Zu Kapitel I.

[514] Wer war SOKRATES? Die Frage will nicht zur Ruhe kommen. Schroffer als je stehen heute die Entscheidungen gerade der gründlichsten Forscher gegeneinander. Den Einen bedeutet SOKRATES nach wie vor die Wende der griechischen Philosophie, die sie erst zu ihrer Höhe geführt hat; den Vorausweis auf PLATO, auf ARISTOTELES, auf die Stoa, auf KANT, fast auf alles, was seit ihm die Menschheit der Philosophie verdankt. Die Andern preisen es als rettende Tat, daß man sie von dem ihnen unheimlichen und störenden Bilde des Philosophen SOKRATES endgültig befreit habe. Sie sind es ganz zufrieden, daß von allem, was seit PLATO Philosophie heißt, nichts, weder Logisches noch Ethisches noch Psychologisches oder sonst etwas, dem SOKRATES verbleibt; daß man fortan gar nichts mehr in ihm zu sehen hat als einen allenfalls ernsteren, ehrlicheren »Sophisten«, das ist Virtuosen der Disputierkunst und Erreger der Jugend, den erst ganz zuletzt ein tragisches Schicksal zu einer menschlichen Größe emporgehoben habe, von der bis dahin offenbar keiner etwas in ihm bemerkt hatte.

Es ist nicht möglich zwischen diesen wie Tag und Nacht gegeneinanderstehenden Auffassungen in einer kurzen Anmerkung eine Entscheidung zu treffen, wie sie den Forderungen historischer Kritik genügen dürfte. In einer Untersuchung über PLATO ist aber am Ende auch gar nichts weiter erforderlich oder möglich als, die Gestalt des SOKRATES ganz so hinzunehmen, wie PLATO sie gezeichnet hat. PLATO aber kennt nur einen SOKRATES, in dem, so wie in ihm selbst, der Trieb nach Wahrheit und nichts als Wahrheit bestimmender Grundzug nicht des Philosophierens allein, sondern des ganzen Lebens und Seins, in dessen Philosophie, daher wie in seinem Leben, und zwischen diesen beiden, nirgends ein Riß klaffte, sondern ganz jene dorische, also althellenische »Harmonie« des Lebens und der Tat mit dem Logos sich darstellte, die LACHES (in PLATOS Laches, 188) an ihm rühmt. Gegen solche »Wesensschau« sträubt sich zwar die »wissenschaftliche« das heißt zerstückende und aus[514] den Stücken wieder zusammenstückende »Historie«, wie sie in den letzten fünfzig Jahren so gut wie alleinherrschend gewesen ist. Aber es will uns bedünken, als ob diese Episode nun zu Ende gehe. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert; wir möchten uns überhaupt abgewöhnen, als Kinder bloß eines oder einiger Jahrhunderte leben zu wollen. Wir alle, auch die es nicht Wort haben wollen, die sich vielleicht heilig dagegen verwahren würden, sind doch viel zu sehr Platoniker, um in den Zeitkoordinaten, sei es der Natur- oder Geschichtswissenschaft, etwas mehr zu sehen als eben Koordinaten; während »Wesen« zwar nur durch das »Gitter« der Zeit (platonisch zu reden), an sich aber in lebendiger Freiheit jenseits solches Gitters zu erschauen ist. Der Mensch von heute will, eben wie SOKRATES, wie PLATO, Wahrheit, nämlich Wesens- nicht Zeitwahrheit; er vermag nicht länger anders als in und aus solcher zu leben; denn er ist durch schmerzliche Erfahrungen darüber belehrt, daß ein Leben anders als aus diesem einzigen Lebensquell gar kein Leben ist, sondern nur, um jeden Keim echten Lebens desto sicherer zu ersticken, es vorzutäuschen sucht.

