Erster Vortrag
(Gehalten am 16. Januar 1872)

Meine verehrten Zuhörer,


das Thema, über das Sie gesonnen sind, mit mir nachzudenken, ist so ernsthaft und wichtig und in einem gewissen Sinne so beunruhigend, daß auch ich, gleich Ihnen, zu jedem Beliebigen gehen würde, der über dasselbe etwas zu lehren verspräche, sollte derselbe auch noch so jung sein, sollte es an sich sogar recht unwahrscheinlich dünken, daß er von sich aus, aus eignen Kräften, etwas Zureichendes und einer solchen Aufgabe Entsprechendes leisten werde. Es wäre doch noch möglich, daß er etwas Rechtes über die beunruhigende Frage nach der Zukunft unserer Bildungsanstalten gehört habe, das er Ihnen nun wieder erzählen wollte, es wäre möglich, daß er bedeutende Lehrmeister gehabt habe, denen es schon mehr geziemen möchte, auf die Zukunft zu prophezeien und zwar, ähnlich wie die römischen haruspices, aus den Eingeweiden der Gegenwart heraus.

In der Tat haben Sie etwas derartiges zu gewärtigen. Ich bin einmal durch seltsame, im Grunde recht harmlose Umstände Ohrenzeuge eines Gesprächs gewesen, welches merkwürdige Männer über eben jenes Thema führten, und habe die Hauptpunkte ihrer Betrachtungen und die ganze Art und Weise, wie sie diese Frage anfaßten, viel zu fest meinem Gedächtnis eingeprägt, um nicht selbst immer, wenn ich über ähnliche Dinge nachdenke, in dasselbe Geleise zu geraten: nur daß ich mitunter den zuversichtlichen Mut nicht habe, den jene Männer sowohl im kühnen Aussprechen verbotener Wahrheiten als in dem noch kühneren Aufbau ihrer eignen Hoffnungen damals vor meinen Ohren und zu meinem Erstaunen bewährten. Um so mehr schien es mir nützlich, ein solches Gespräch endlich einmal schriftlich zu fixieren, um auch andere noch zum Urteil über so auffallende Ansichten und Aussprüche aufzureizen – und hierzu glaubte ich aus besonderen Gründen gerade die Gelegenheit dieser öffentlichen Vorträge benutzen zu dürfen.[177]

Ich bin mir nämlich wohl bewußt, an welchem Orte ich jenes Gespräch einem allgemeinen Nachdenken und Überlegen anempfehle, in einer Stadt nämlich, die in einem unverhältnismäßig großartigen Sinne die Bildung und Erziehung ihrer Bürger zu fördern sucht, in einem Maßstabe, der für größere Staaten geradezu etwas Beschämendes haben muß: so daß ich hier gewiß auch mit dieser Vermutung nicht fehlgreife, daß dort, wo man um so viel mehr für diese Dinge tut, man auch über sie um so viel mehr denkt. Gerade nur solchen Zuhörern aber werde ich, bei der Wiedererzählung jenes Gesprächs, völlig verständlich werden können – solchen, die sofort erraten, was nur angedeutet werden konnte, ergänzen, was verschwiegen werden mußte, die überhaupt nur erinnert, nicht belehrt zu werden brauchen.

Nun vernehmen Sie, meine geehrten Zuhörer, mein harmloses Erlebnis und das minder harmlose Gespräch jener bisher nicht genannten Männer.

Wir versetzen uns mitten in den Zustand eines jungen Studenten hinein, das heißt in einen Zustand, der, in der rastlosen und heftigen Bewegung der Gegenwart, geradezu etwas Unglaubwürdiges ist, und den man erlebt haben muß, um ein solches unbekümmertes Sich-Wiegen, ein solches dem Augenblick abgerungenes gleichsam zeitloses Behagen überhaupt für möglich zu halten. In diesem Zustande verlebte ich, zugleich mit einem gleichalterigen Freunde, ein Jahr in der Universitätsstadt Bonn am Rhein: ein Jahr, welches durch die Abwesenheit aller Pläne und Zwecke, losgelöst von allen Zukunftsabsichten, für meine jetzige Empfindung fast etwas Traumartiges an sich trägt, während dasselbe zu beiden Seiten, vorher und nachher, durch Zeiträume des Wachseins eingerahmt ist. Wir beide blieben ungestört, ob wir gleich mit einer zahlreichen und im Grunde anders erregten und strebenden Verbindung zusammen lebten; mitunter hatten wir Mühe, die etwas zu lebhaften Zumutungen dieser unserer Altersgenossen zu befriedigen oder zurückzuweisen. Aber selbst dieses Spiel mit einem widerstrebenden Elemente hat jetzt, wenn ich es mir vor die Seele stelle, immer noch einen ähnlichen Charakter, wie mancherlei Hemmungen, die ein jeder im Traum erlebt, etwa wenn man glaubt fliegen zu können, aber durch unerklärliche Hindernisse sich zurückgezogen fühlt.[178]

Ich hatte mit meinem Freunde zahlreiche Erinnerungen aus der früheren Periode des Wachseins, aus unserer Gymnasiastenzeit, gemein, und eine derselben muß ich näher bezeichnen, weil sie den Übergang zu meinem harmlosen Erlebnis bildet. Mit jenem Freunde zusammen hatte ich bei einer früheren Rheinreise, die im Spätsommer unternommen worden war, einen Plan fast zu gleicher Zeit und an gleichem Orte – und doch jeder für sich – ausgedacht, so daß wir uns gerade durch dies ungewöhnliche Zusammentreffen gezwungen fühlten, ihn durchzuführen. Wir beschlossen damals, eine kleine Vereinigung von wenig Kameraden zu stiften, mit der Absicht, für unsere produktiven Neigungen in Kunst und Literatur eine feste und verpflichtende Organisation zu finden: das heißt schlichter ausgedrückt: es mußte sich ein jeder von uns verbindlich machen, von Monat zu Monat ein eignes Produkt, sei es eine Dichtung oder eine Abhandlung oder einen architektonischen Entwurf oder eine musikalische Produktion, einzusenden, über welches Produkt nun ein jeder der anderen mit der unbegrenzten Offenheit freundschaftlicher Kritik zu richten befugt war. So glaubten wir unsere Bildungstriebe durch gegenseitiges Überwachen ebenso zu reizen, als im Zaume zu halten: und wirklich war auch der Erfolg derart, daß wir immer eine dankbare, ja feierliche Empfindung für jenen Moment und jenen Ort zurückbehalten mußten, die uns jenen Einfall eingegeben hatten.

