übereinstimmung herausstellen. Läßt man auch gelten, daß in Stillstand und Bewegung (Phil. 24 D) die Zeitbeziehung liege (worüber oben S. 323 gehandelt ist), so bleibt doch dieser Anstoß: Identität und Verschiedenheit, Beharrung und Wechsel bedeuten, so wie sie im Sophisten verstanden werden, sämtlich Bestimmtheiten, und keineswegs wollen Verschiedenheit und Veränderung dort Unbestimmtheiten besagen. Von der Verschiedenheit wird ja ausführlich bewiesen, daß sie das Anderssein, das bestimmte Zweierlei besagt; und die Veränderung wäre dem entsprechend zu erklären als das bestimmte Zweierlei im Nacheinander. Die bestimmte Zahl aber, also auch das bestimmte Zweierlei, das bestimmte Anderssein im Nacheinander, das alles fiele nach dem Ansatz der Begriffe im Philebus zweifellos unter das Prinzip der Bestimmtheit und keineswegs des Unbestimmten. Im Sophisten handelt es sich, mit andern Worten, um den Gegensatz von Einheit und bestimmter Vielheit, im Philebus um den von bestimmter Setzung überhaupt, sei es des Einen oder einer bestimmten Zahl, und der Unbestimmtheit, gemäß dem im Parmenides aufgestellten Begriff der »Mannigfaltigkeit ohne Einheit«, der im Sophisten gar nicht vorkommt.

Und so läßt sich endlich beim Sein, trotz des gleichen Namens, die Identifikation nicht durchführen. Im Sophisten meint das Sein die Setzung überhaupt, darum trat dieser Begriff schlechterdings als oberster, der alle andern überhaupt erst möglich macht, an die Spitze. Mit größtem Nachdruck wurde ausgesprochen, daß nicht irgend welche andern, zumal unter sich kontradiktorischen Begriffe, z.B. auch nicht die der Beharrung und Veränderung, ihm vorausgehen können (Soph. 250 A – C). Dagegen resultiert das Sein im Philebus erst aus der Bestimmung des Unbestimmten, hat also diese beiden, die nach PLUTARCH der Beharrung und Veränderung entsprechen sollten, zur Voraussetzung. Es kann von den beiden letztern daher nicht, wie ausdrücklich im Sophisten von Beharrung und Veränderung, gesagt werden, daß sie beide sind, da vielmehr ihr Zusammentritt erst ein Sein zuwege bringt. Auch der »Grund« ist für dies Sein (wie schon das Wort »Grund« besagt) bereits Voraussetzung. Denn es bedeutet das konkrete Sein,[335] die durch die Bestimmtheit nach Zahl, Maß und Gesetz zustande gebrachte, entstandene Wirklichkeit, die Existenz, und nicht, wie das Sein des Sophisten, die Setzung überhaupt. Dies weit bestimmtere Problem, auf welches somit überhaupt die vier Prinzipien des Philebus zielen: das Problem des Daseins, kam im Sophisten gar nicht in Frage.

Läßt sich also eine Entsprechung, wie sie PLUTARCH suchte, einfach deswegen nicht durchführen, weil überhaupt die Absicht der beiderseitigen Aufstellungen weit verschieden ist, so sind wir dadurch doch noch nicht der Verpflichtung enthoben, das Verhältnis und den nun einmal unabweislichen logischen Zusammenhang beider positiv zu bestimmen. Beide gehen aus vom Grundgesetz des Urteilens, der »Einheit des Mannigfaltigen« im Sinne der Verknüpfbarkeit der Denkbestimmungen, worin ja überhaupt alle Möglichkeit, aller logische Sinn der Aussage, alle Bedeutung der Idee beruht (Phil. 14-16, Soph. 251 B, 253 D). Aber der Sophist faßt bloß die möglichen Prädikate selbst (die Ideen) und die unter diesen möglichen Beziehungen (der Verknüpfung oder Sonderung) ins Auge, ohne das Verhältnis der Prädikate zum letzten Subjekt alles Urteils, d.i. dem letzten zu Bestimmenden = x, einer eignen Untersuchung zu unterziehen. Daher tritt hier das Unbestimmte, die unbestimmte Mannigfaltigkeit gar nicht auf, darf gar nicht auftreten, sondern alles, wovon überhaupt die Rede ist, alle jene »Gattungen des Seins« gehören, als Ideen, zum Gebiete der Bestimmtheit, des peras. Und zwar entspricht der Bestimmung überhaupt das Sein (die bestimmte Setzung) überhaupt, die obersten Arten der Bestimmung aber sind Identität und Verschiedenheit, Beharrung und Veränderung. Im Philebus dagegen handelt es sich um das Verhältnis der Bestimmung zum Unbestimmten, der A, B u.s.f. zum x der Erkenntnis. Es werden daher zuerst diese beiden Faktoren selbst, so sehr von Anfang an ihre unaufhebliche Korrelativität betont wurde, doch als zwei begrifflich auseinandergehalten; eben darum ferner ihr Zusammentritt als ein Neues, im Grunde nur eine neue Stufe der logischen Reflexion aufgestellt; endlich noch nach dem allgemeinen Grunde dieses Zusammentritts gefragt; zu welchen Unterscheidungen allen im Sophisten darum keine Veranlassung war, weil hier das x der Erkenntnis überhaupt nicht in Frage stand, sondern es sich bloß um die eigentlichen »Buchstaben« des Seins, die A, B u.s.f. und deren mögliche Beziehungen handelte.[336]

Zu beiden, somit in der ganzen Richtung verschiedenen Betrachtungsarten aber war der Grund im Parmenides gelegt. Es bestätigt sich also, was zu Anfang gesagt wurde, daß beide Dialoge, der Sophist und der Philebus, die neuen Aufstellungen des Parmenides, jedoch nach verschiedenen Seiten, entwickeln. Der Sophist behandelt das einfachere Problem, absolviert es vielleicht vollständiger, aber verbleibt sehr in der Höhe der Abstraktion. Der Philebus nähert sich, indem er die Frage der besonderen Existenz aufwirft und scharf ins Auge faßt, der Aufgabe einer logischen Grundlegung zur Physik, und bildet dadurch den natürlichen Übergang zum Timaeus.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 332-337.
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