Indem ich, aus solcher Rücksicht, mich nach wie vor an die platonische »Wesensschau« des SOKRATES nur einfach zu halten vermag, finde ich an meiner früheren Zeichnung des SOKRATES nichts Wesentliches zu ändern, sondern allenfalls nur die immer schon von mir hervorgehobenen, nicht irrationalistischen, aber doch auch nicht im gemeinen Sinne »rationalistischen« Züge noch um einen Grad schärfer zu betonen. SOKRATES ist, wie wir mit PLATOS Augen ihn sehen, nicht »Rationalist« im heute regelmäßig verstandenen Sinne ausschließlicher Anerkennung der endlichen Ratio; aber ebensowenig Irrationalist in einem Sinne, der irgend etwas von Verwerfung oder ausschließlich negativer Bewertung der endlichen Ratio einschließt. Sondern er verbleibt von Anfang bis zuletzt ganz auf dem Boden der Ratio, in der zweifachen Hinsicht: einerseits das Recht der endlichen Ratio in den durch die Ratio selbst bestimmten und feststellbaren Grenzen nicht nur anzuerkennen, sondern bis zum letzten, bis eben zu diesen Grenzen, erst voll zur Geltung zu bringen; andrerseits jeden darüber hinausgreifenden Anspruch der endlichen Ratio, jede Anmaßung unbedingter, überendlicher Geltung zurückzuweisen; menschliche Erkenntnis streng in die Grenzen der Menschheit einzuschließen, in eben dieser Begrenzung selbst aber, und über sie hinaus,[515] die überragende Geltung des Unbedingten, »Göttlichen« in vertrauender Hingabe anzuerkennen und sich in stolzer Demut ihr, aber ihr allein, zu beugen.

Demnach kann von irgendeiner Verneinung oder auch nur Bezweiflung der Forderungen der Ratio, des Logos, bei SOKRATES so wenig wie bei PLATO die Rede sein. Aber gerade in der restlosen Erfüllung, in der Absicht wenigstens einer reinen Durchführung der Logisierung bis zum letzten, was dem Menschen erreichbar ist, stoßen beide an die Grenze, von der aus das, was über sie hinaus liegt – das platonische Epekeina – sichtbar und, so wie es überhaupt nur der endlichen Ratio erfaßlich ist, nämlich als das in sich für sie Unerfaßliche, das gleichwohl ist, erfaßt wird. Beide sind echte Rationalisten gerade als Kritiker der endlichen Ratio; beide wissen, so gut wie KANT, daß die Grenzen der Vernunft niemand anders als die Vernunft selbst zu bestimmen, nicht durch irgend eine andre Instanz sich bestimmen zu lassen hat; daß die endliche Ratio sich in nichts anderem begrenzen kann als in einem überendlich Rationalen, welches nur dem, der im Bereiche der endlichen Ratio stehen bleibt, widerrational erscheint. Damit aber ergibt sich zugleich, daß zwischen dem Philosophen und dem tragischen Menschen SOKRATES keinerlei Widerspruch klafft, sondern ebensosehr sein Leben und Sterben die beste Rechtfertigung seiner Philosophie, wie diese die seines Lebens und Sterbens ist. Läßt man dies – ich weiß nicht auf welche etwa verläßlichere Grundlage gestützt – für den »historischen« SOKRATES nicht gelten, so wird man es doch gelten lassen müssen für die platonische Wesensschau von SOKRATES. Im echten Sinne historisch ist aber am Ende nur, was im Gesamtgange der Geschichte sich entscheidend wirksam bewiesen hat; geschichtlich wirksam aber ist und war allzeit der SOKRATES PLATOS und kein andrer.