Für diese Empfindung fand sich bald die rechte Form, indem wir uns gegenseitig verpflichteten, wenn es irgend möglich sei, an jenem Tage, in jedem Jahre die einsame Stätte bei Rolandseck aufzusuchen, an der wir damals, im Spätsommer, in Gedanken nebeneinander sitzend, uns plötzlich zu dem gleichen Entschlusse begeistert fühlten. Genau genommen, ist diese Verpflichtung doch nicht streng genug eingehalten worden; aber gerade deshalb, weil wir manche Unterlassungssünde auf dem Gewissen hatten, wurde von uns beiden in jenem Bonner Studentenjahr, als wir endlich wieder dauernd am Rheine wohnten, mit größter Festigkeit beschlossen, diesmal nicht nur unserem Gesetz, sondern auch unserem Gefühl, unserer dankbaren Erregung zu genügen und am rechten Tage die Stätte bei Rolandseck in weihevoller Weise heimzusuchen.

Es wurde uns nicht leicht gemacht: denn gerade an diesem Tage[179] machte uns die zahlreiche und muntere Studentenverbindung, die uns am Fliegen hinderte, recht zu schaffen und zog mit allen Kräften an allen Fäden, die uns niederhalten konnten. Unsere Verbindung hatte für diesen Zeitpunkt eine große festliche Ausfahrt nach Rolandseck beschlossen, um am Schlusse des Sommerhalbjahrs sich noch einmal ihrer sämtlichen Mitglieder zu versichern und sie mit den besten Abschiedserinnerungen nachher in die Heimat zu schicken.

Es war einer jener vollkommnen Tage, wie sie, in unserem Klima wenigstens, nur eben diese Spätsommerzeit zu erzeugen vermag: Himmel und Erde im Einklang ruhig nebeneinander hinströmend, wunderbar aus Sonnenwärme, Herbstfrische und blauer Unendlichkeit gemischt. Wir bestiegen in dem buntesten phantastischen Aufzuge, an dem sich, bei der Trübsinnigkeit aller sonstigen Trachten, allein noch der Student ergötzen darf, ein Dampfschiff, das zu unseren Ehren festlich bewimpelt war, und pflanzten unsere Verbindungsfahnen auf seinem Verdecke auf. Von beiden Ufern des Rheines ertönte von Zeit zu Zeit ein Signalschuß, durch den, nach unserer Anordnung, ebenso die Rheinanwohner als vor allen unser Wirt in Rolandseck über unser Herankommen benachrichtigt wurde. Ich erzähle nun nichts von dem lärmenden Einzuge, vom Landungsplatze aus, durch den aufgeregt-neugierigen Ort hindurch, ebensowenig von den nicht für jedermann verständlichen Freuden und Scherzen, die wir uns untereinander gestatteten; ich übergehe ein allmählich bewegter, ja wild werdendes Festessen und eine unglaubliche musikalische Produktion, an der sich, bald durch Einzelvorträge, bald durch Gesamtleistungen die ganze Tafelgesellschaft beteiligen mußte, und die ich, als musikalischer Berater unserer Verbindung, früher einzustudieren und jetzt zu dirigieren hatte. Während des etwas wüsten und immer schneller werdenden Finale hatte ich bereits meinem Freunde einen Wink gegeben, und unmittelbar nach dem geheulähnlichen Schlußakkord verschwanden wir beide durch die Türe: hinter uns klappte gewissermaßen ein brüllender Abgrund zu.

Plötzlich erquickende, atemlose Naturstille. Die Schatten lagen schon etwas breiter, die Sonne glühte unbeweglich, aber schon niedergesenkt, und von den grünlichen glitzernden Wellen des Rheines her wehte ein leichter Hauch über unsere heißen Gesichter. Unsere Erinnerungsweihe[180] verpflichtete uns nur erst für die späteren Stunden des Tags, und daher hatten wir daran gedacht, die letzten hellen Momente des Tags mit einer unserer einsamen Liebhabereien auszufüllen, an denen wir damals so reich waren.

Wir pflegten damals mit Passion Pistolen zu schießen, und einem jeden von uns ist diese Technik in einer späteren militärischen Laufbahn von großem Nutzen gewesen. Der Diener unserer Verbindung kannte unseren etwas entfernt und hochgelegenen Schießplatz und hatte uns dorthin unsere Pistolen vorangetragen. Dieser Platz befand sich am oberen Saume des Waldes, der die niedrigen Höhenzüge hinter Rolandseck bedeckt, auf einem kleinen unebnen Plateau, und zwar ganz in der Nähe unserer Stiftungs- und Weihestätte. Am bewaldeten Abhang, seitwärts von unserem Schießplatz, gab es eine kleine baumfreie, zum Niedersitzen einladende Stelle, die einen Durchblick über Bäume und Gestrüpp hinweg nach dem Rheine zu gestattete, so daß gerade die schön gewundenen Linien des Siebengebirgs und vor allem der Drachenfels den Horizont gegen die Baumgruppen abgrenzten, während den Mittelpunkt dieses gerundeten Ausschnittes der glitzernde Rhein selbst, die Insel Nonnenwörth im Arme haltend, bildete. Dies war unsere, durch gemeinsame Träume und Pläne geweihte Stätte, zu der wir uns in späterer Abendstunde zurückziehn wollten, ja sogar mußten, falls wir im Sinne unseres Gesetzes den Tag beschließen mochten.