Sucht man nun, unter solchen Voraussetzungen, die Hauptsätze der Sokratik, wie sie aus PLATO hervorgehen, sich klar zu machen, so erkennt man alsbald in dem Kernsatze vom »Wissen des Nichtwissens« nur den kurzen Ausdruck der kritischen Grundeinstellung der sokratischen Philosophie als ganzer. Es liegt darin, nach PLATOS Auffassung wie nach der Wahrheit der Sache, nichts von skeptischer Zersetzung der Lebenssubstanz. Vielmehr gerade, indem auf ein absolutes Wissen, das menschlicher Vernunft erreichbar und von Menschen auf Menschen durch Lehre übertragbar wäre, bewußt und ganz verzichtet[516] wird, sieht sich der Mensch für seine entscheidende Lebensgestaltung, als Einzelner wie in der Menschengemeinschaft, vor allem im Staat, auf die Leitung der Gottheit, als der allein wissenden, verwiesen, deren für seine Person SOKRATES in dem, was er sein Daimonion nennt, ein für allemal gewiß ist, auf die er aber auch die bestehenden Ordnungen der Sitte und des Rechts, wie überhaupt alles, was die Substanz der bodenständigen Kultur ausmacht, zurückführt. Daher darf PLATO behaupten, daß, gerade in der vollen Erkenntnis und Innehaltung der »Grenzen der Menschheit«, SOKRATES ein Gottgläubiger und Gottgetreuer gewesen sei, so gut und besser als die, die ihn der Gottlosigkeit beschuldigten. Gibt man nicht zu, daß es der »historischen« Wahrheit so entspreche, so hat man es doch PLATO zu glauben, daß er so geglaubt, und darin die Rechtfertigung des SOKRATES gesehen hat nicht nur gegen die damaligen, zeitbedingten Anklagen, sondern auch vor dem Gericht der Nachwelt. Verneint wird durch die »docta ignorantia« des SOKRATES nichts, als was in sich schon verneinend ist: der unbedingte Geltungsanspruch der gemeinen, endlich bedingten Ratio; während alles Positive der Ratio nicht bloß anerkannt, sondern erst voll gerechtfertigt und fruchtbar entwickelt wird. Das »Wissen des Nichtwissens« ist vor allem selbst rechtschaffenes Wissen, zunächst um den Sinn und die allgemein bedingenden Grundlagen des Wissens überhaupt, kantisch gesprochen, um seine »Möglichkeit«. Nebensächlich ist hierbei, wie weit schon SOKRATES dies entwickelt und damit den Grund zur platonisch-aristotelischen, das heißt, zu der bis heute gültigen »Logik« gelegt hat; genug daß von der sokratischen Fragestellung aus, wesentlich durch PLATO, die neue Wissenschaft der Logik entdeckt worden ist. Das Zweite ist, daß die der Sache nach längst feststehende Herrschaft des Logos im ganzen endlichen Bereich, dem Bereiche empirisch-technisch erprobbaren Wissens, im Bereiche des Bedingten und nur bedingt Bedingenden (KANTS »Erfahrung«) nicht bloß unbestritten bleibt, sondern, als Voraussetzung schon der ganzen Fragestellung, mit Nachdruck bejaht wird. Denn stets ist für SOKRATES dies der Ausgangspunkt aller kritischen Erwägung, daß im ganzen Bereiche des Erfahrbaren, vom schlichtesten Handwerk bis zur gründlichsten Wissenschaft, überhaupt in allem lebensdienlichen Wirken und Schaffen, die Geltung der Ratio unbestritten und unbestreitbar, logisch wohlbewährtes,[517] obzwar bedingtes Wissen Voraussetzung jeder reellen Leistung, sicherer Grund der Arete nicht des Menschen allein, sondern jedes rechtschaffenen Werks ist. Da kann die Ratio unangefochten walten, weil sie hier ganz auf dem ihr gemäßen Boden in der Probe bewährter und immer neu sich bewährender Leistung verbleibt. Sie ist auf diesem Felde zwar nur bedingt bedingend, aber, da nach nichts als Bedingtheiten soweit die Frage ist, leistet sie hier ganz, was von ihr verlangt wird. Ob schon SOKRATES, oder erst PLATO, von hier aus weiter dahin fortgeschritten ist, den gleichermaßen nur bedingt bedingenden Sinn des Mathematischen zu erkennen, mag unentschieden bleiben. Ich würde kein Bedenken tragen es anzunehmen, weil durch die westgriechische, namentlich pythagoreische Mathematik diese Einsicht ebenso vorbereitet und angebahnt war, wie das Eidos und das hypothetische Verfahren in der ostgriechischen, besonders medizinischen Wissenschaft längst praktisch einheimisch war, ehe die Logik PLATOS diese selbst und als solche in eigene Untersuchung nahm.51 Aber kein Zweifel ist ja, daß im Mittelpunkt der Untersuchung für SOKRATES vielmehr die Frage nach dem Agathon, Kalon, Dikaion der Handlung stand. Da aber beweist sich erst recht die gediegene Positivität der sokratischen Wissenskritik in der strengen Scheidung der Frage des letztbestimmenden, unbedingten Zwecks von jeder, sei es im sensualen Bereich des Luststrebens und der Unlustmeidung, oder im nur verständigen der bloßen Mittelkausalität verbleibenden Erwägung. Soll und muß die letztere empirisch bleiben, so muß doch diese (praktische) Empirie selbst bis aufs letzte durchdrungen und beherrscht sein von jener zwar bedingenden, aber nur bedingt bedingenden Ratio, durch die allein Empirie selbst möglich ist. Dagegen enthüllt sich jetzt, in der in aller Schärfe herausgearbeiteten Kritik an jeder in solchem Sinne »rationalen« Begründung des letztbestimmenden Zwecks des rein Sittlichen, erst die gediegenste Positivität des sokratischen Nichtwissens, nämlich die der Forderung des unbedingt Bedingenden: der Logizität des reinen Sollens. Damit ist nichts geringeres, vielleicht nicht voll erreicht, aber zwingend gefordert, als die Transzendenz des Guten, die sich jedenfalls bei PLATO in ganz stetigem Übergang von hier aus Stufe um Stufe reiner herausgestaltet, um in dem Epekeina, der »Idee des Guten«,[518] endlich ganz unverhüllt hervorzutreten. Damit aber ist die Grenze berührt, in welcher, ganz sprung- und streitlos, nicht an einen Bereich des Logos ein solcher des Alogischen, wohl aber an den des nur bedingt Logischen ein solcher des unbedingt Logischen (nur Überempirischen) sich anschließt. Nicht die Rolle der Ratio überhaupt, aber die der endlichen Ratio ist damit ausgespielt. Nichts aber von dem, was sie Positives zu leisten hatte, wird damit wieder in Frage gestellt, sondern nur der falsche Anspruch der Unbedingtheit solcher Leistung zurückgewiesen. Eben damit aber erfüllt sich nun auch die niedere Welt des endlich Erfahrbaren mit dem Leben und der Kraft des Überendlichen, Übererfahrbaren. Jeder menschenwürdige Beruf darf sich, so wie der hohe Beruf des Philosophen SOKRATES, als des unerbittlichen Mahners und Treibers zum Wahren und Guten, »göttlicher« Leitung erfreuen und über die Niederung bloß menschlich-irdischer Mittelkausalität zur freien Höhe des unbedingten Waltens der Vernunft und vernunftbegründeten reinen Sollens emporgehoben wissen. Aus so tiefer Quelle fließt der unerschütterliche, bis in den Tod bewährte Glaube des SOKRATES an den göttlichen Auftrag, in dem er das schwere und lebensgefährliche Amt des Menschenprüfers und Erweckers ausübt; seine Ausübung ist ihm Gottesdienst, Dienst an Gottes Menschheit, dem er Treue schuldet nicht minder sondern Im Streitfall unbedingt mehr als den Forderungen der irdischen Gebieter und Richter. Nicht als ob er damit diesen den Dienst aufkündigte; sind sie doch selbst gottgewollt, das freilich schwächere Abbild des allein unbedingten Gesetzes und Gerichtes des ewig Guten und Rechten. Darum lautet das letzte Wort, mit dem SOKRATES das wohlmeinende Ansinnen des treuen KRITON, sich aus dem Kerker erretten zu lassen, zurückweist: »So laß denn, lieber KRITON, und tun wir also, da dahin der Gott die Leitung gibt«.