Seitwärts davon, auf jenem kleinen unebenen Plateau, stand unweit ein mächtiger Stumpf einer Eiche, einsam sich von der sonst baum- und strauchlosen Fläche und den niedrigen wellenartigen Erhöhungen abhebend. An diesem Stumpf hatten wir einst, mit vereinter Kraft, ein deutliches Pentagramm eingeschnitten, das in Wetter und Sturm der letzten Jahre noch mehr aufgeborsten war und eine willkommne Zielscheibe für unsere Pistolenkünste darbot. Es war bereits eine spätere Nachmittagsstunde, als wir auf unserem Schießplatz anlangten, und von unserem Eichenstumpf aus lehnte sich ein breiter und zugespitzter Schatten über die dürftige Heide hin. Es war sehr still: durch die höheren Bäume zu unseren Füßen waren wir verhindert, nach dem Rhein zu in die Tiefe zu sehen. Um so erschütternder klang in diese Einsamkeit bald der wiederhallende scharfe Laut unserer Pistolenschüsse –[181] und eben hatte ich die zweite Kugel nach dem Pentagramm ausgeschickt, als ich mich heftig am Arme gefaßt fühlte und zugleich auch meinen Freund in einer ähnlichen Weise im Laden unterbrochen sah.

Als ich mich rasch umwendete, blickte ich in das erzürnte Gesicht eines alten Mannes, während ich zugleich fühlte, wie ein kräftiger Hund an meinem Rücken emporsprang. Ehe wir – nämlich ich und mein ebenfalls durch einen zweiten, etwas jüngeren Mann gestörter Kamerad – uns zu irgendeinem Worte der Verwunderung gesammelt hatten, erscholl bereits in drohendem und heftigem Tone die Rede des Greises. »Nein! Nein!« rief er uns zu, »hier wird nicht duelliert! Am wenigsten dürft ihr es, ihr studierenden Jünglinge! Fort mit den Pistolen! Beruhigt euch, versöhnt euch, reicht euch die Hände! Wie? Das wäre das Salz der Erde, die Intelligenz der Zukunft, der Same unserer Hoffnungen – und das kann sich nicht einmal von dem verrückten Ehrenkatechismus und seinen Faustrechtssatzungen freimachen? Eurem Herzen will ich dabei nicht zu nahe treten, aber euren Köpfen macht es wenig Ehre. Ihr, deren Jugend die Sprache und Weisheit Hellas' und Latiums zur Pflegerin erhielt, und auf deren jungen Geist man die Lichtstrahlen der Weisen und Edlen des schönen Altertums frühzeitig fallen zu lassen die unschätzbare Sorge getragen hat – ihr wollt damit anfangen, daß ihr den Kodex der ritterlichen Ehre, das heißt den Kodex des Unverstands und der Brutalität zur Richtschnur eures Wandels macht? – Seht ihn doch einmal recht an, bringt ihn euch auf deutliche Begriffe, enthüllt seine erbärmliche Beschränktheit und laßt ihn den Prüfstein nicht eures Herzens, aber eures Verstandes sein. Verwirft dieser ihn jetzt nicht, so ist euer Kopf nicht geeignet, in dem Felde zu arbeiten, wo eine energische Urteilskraft, welche die Bande des Vorurteils leicht zerreißt, ein richtig ansprechender Verstand, der Wahres und Falsches selbst dort, wo der Unterschied tief verborgen liegt und nicht wie hier mit Händen zu greifen ist, rein zu sondern vermag, die notwendigen Erfordernisse sind: in diesem Falle also, meine Guten, sucht auf eine andere ehrliche Weise durch die Welt zu kommen, werdet Soldaten oder lernet ein Handwerk, das hat einen goldenen Boden.«

Auf diese grobe, obschon wahre Rede antworteten wir erregt, indem wir uns immer gegenseitig ins Wort fielen: »Erstens irren Sie in der[182] Hauptsache; denn wir sind keinesfalls da, um uns zu duellieren, sondern um uns im Pistolenschießen zu üben. Zweitens scheinen Sie gar nicht zu wissen, wie es bei einem Duell zugeht: denken Sie, daß wir uns, wie zwei Wegelagerer, in dieser Einsamkeit einander gegenüberstellen würden, ohne Sekundanten, ohne Ärzte usw.? Drittens endlich haben wir in der Duellfrage – ein jeder für sich – unseren eignen Standpunkt und wollen nicht durch Belehrungen Ihrer Art überfallen und erschreckt werden.«

Diese gewiß nicht höfliche Entgegnung hatte auf den alten Mann einen üblen Eindruck gemacht; während er zuerst, als er merkte, daß es sich um kein Duell handele, freundlicher auf uns hinblickte, verdroß ihn unsre schließliche Wendung, so daß er brummte; und als wir gar von unseren eignen Standpunkten zu reden wagten, faßte er heftig seinen Begleiter, drehte sich rasch um und rief uns bitter nach: »Man muß nicht nur Standpunkte, sondern auch Gedanken haben!« »Und«, rief der Begleiter dazwischen, »Ehrfurcht, selbst wenn ein solcher Mann einmal irrt!«

Inzwischen hatte aber mein Freund bereits wieder geladen und schoß von neuem, indem er: »Vorsicht!« rief, nach dem Pentagramm. Dies sofortige Knattern hinter seinem Rücken machte den alten Mann wütend; noch einmal kehrte er sich um, sah meinen Freund mit Haß an und sagte dann zu seinem jüngeren Begleiter mit weicherer Stimme: »Was sollen wir tun? Diese jungen Männer ruinieren mich durch ihre Explosionen.« – »Sie müssen nämlich wissen«, hub der Jüngere zu uns gewendet an, »daß Ihre explodierenden Vergnügungen in dem jetzigen Falle ein wahres Attentat gegen die Philosophie sind. Bemerken Sie diesen ehrwürdigen Mann – er ist imstande, Sie zu bitten, hier nicht zu schießen. Und wenn ein solcher Mann bittet –« »Nun, so tut man es doch wohl«, unterbrach ihn der Greis und sah uns streng an.