Alle hiermit noch nicht beantworteten, den Sinn der Sokratik und ihre Abgrenzung gegen den Platonismus betreffenden Einzelfragen dürfen gegen die grundlegende Feststellung der entscheidenden Gesamtrichtung der ersteren zurückstehen. Ihre Beantwortung würde eine eigene, ganz erneute Untersuchung fordern, die, als unerläßliche Grundlage einer neuen PLATOdarstellung, künftiger Bearbeitung vorbehalten bleibt.

2) Das Gute und die Lust im Protagoras. (Zu S. 18.) – Der Sinn und die Absicht der entscheidenden Beweisführung[519] des SOKRATES gegen PROTAGORAS (Prot. 351 ff.) ist noch immer Gegenstand des Streites. Die ganze Stellung PLATOS zu den Begriffen des Guten und der Lust bedarf der Neuuntersuchung. Diese wird, glaube ich, ergeben, daß diese Stellung nicht so schwankend und wechselnd gewesen ist, wie sie zunächst erscheint; daß sie vielmehr von den ersten Schriften bis zu den letzten im wesentlichen dieselbe geblieben, nur zu immer größerer Sicherheit und Bestimmtheit gediehen ist Um sich davon zu überzeugen, hat man vor allem darauf zu achten, daß die Termini hêdy und hêdonê keineswegs eindeutig sind, sondern, ähnlich wie der Terminus doxa, eine ganze Stufenreihe von Bedeutungen durchläuft. Êdonê (und entsprechend lypê) bedeutet zuerst das unmittelbare, schlechthin augenblickliche, subjektive Lust- (Unlust-) Empfinden; weiterhin jede (auch vielfach vermittelte) Befriedigung; zuhöchst etwas wie »Seligkeit«, reine, durchaus positive, alle Verneinung ausschließende, damit rein »seiende«, »wahrhafte«, »echte« (St. 587 B), unbedingt ihrer selbst gewisse, nichts ferner missende oder bedürfende Stillung alles Verlangens. Die »Lust« erster Art ist schlechthin material, in sich bestimmungslos, schwebend, diesseits aller eindeutigen Bejahung und Verneinung, Wahrheit und Falschheit, Ruhe und Bewegung; so wie die Aisthesis nach der tiefen Untersuchung im »Theaetet«, welche sie überhaupt ganz in sich begreift. Die »Lust« zweiter Art hat, wie die Doxa, ihren Sitz im Mittelbereich des Bedingten oder nur bedingt Bedingenden, daher der unendlichen, stufenmäßigen Fortschreitung von Bestimmung zu relativ reinerer aber nie absoluter Bestimmung, daher der Messung und durch sie ebenso bedingten gesetzlichen Ordnung und Logisierung (St. 587 A logou – nomou – taxeôs, vgl. Gorg Phileb. etc.), also Formung doch nie reiner Geformtheit. Die »Lust« dritter Art steht dagegen in genauer Beziehung zur Reinheit, Wesenhaftigkeit, zum unbedingten Jasinn der Idee, es ist genau die Reinheitsstufe der »Lust«, die allen Sinn des bloß Materialen oder aus Materie und Form Gemischten und damit nur Phänomenalen abstreift, reine Durchgeformtheit einschließt (so bes. Staat 582 ff.). Die letztere deckt sich mit der eudaimonia, die bei PLATO durchaus bewußt (s. Tim. 90 C) an das Dämonische also Göttliche im Menschen erinnern will, aber damit aus dem Umfang des Begriffs der hêdonê so wenig herausfällt, daß im Staat (587) sogar ausgerechnet wird, wievielmal mehr sie »Lust« ist als die gemeine sinnliche. Dagegen entspricht[520] diese der Stufe des Tieres (St. 586 A, vgl. Phil. 67 B), während die Lust zweiter Art im gemeinmenschlichen Bereich (oberhalb des Tierischen, unterhalb des Göttlichen) recht eigentlich ihren Sitz hat.

Hält man sich diesen dreifachen Sinn der hêdonê stets gegenwärtig, und sucht man dann aus dem jedesmaligen Zusammenhang zu erkennen, von welcher hêdonê die Rede ist, so wird man wesentliche Widersprüche nicht finden; sondern es tritt nur jeweils eine oder eine andre Seite des durch diesen dreifachen Sinn der hêdonê komplizierten Problems in den Vordergrund.