Im Grunde wußten wir nicht recht, was wir von einem solchen Vorgange zu halten hatten; wir waren uns nicht deutlich bewußt, was unsere etwas lärmenden Vergnügungen mit der Philosophie gemein hätten, wir sahen ebensowenig ein, weshalb wir, aus unverständlichen Rücksichten der Höflichkeit, unsern Schießplatz aufgeben sollten, und mögen in diesem Augenblicke recht unschlüssig und verdrossen[183] dagestanden haben. Der Begleiter sah unsre augenblickliche Betroffenheit und erklärte uns den Hergang. »Wir sind genötigt«, sagte er, »hier in Ihrer nächsten Nähe ein paar Stunden zu warten, wir haben eine Verabredung, nach der ein bedeutender Freund dieses bedeutenden Mannes noch diesen Abend hier eintreffen will; und zwar haben wir einen ruhigen Platz, mit einigen Bänken, hier am Gehölz, für diese Zusammenkunft gewählt. Es ist nichts Angenehmes, wenn wir hier durch Ihre benachbarten Schießübungen fortwährend aufgeschreckt werden; es ist für Ihre eigne Empfindung, wie wir voraussetzen, unmöglich, hier weiter zu schießen, wenn Sie hören, daß es einer unsrer ersten Philosophen ist, der diese ruhige und abgelegene Einsamkeit für ein Wiedersehen mit seinem Freunde ausgesucht hat.« –

Diese Auseinandersetzung beunruhigte uns noch mehr: wir sahen jetzt eine noch größere Gefahr, als nur den Verlust unseres Schießplatzes, auf uns zukommen und fragten hastig: »Wo ist dieser Ruheplatz? Doch nicht hier links im Gehölz?«

»Gerade dieser ist es.«

»Aber dieser Platz gehört heute abend uns beiden«, rief mein Freund dazwischen. »Wir müssen diesen Platz haben«, riefen wir beide.

Unsre längst beschlossene Festfeier war uns augenblicklich wichtiger als alle Philosophen der Welt, und wir drückten so lebhaft und erregt unsre Empfindung aus, daß wir uns, mit unserm an sich unverständlichen, aber so dringend geäußerten Verlangen, vielleicht etwas lächerlich ausnahmen. Wenigstens sahen uns unsre philosophischen Störenfriede lächelnd und fragend an, als ob wir nun, zu unsrer Entschuldigung, reden müßten. Aber wir schwiegen; denn wir wollten am wenigsten uns verraten.

Und so standen sich die beiden Gruppen stumm gegenüber, während über den Wipfeln der Bäume ein weithin ausgegoßnes Abendrot lag. Der Philosoph sah nach der Sonne zu, der Begleiter nach dem Philosophen und wir beide nach unserm Versteck im Walde, das für uns gerade heute so gefährdet sein sollte. Eine etwas grimmige Empfindung überkam uns. Was ist alle Philosophie, dachten wir, wenn sie hindert, für sich zu sein und einsam mit Freunden sich zu freuen, wenn sie uns abhält, selbst Philosophen zu werden. Denn wir glaubten, unsre Erinnerungsfeier sei recht eigentlich philosophischer Natur: bei ihr[184] wünschten wir für unsre weitere Existenz ernste Vorsätze und Pläne zu fassen; in einsamem Nachdenken hofften wir etwas zu finden, was in ähnlicher Weise unsre innerste Seele in der Zukunft bilden und befriedigen sollte, wie jene ehemalige produktive Tätigkeit der früheren Jünglingsjahre. Gerade darin sollte jener eigentliche Weiheakt bestehen; nichts war beschlossen als gerade dies – einsam zu sein, nachdenklich dazusitzen, so wie damals vor fünf Jahren, als wir uns zu jenem Entschlusse gemeinsam sammelten. Es sollte eine schweigende Feierlichkeit sein, ganz Erinnerung, ganz Zukunft – die Gegenwart nichts als ein Gedankenstrich dazwischen. Und nun trat ein feindliches Schicksal in unsern Zauberkreis – und wir wußten nicht, wie es zu entfernen sei; ja wir fühlten, bei der Seltsamkeit des ganzen Zusammentreffens etwas Geheimnisvoll-Anreizendes.

Während wir so stumm, in feindselige Gruppen geschieden, geraume Zeit beieinanderstanden, die Abendwolken über uns sich immer mehr röteten und der Abend immer ruhiger und milder wurde, während wir gleichsam das regelmäßige Atmen der Natur belauschten, wie sie zufrieden über ihr Kunstwerk, den vollkommnen Tag, ihr Tagewerk beschließt – riß sich mitten durch die dämmernde Stille ein ungestümer, verworrner Jubelruf, vom Rheine her heraufklingend; viele Stimmen wurden in der Ferne laut – das mußten unsre studentischen Gefährten sein, die wohl jetzt auf dem Rheine in Kähnen herumfahren mochten. Wir dachten daran, daß wir vermißt würden und vermißten selbst etwas: fast gleichzeitig erhob ich mit meinem Freund das Pistol: das Echo warf unsre Schüsse zurück: und mit ihm zusammen kam auch schon ein wohlbekanntes Geschrei, als Erkennungszeichen, aus der Tiefe herauf. Denn wir waren bei unsrer Verbindung als passionierte Pistolenschützen ebenso bekannt als berüchtigt. Im gleichen Augenblicke aber empfanden wir unser Benehmen als die höchste Unhöflichkeit gegen die stummen philosophischen Ankömmlinge, die in ruhiger Betrachtung bis jetzt dagestanden hatten und bei unserem Doppelschuß erschreckt beiseite gesprungen waren. Wir traten rasch auf sie zu und riefen abwechselnd: »Verzeihen Sie uns. Jetzt wurde zum letzten Male geschossen, und das galt unseren Kameraden auf dem Rhein. Die haben es auch verstanden. Hören Sie? – Wenn Sie durchaus jenen Ruheplatz hier links im Gebüsch[185] haben wollen, so müssen Sie wenigstens gestatten, daß auch wir dort uns niederlassen. Es gibt mehrere Bänke dort: wir stören Sie nicht: wir sitzen ruhig und werden schweigen: aber sieben Uhr ist bereits vorbei und wir müssen jetzt dorthin.«