Auf die Parallelität der Stufen der Lust mit denen der Erkenntnis sei in aller Kürze noch hingewiesen. Die Lust des Augenblicks in ihrer reinen Unmittelbarkeit liegt, nicht nur wie die Aisthesis nach dem Theaetet, sondern als selbst ein Moment der Aisthesis, eigentlich noch ganz diesseits von Wahr und Falsch, ist aber, eben als solche, der unentbehrliche Erreger und materiale Bestimmungsgrund alles Bestrebens. Wie dagegen die Doxa stets unter der Frage nach Wahr und Falsch steht, immer gleichsam mit doppeltem Vorzeichen (±) gelesen sein will, aber ebendamit in der Verflechtung des Ja und Nein, in der Relativität des Prozesses, der kinêsis stehen bleibt und so dem Wahrheitsverlangen keine Befriedigung verstattet, so die Lust der zweiten Art, die darum auch durchaus unter die Entscheidungsmittel der doxa (St. 602 f.): Messen, Zählen, Wägen fällt. (Daß die zweite Art der Lust im Staat B. IX die des thymoeides sein soll, erklärt sich daraus, daß der thymos die aktive Seite des Trieblebens, wie die epithymia die passive, bezeichnet; er ist, wie die Doxa, positiv gerichtet, aber ebendamit im beständigen Kampf gegen die herabziehende weil in sich träge epithymia. Daher steht sie auch durchweg bei PLATO in wesentlicher Beziehung zur [alêthês] doxa.) Ganz über dem Bereiche der kinêsis liegt die letztzentrale, im letzten Zentrum ruhende Erkenntnis der Idee, der eine ebenso letztzentrale, ruhende Befriedigung, Stillung, in der alles Verlangen schweigt – die Eudämonie als höchste Stufe, eigentlich wohl schon transzendente, selbst nur ideale Grenze der hêdonê – entspricht (so St. 583 f. hêsychia gegen kinêsis. Vgl. Prot 356 DE).

Tritt man nach solcher Vororientierung nun an den Beweisgang im Protagoras heran, so erkennt man sofort, daß die ersten Schritte dieser Gedankenentwicklung in aller Deutlichkeit schon hier vorliegen. Die Absicht der entscheidenden Beweisführung[521] (von 361 B ab) ist ersichtlich, den PROTAGORAS zur Anerkenntnis einer letzten, absoluten Erkenntnisinstanz zu bringen; gegen die sich sein Relativismus durchaus sträubt. Begreiflich, denn die Voraussetzung eines solchen absoluten Einheitsgrundes ist der letzte Sinn der sokratischen Behauptung des Nichtwissens und der Nichtlehrbarkeit der Tugend, wogegen des PROTAGORAS Behauptung ihrer Lehrbarkeit die Folge des Stehenbleibens im Bereiche der Relativität ist. Denn sie bedeutet ihm Übertragbarkeit vom Einen auf den Andern von außen her, auf dem Wege äußerer Einwirkung des jedesmal Lehrenden auf den Lernenden in gegebener Lage. Das hat natürlich wohl sein bedingtes Recht. Die Zustimmung des SOKRATES zur Rede des PROTAGORAS (328 DE) braucht darum, so viel Ironie sie einschließt, doch nicht ganz erheuchelt zu sein, sie schließt einen Grad wirklicher Achtung ein. Es gibt ohne Zweifel das, wovon PROTAGORAS spricht, nur ist es nicht das Ganze und nicht das Entscheidende, und das »Geringe«, was SOKRATES noch Gedanken macht, keineswegs etwas Geringes, sondern gerade der Kern der ganzen Frage. Die ganze folgende Auseinandersetzung zielt auf nichts andres als den Einheitsgrund der Erkenntnis und damit des Agathon. Sie droht, nach den ersten Anläufen, welche die beiden Gegner einander beträchtlich zu nähern schienen, beim ersten zentralen Vorstoß des SOKRATES daran zu scheitern, daß eben der Relativismus des PROTAGORAS die Anerkennung eines Einheitssinnes des »Guten« durchaus unmöglich macht (344 A ff.). Das Gute ist ihm ein »buntes, vielgestaltiges«, weil eben ganz und gar relatives Ding. Da scheint eine Verständigung ausgeschlossen; die Verhandlung muß vorläufig abgebrochen werden, um, nachdem sie mühsam wieder in Gang gebracht ist, ungefähr an dem Punkte wieder aufgenommen zu werden, wo sie abgebrochen war.