»Das klingt geheimnisvoller als es ist«, setzte ich nach einer Pause hinzu; »es gibt unter uns ein ernstes Versprechen, diese nächste Stunde dort zu verbringen; es gibt auch Gründe dafür. Die Stätte ist für uns durch eine gute Erinnerung geheiligt, sie soll uns auch eine gute Zukunft inaugurieren. Wir werden uns auch deshalb bemühen, bei Ihnen keine schlechte Erinnerung zu hinterlassen – nachdem wir Sie doch mehrfach beunruhigt und erschreckt haben.«

Der Philosoph schwieg; sein jüngerer Gefährte aber sagte: »Unsre Versprechungen und Verabredungen binden uns leider in gleicher Weise, sowohl für denselben Ort als für dieselben Stunden. Wir haben nun die Wahl, ob wir irgendein Schicksal oder einen Kobold für das Zusammentreffen verantwortlich machen wollen.«

»Im übrigen, mein Freund«, sagte der Philosoph begütigt, »bin ich mit unsern pistolenschießenden Jünglingen zufriedener als vordem. Hast du bemerkt, wie ruhig sie vorhin waren, als wir nach der Sonne sahen? Sie sprachen nicht, sie rauchten nicht, sie standen still – ich glaube fast, sie haben nachgedacht.«

Und mit rascher Wendung zu uns: »Haben Sie nachgedacht? Das sagen Sie mir, während wir zusammen nach unserm gemeinsamen Ruheplatz gehen.« Wir machten jetzt zusammen einige Schritte und kamen abwärtsklimmend in die warme dunstige Atmosphäre des Waldes, in dem es schon dunkler war. Im Gehen erzählte mein Freund dem Philosophen unverhohlen seine Gedanken: wie er gefürchtet habe, daß heute zum ersten Male der Philosoph ihn am Philosophieren hindern werde.

Der Greis lachte. »Wie? Sie fürchten, daß der Philosoph Sie am Philosophieren hindern werde? So etwas mag schon vorkommen: und Sie haben es noch nicht erlebt? Haben Sie auf Ihrer Universität keine Erfahrungen gemacht? Und Sie hören doch die philosophischen Vorlesungen?« –

Diese Frage war für uns unbequem; denn es war durchaus nichts davon der Fall gewesen. Auch hatten wir damals noch den harmlosen[186] Glauben, daß jeder, der auf einer Universität Amt und Würde eines Philosophen besitze, auch ein Philosoph sei: wir waren eben ohne Erfahrungen und schlecht belehrt. Wir sagten ehrlich, daß wir noch keine philosophischen Kollegien gehört hätten, aber gewiß das Versäumte noch einmal nachholen würden.

»Was nennen Sie nun aber«, fragte er, »Ihr Philosophieren?« – »Wir sind«, sagte ich, »um eine Definition verlegen. Doch meinen wir wohl ungefähr so viel, daß wir uns ernstlich bemühen wollen, nachzudenken, wie wir wohl am besten gebildete Menschen werden.« »Das ist viel und wenig«, brummte der Philosoph, »denken Sie nur recht darüber nach! Hier sind unsre Bänke: wir wollen uns recht weit auseinandersetzen: ich will Sie ja nicht stören nachzudenken, wie Sie zu gebildeten Menschen werden. Ich wünsche Ihnen Glück und – Standpunkte, wie in Ihrer Duellfrage, rechte eigne nagelneue gebildete Standpunkte. Der Philosoph will Sie nicht am Philosophieren hindern: erschrecken Sie ihn nur nicht durch Ihre Pistolen. Machen Sie es heute einmal den jungen Pythagoreern nach: diese mußten fünf Jahre schweigen, als Diener einer rechten Philosophie – vielleicht bringen Sie es für fünf Viertelstunden auch zustande, im Dienste Ihrer eignen zukünftigen Bildung, mit der Sie sich ja so angelegentlich befassen.«

Wir waren an unserem Ziele: unsre Erinnerungsfeier begann. Wieder wie damals vor fünf Jahren schwamm der Rhein in einem zarten Dunste, wieder wie damals leuchtete der Himmel, duftete der Wald. Die entlegenste Ecke einer entfernten Bank nahm uns auf; hier saßen wir fast wie versteckt und so, daß weder der Philosoph noch sein Begleiter uns ins Gesicht sehn konnten. Wir waren allein; wenn die Stimme des Philosophen gedämpft zu uns herüberkam, war sie inzwischen unter der raschelnden Bewegung des Laubes, unter dem summenden Geräusch eines tausendfältigen wimmelnden Daseins in der Höhe des Waldes fast zu einer Naturmusik geworden; sie wirkte als Laut, wie eine ferne eintönige Klage. Wir waren wirklich ungestört.

Und so verging eine Zeit, in der das Abendrot immer mehr verblaßte, und die Erinnerung an unsre jugendliche Bildungsunternehmung immer deutlicher vor uns aufstieg. Es schien uns so, als ob wir[187] jenem sonderbaren Verein den höchsten Dank schuldig seien: er war uns nicht etwa nur ein Supplement für unsere Gymnasialstudien gewesen, sondern geradezu die eigentliche fruchtbringende Gesellschaft, in deren Rahmen wir auch unser Gymnasium mit hineingezeichnet hatten, als ein einzelnes Mittel im Dienste unseres allgemeinen Strebens nach Bildung.

Wir waren uns bewußt, daß wir damals an einen sogenannten Beruf insgesamt nie gedacht hatten, dank unserem Vereine. Die nur zu häufige Ausbeutung dieser Jahre durch den Staat, der sich möglichst bald brauchbare Beamte heranziehn und sich ihrer unbedingten Fügsamkeit durch übermäßig anstrengende Examina versichern will, war durchaus von unsrer Bildung in weitester Entfernung geblieben; und wie wenig irgendein Nützlichkeitssinn, irgendeine Absicht auf rasche Beförderung und schnelle Laufbahn uns bestimmt hatte, lag für jeden von uns in der heute einmal tröstlich erscheinenden Tatsache, daß wir auch jetzt beide nicht recht wußten, was wir werden sollten, ja daß wir uns um diesen Punkt gar nicht bekümmerten. Diese glückliche Unbekümmertheit hatte unser Verein in uns genährt; gerade für sie waren wir bei seinem Erinnerungsfeste recht von Herzen dankbar. Ich habe schon einmal gesagt, daß ein solches zweckloses Sich-Behagenlassen am Moment, ein solches Sich-Wiegen auf dem Schaukelstuhl des Augenblicks für unsre allem Unnützen abholde Gegenwart fast unglaubwürdig, jedenfalls tadelnswert erscheinen muß. Wie unnütz waren wir! Und wie stolz waren wir darauf, so unnütz zu sein! Wir hätten miteinander uns um den Ruhm streiten können, wer von beiden der Unnützere sei. Wir wollten nichts bedeuten, nichts vertreten, nichts bezwecken, wir wollten ohne Zukunft sein, nichts als bequem auf der Schwelle der Gegenwart hingestreckte Nichtsnutze – und wir waren es auch. Heil uns!

– So nämlich erschien es uns damals, meine geehrten Zuhörer! – Diesen weihevollen Selbstbetrachtungen hingegeben, war ich ungefähr im Begriff, mir nun auch die Frage nach der Zukunft unserer Bildungsanstalt in diesem selbstzufriednen Tone zu beantworten, als mir es allmählich schien, daß die von der entfernten Philosophenbank hertönende Naturmusik ihren bisherigen Charakter verlöre und viel eindringlicher und artikulierter zu uns herüberkäme. Plötzlich wurde[188] ich mir bewußt, daß ich zuhörte, daß ich lauschte, daß ich mit Leidenschaft lauschte, mit vorgestrecktem Ohre zuhörte. Ich stieß meinen vielleicht etwas ermüdeten Freund an und sagte ihm leise: »Schlaf nicht! Es gibt dort für uns etwas zu lernen. Es paßt auf uns, wenn es uns auch nicht gilt.«

Ich hörte nämlich, wie der junge Begleiter sich ziemlich erregt verteidigte, wie dagegen der Philosoph mit immer kräftigerem Klange der Stimme ihn angriff. »Du bist unverändert«, rief er ihm zu, »leider unverändert, mir ist es unglaublich, wie du noch derselbe bist wie vor sieben Jahren, wo ich dich zum letzten Male sah, wo ich dich mit zweifelhaften Hoffnungen entließ. Deine inzwischen übergehängte moderne Bildungshaut muß ich dir leider wieder, nicht zu meinem Vergnügen, abziehn – und was finde ich darunter? Zwar den gleichen unveränderlichen ›intellegibeln‹ Charakter, wie ihn Kant versteht, aber leider auch den unveränderten intellektuellen – was wahrscheinlich auch eine Notwendigkeit, aber eine wenig tröstliche ist. Ich frage mich, wozu ich als Philosoph gelebt habe, wenn ganze Jahre, die du in meinem Umgang verlebt hast, bei nicht stumpfem Geiste und wirklicher Lernbegierde doch keine deutlicheren Impressionen zurückgelassen haben! Jetzt benimmst du dich, als hättest du noch nie, in betreff aller Bildung, den Kardinalsatz gehört, auf den ich doch so oft, in unserem früheren Verkehr, zurückgekommen bin. Nun, welches war der Satz?«

»Ich erinnere mich«, antwortete der gescholtene Schüler; »Sie pflegten zu sagen, es würde kein Mensch nach Bildung streben, wenn er wüßte, wie unglaublich klein die Zahl der wirklich Gebildeten zuletzt ist und überhaupt sein kann. Und trotzdem sei auch diese kleine Anzahl von wahrhaft Gebildeten nicht einmal möglich, wenn nicht eine große Masse, im Grunde gegen ihre Natur, und nur durch eine verlockende Täuschung bestimmt, sich mit der Bildung einließe. Man dürfe deshalb von jener lächerlichen Improportionalität zwischen der Zahl der wahrhaft Gebildeten und dem ungeheuer großen Bildungsapparat nichts öffentlich verraten; hier stecke das eigentliche Bildungsgeheimnis: daß nämlich zahllose Menschen scheinbar für sich, im Grunde nur, um einige wenige Menschen möglich zu machen, nach Bildung ringen, für die Bildung arbeiten.«