SOKRATES geht nun so vor, daß er zunächst den Gegner selbst nötigt, sich auf den letzten Grund, auf dem, ohne daß er sich dessen bewußt war, doch wirklich alle seine Behauptungen fußten, zu besinnen. Welches war dieser? – Ein jeder will doch leben, und wohlleben, und sein Leben erhalten, (sôtêria tou biou, im Folgenden wiederholt, bes. 356 D – 357 A, wie in der großen Rede, von 320 E ab, fort und fort), natürlich lustvoll, oder mit einem Mindestmaß von Unlust. Also jeder will zuletzt: Lust, Befriedigung, und sieht in ihr nicht bloß ein, sondern das Gute. Zwar spielt dabei auch Erkenntnis[522] eine Rolle. Aber diese ist weit verschieden von dem, was SOKRATES darunter denkt. Sie ist erstens durchaus nur dienend, nicht herrschend; das trat besonders in der großen Rede des PROTAGORAS kraß hervor; dienend nämlich dem allbeherrschenden Lebens- und zuletzt Lusttrieb. Sie beruht zweitens nicht auf innerer, somit freier Einsicht, sondern steht durchaus unter dem Zwang eben der Lust und Unlust, daher die Erziehung zu ihr durchaus mit den äußeren Mitteln des Lobs und Tadels, des Lohnes und der Strafe, allgemein eines unablässig nötigenden Zwanges (327 D) arbeitet. Darin liegt durchaus, eingestanden oder nicht, die Voraussetzung: Lust ist nicht bloß etwas Gutes, sondern das (unbedingt und ursprünglich) Gute.

Weshalb denn sträubt sich PROTAGORAS dies anzuerkennen und muß erst mit gelindem Zwang dahin gebracht werden, sich auf diese Voraussetzung selbst zu stellen? Ich denke: weil er schon damit einen unverrückbaren, absoluten Grund des Guten zugestehen würde, was sein Relativismus ihm verbietet. Darum wendet er ein: Doch nicht jede Lust ist gut, es gibt gute und schlechte Lüste. Dann aber ahnt er wohl auch schon, daß das Zugeständnis eines Prinzips überhaupt, und wäre es das Prinzip der Lust, das Zugeständnis eines Prinzips auch der Erkenntnis nach sich ziehen würde, mit welchem offenbar sein Spiel verloren, die Einzigkeit der Tugend, und auch ihre Nichtlehrbarkeit (zumal nach seinem Begriff des Lehrens und Lernens) zugegeben wäre.

Aber es gibt schon kein Entrinnen mehr. SOKRATES zwingt ihn mit leichter Mühe, anzuerkennen, daß für den Standpunkt, den für das Weitere innezuhalten er sich endlich einverstanden erklärt hat, Lust an sich selbst nicht einmal gut, ein andermal schlecht, sondern, streng nur als solche, wesentlich gut, und nicht nur etwas Gutes, sondern das Gute sein muß. In der Tat, keine Lust ist, als Lust, etwa schlecht, sondern nur relativ die eine gegen die andre, insbesondere die geringere, oder die einen Abzug an Befriedigung im Gefolge hat, gegen die größere, oder die ein höheres Gesamtmaß von Befriedigung verheißt. Damit aber ist schon die unterste Stute, die der bloßen Augenblickslust, überschritten und der mittlere Bereich, der der Relativität betreten. In diesem findet sich PROTAGORAS ganz auf vertrautem Boden, und folgt daher von nun ab willig, zunächst bis zu dem Zugeständnis, daß es, eben für diesen mittleren Bereich, allerdings auf eine Erkenntnis, selbst dieses[523] gleichen mittleren Charakters, nämlich die der Zahl und des Maßes, ankommt. Damit aber ist er schon gefangen: Ausschlaggebend ist jetzt schon nicht mehr die Lust, sondern die Erkenntnis. Und so hat SOKRATES scheinbar gesiegt, und der Sophist muß sehen, wie er sich mit guter Miene damit abfindet.