»Dies ist der Satz«, sagte der Philosoph – »und doch konntest du so[189] seinen wahren Sinn vergessen, um zu glauben, selber einer jener wenigen zu sein? Daran hast du gedacht – ich merke es wohl. Das aber gehört zu der nichtswürdigen Signatur unserer gebildeten Gegenwart. Man demokratisiert die Rechte des Genius, um der eignen Bildungsarbeit und Bildungsnot enthoben zu sein. Es will sich ein jeder womöglich im Schatten des Baumes niederlassen, den der Genius gepflanzt hat. Man möchte sich jener schweren Notwendigkeit entziehn, für den Genius arbeiten zu müssen, um seine Erzeugung möglich zu machen. Wie? Du bist zu stolz, ein Lehrer sein zu wollen? Du verachtest die sich herandrängende Menge der Lernenden? Du sprichst mit Geringschätzung über die Aufgabe des Lehrers? Und möchtest dann, in einer feindseligen Abgrenzung von jener Menge, ein einsames Leben führen, mich und meine Lebensweise kopierend? Du glaubst im Sprunge sofort das erreichen zu können, was ich, nach langem hartnäckigem Kampfe, um als Philosoph überhaupt nur leben zu können, mir endlich erringen mußte? Und du fürchtest nicht, daß die Einsamkeit sich an dir rächen werde? Versuche es nur, ein Bildungseinsiedler zu sein – man muß einen überschüssigen Reichtum haben, um von sich aus für alle leben zu können! – Sonderbare Jünger! Gerade immer das Schwerste und Höchste, was eben nur dem Meister möglich geworden ist, glauben sie nachmachen zu müssen: während gerade sie wissen sollten, wie schwer und gefährlich dies sei und wie viele treffliche Begabungen noch daran zugrunde gehen könnten!«

»Ich will Ihnen nichts verbergen, mein Lehrer«, sagte hier der Begleiter. »Ich habe zu viel von Ihnen gehört und bin zu lange in Ihrer Nähe gewesen, um mich unserem jetzigen Bildungs- und Erziehungswesen noch mit Haut und Haar hingeben zu können. Ich empfinde zu deutlich jene heillosen Irrtümer und Mißstände, auf die Sie mit dem Finger zu zeigen pflegten – und doch merke ich wenig von der Kraft in mir, mit der ich, bei tapferem Kampfe, Erfolge haben würde. Eine allgemeine Mutlosigkeit überkam mich; die Flucht in die Einsamkeit war nicht Hochmut, nicht Überhebung. Ich will Ihnen gern beschreiben, welche Signatur ich an den jetzt so lebhaft und zudringlich sich bewegenden Bildungs- und Erziehungsfragen vorgefunden habe. Es schien mir, daß ich zwei Hauptrichtungen unterscheiden müsse – zwei scheinbar entgegengesetzte, in ihrem Wirken gleich verderbliche,[190] in ihren Resultaten endlich zusammenfließende Strömungen beherrschen die Gegenwart unsrer Bildungsanstalten: einmal der Trieb nach möglichster Erweiterung und Verbreitung der Bildung, dann der Trieb nach Verringerung und Abschwächung der Bildung selbst. Die Bildung soll aus verschiedenen Gründen in die allerweitesten Kreise getragen werden – das verlangt die eine Tendenz. Die andere mutet dagegen der Bildung selbst zu, ihre höchsten, edelsten und erhabendsten Ansprüche aufzugeben und sich im Dienste irgendeiner andern Lebensform, etwa des Staates, zu bescheiden.

Ich glaube bemerkt zu haben, von welcher Seite aus der Ruf nach möglichster Erweiterung und Ausbreitung der Bildung am deutlichsten erschallt. Diese Erweiterung gehört unter die beliebten national-ökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntnis und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfnis – daher möglichst viel Glück – so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn. Die Bildung würde ungefähr von dieser Richtung aus definiert werden als die Einsicht, mit der man sich ›auf der Höhe seiner Zeit‹ hält, mit der man alle Wege kennt, auf denen am leichtesten Geld gemacht wird, mit der man alle Mittel beherrscht, durch die der Verkehr zwischen Menschen und Völkern geht. Die eigentliche Bildungsaufgabe wäre demnach, möglichst ›courante‹ Menschen zu bilden, in der Art dessen, was man an einer Münze ›courant‹ nennt. Je mehr es solche courante Menschen gäbe, um so glücklicher sei ein Volk: und gerade das müsse die Absicht der modernen Bildungsinstitute sein, jeden so weit zu fördern, als es in seiner Natur liegt, ›courant‹ zu werden, jeden derartig auszubilden, daß er von seinem Maß von Erkenntnis und Wissen das größtmögliche Maß von Glück und Gewinn hat. Ein jeder müsse sich selbst genau taxieren können, er müsse wissen, wie viel er vom Leben zu fordern habe. Der ›Bund von Intelligenz und Besitz‹, den man nach diesen Anschauungen behauptet, gilt geradezu als eine sittliche Anforderung. Jede Bildung ist hier verfaßt, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht: man pflegt wohl solche andere Bildungstendenzen als ›höheren Egoismus‹, als ›unsittlichen Bildungsepikureismus‹ abzutun. Nach der hier geltenden[191] Sittlichkeit wird freilich etwas Umgekehrtes verlangt, nämlich eine rasche Bildung, um schnell ein geldverdienendes Wesen werden zu können, und doch eine so gründliche Bildung, um ein sehr viel Geld verdienendes Wesen werden zu können. Dem Menschen wird nur so viel Kultur gestattet als im Interesse des Erwerbs ist, aber so viel wird auch von ihm gefordert. Kurz: die Menschheit hat einen notwendigen Anspruch auf Erdenglück – darum ist die Bildung notwendig – aber auch nur darum!«

»Hier will ich etwas einschalten«, sagte der Philosoph. »Bei dieser nicht undeutlich charakterisierten Anschauung entsteht die große, ja ungeheure Gefahr, daß die große Masse irgendwann einmal die Mittelstufe überspringt und direkt auf dieses Erdenglück losgeht. Das nennt man jetzt die ›soziale Frage‹. Es möchte nämlich dieser Masse so scheinen, daß demnach die Bildung für den größten Teil der Menschen nur ein Mittel für das Erdenglück der wenigsten sei: die ›möglichst allgemeine Bildung‹ schwächt die Bildung so ab, daß sie gar keine Privilegien und gar keinen Respekt mehr verleihen kann. Die allerallgemeinste Bildung ist eben die Barbarei. Doch ich will deine Erörterung nicht unterbrechen.«