SOKRATES aber erleichtert ihm dies dadurch, daß er sich selbst seines Sieges gar nicht recht froh erzeigt. Er weiß selbst am besten, daß er dahin, wohin er wollte, doch nicht gelangt ist Erreicht ist zwar, daß jedenfalls Erkenntnis der Grund des Guten und der Tugend, und in diesem Einheitsgrunde das Gute selbst oder die Tugend zuletzt Eines und nicht das bunte, vielgestaltige Ding ist, als das es dem Sophisten erschien. Welche Erkenntnis aber, das ist ihm noch keineswegs ausgemacht (357 B); vermutlich nicht die, auf welche der Beweis geführt hat, die messende Erkenntnis der Lüste in ihren wechselseitigen Bedingtheiten. Und es bleibt der seltsame, doppelte Widerspruch ungelöst: SOKRATES hatte zeigen wollen, daß Tugend nicht lehrbar sei, aber er selbst hat jetzt herausgestellt, daß sie jedenfalls Erkenntnis sei; als solche müßte sie doch auch lehrbar sein. PROTAGORAS dagegen, der die Lehrbarkeit behauptete, hat sich mit Händen und Füßen gesträubt zuzugeben, daß sie Erkenntnis sei; er hat es zwar dann zugeben müssen, schon um auf den Ruf des sophos, nicht verzichten zu müssen; womit er ja vielmehr auf den Boden des sokratischen Nichtwissens – aus dem die Nichtlehrbarkeit ohne weiteres folgen würde – übergetreten wäre. Beide, sehr gegründete Bedenken weisen auf denselben letzten Grund zurück: Die Erkenntnis, die als Entscheidungsgrund für Gut und Schlecht, Tugend und Untugend jetzt herausgekommen ist (deren Lehrbarkeit nicht zweifelhaft ist), kann die letztentscheidende nicht sein. Sondern diese muß viel tiefer liegen; sie muß sein: unwandelbar bestandhaft, allem Schein, daher dem ganzen Bereiche der Bezüglichkeit enthoben, schlechthin ruhend und wahr, und durch dies alles allem gewachsen und überlegen, schlechthin gebietend und nicht wie ein Sklave hin- und hergezerrt von Lust und Schmerz, Verlangen und Furcht. Diese Forderungen waren (356 C ff., 352 B ff.) bestimmt gestellt, ihnen aber genügt offenbar die nun als entscheidend hingestellte Messung der Lüste nicht. Auch in der Auslegung des Simonides wurde hingedeutet auf ein unendlich fernes, dem Menschen als Menschen unerreichbares, also transzendentes Ziel der Erkenntnis und Tüchtigkeit[524] (welche beide ganz in eins gesetzt wurden: mathêsis die einzige eupragia, Verlust der Erkenntnis einzige kakê praxis, 345 AB, wodurch die sôtêria tou biou 356 D einen sehr vertieften Sinn erhält). Diese Erkenntnis liegt allerdings so tief verborgen, daß an ihrer Erreichbarkeit für den Menschen und Übertragbarkeit von außen in ihn hinein durch Lehre gewiß mit allem Fug gezweifelt werden kann. Es wird der tieferen Einsichten des Menon bedürfen, diese Zweifel zu lösen und damit die im Protagoras nur angebahnte Untersuchung erst zu ihrem wahren Ziele, nämlich über den Mittelbereich hinaus zur höchsten Stufe, der Ideenschau und durch diese bestimmten Güte und Tugend, zu führen. Doch wird dadurch die Tugend und Erkenntnis des mittleren Bereichs keineswegs abgedankt, wie sie denn in der Tat ihre Rolle bei PLATO fort und fort weiter spielt.

Wie auf der so gewonnenen Grundlage der scheinbar schroffe Widerspruch des Gorgias und des Phaedo gegen den Protagoras sich löst, wie endlich der Staat durch die bestimmte Unterscheidung der drei Stufen der hêdonê volle Klarheit bringt, und von da bis zu den Gesetzen der Lust im ganzen empirischen Bereich, und selbst ganz im empirischen Sinne, ihr volles Recht zuteil wird, ohne wirklichen Widerspruch gegen die scheinbar schroffe Verwerfung der Lust überhaupt im Gorgias, im Phaedo und in den mittleren Büchern des Staats (euphêmei! 509 A), das und alles andre, was mit diesen Fragen in Verbindung steht, darf dem Selbstdenken und dem Selbstforschen des verstehenden Lesers überlassen bleiben.

51

Vgl. A. E. TAYLOR, Varia Socratica I (Oxford, J. Parker & Co., 1911), worüber Bericht: Deutsche Literaturzeitung XXXII Nr. 27, S. 1673 ff.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 514-525.
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