Der Begleiter fuhr fort: »Es gibt noch andere Motive für die überall so tapfer angestrebte Erweiterung und Verbreitung der Bildung, außer jenem so beliebten nationalökonomischen Dogma. In einigen Ländern ist die Angst vor einer religiösen Unterdrückung so allgemein und die Furcht vor den Folgen dieser Unterdrückung so ausgeprägt, daß man in allen Gesellschaftsklassen der Bildung mit lechzender Begierde entgegenkommt und gerade die Elemente derselben einschlürft, welche die religiösen Instinkte aufzulösen pflegen. Anderwärts hinwiederum strebt ein Staat hier und da um seiner eignen Existenz willen nach einer möglichsten Ausdehnung der Bildung, weil er sich immer noch stark genug weiß, auch die stärkste Entfesselung der Bildung noch unter sein Joch spannen zu können, und es bewährt gefunden hat, wenn die ausgedehnteste Bildung seiner Beamten oder seiner Heere zuletzt immer nur ihm selbst, dem Staate, im Wetteifer mit anderen Staaten, zugute kommt. In diesem Falle muß das Fundament eines Staates ebenso breit und fest sein, um das komplizierte Bildungsgewölbe noch balancieren zu können, wie im ersten Falle die Spuren einer früheren religiösen[192] Unterdrückung noch fühlbar genug sein müssen, um zu einem so verzweifelten Gegenmittel zu drängen. Wo also nur das Feldgeschrei der Masse nach weitester Volksbildung verlangt, da pflege ich wohl zu unterscheiden, ob eine üppige Tendenz nach Erwerb und Besitz, ob die Brandmale einer früheren religiösen Unterdrückung, ob das kluge Selbstgefühl eines Staates zu diesem Feldgeschrei stimuliert hat.

Dagegen wollte es mir erscheinen, als ob zwar nicht so laut, aber mindestens so nachdrücklich von verschiedenen Seiten aus eine andere Weise angestimmt würde, die Weise von der Verminderung der Bildung. Man pflegt sich etwas von dieser Weise in allen gelehrten Kreisen ins Ohr zu flüstern: die allgemeine Tatsache, daß mit der jetzt angestrebten Ausnützung des Gelehrten im Dienste seiner Wissenschaft die Bildung des Gelehrten immer zufälliger und unwahrscheinlicher werde. Denn so in die Breite ausgedehnt ist jetzt das Studium der Wissenschaften, daß, wer bei guten, wenngleich nicht extremen Anlagen, noch in ihnen etwas leisten will, ein ganz spezielles Fach betreiben wird, um alle übrigen dann aber unbekümmert bleibt. Wird er nun schon in seinem Fach über dem vulgus stehen, in allem übrigen gehört er doch zu ihm, das heißt in allen Hauptsachen. So ein exklusiver Fachgelehrter ist dann dem Fabrikarbeiter ähnlich, der sein Leben lang nichts anderes macht als eine bestimmte Schraube oder Hand- habe zu einem bestimmten Werkzeug oder zu einer Maschine, worin er dann freilich eine unglaubliche Virtuosität erlangt. In Deutschland, wo man versteht, auch solchen schmerzlichen Tatsachen einen gloriosen Mantel des Gedankens überzuhängen, bewundert man wohl gar diese enge Fachmäßigkeit unserer Gelehrten und ihre immer weitere Abirrung von der rechten Bildung als ein sittliches Phänomen: die ›Treue im Kleinen‹, die ›Kärrnertreue‹ wird zum Prunkthema, die Unbildung jenseits des Fachs wird als Zeichen edler Genügsamkeit zur Schau getragen.

Es sind Jahrhunderte vergangen, in denen es sich von selbst verstand, daß man unter einem Gebildeten den Gelehrten und nur den Gelehrten begriff; von den Erfahrungen unserer Zeit aus würde man sich schwerlich zu einer so naiven Gleichstellung veranlaßt fühlen. Denn jetzt ist die Ausbeutung eines Menschen zugunsten der Wissenschaften die ohne Anstand überall angenommene Voraussetzung: wer[193] fragt sich noch, was eine Wissenschaft wert sein mag, die so vampyrartig ihre Geschöpfe verbraucht? Die Arbeitsteilung in der Wissenschaft strebt praktisch nach dem gleichen Ziele, nach dem hier und da die Religionen mit Bewußtsein streben: nach einer Verringerung der Bildung, ja nach einer Vernichtung derselben. Was aber für einige Religionen, gemäß ihrer Entstehung und Geschichte, ein durchaus berechtigtes Verlangen ist, dürfte für die Wissenschaft irgendwann einmal eine Selbstverbrennung herbeiführen. Jetzt sind wir bereits auf dem Punkte, daß in allen allgemeinen Fragen ernsthafter Natur, vor allem in den höchsten philosophischen Problemen der wissenschaftliche Mensch als solcher gar nicht mehr zu Worte kommt: wohingegen jene klebrige verbindende Schicht, die sich jetzt zwischen die Wissenschaften gelegt hat, die Journalistik, hier ihre Aufgabe zu erfüllen glaubt und sie nun ihrem Wesen gemäß ausführt, das heißt wie der Name sagt, als eine Tagelöhnerei.

In der Journalistik nämlich fließen die beiden Richtungen zusammen: Erweiterung und Verminderung der Bildung reichen sich hier die Hand; das Journal tritt geradezu an die Stelle der Bildung, und wer, auch als Gelehrter, jetzt noch Bildungsansprüche macht, pflegt sich an jene klebrige Vermittlungsschicht anzulehnen, die zwischen allen Lebensformen, allen Ständen, allen Künsten, allen Wissenschaften die Fugen verkittet und die so fest und zuverlässig ist wie eben Journalpapier zu sein pflegt. Im Journal kulminiert die eigentümliche Bildungsabsicht der Gegenwart: wie ebenso der Journalist, der Diener des Augenblicks, an die Stelle des großen Genius, des Führers für alle, Zeiten, des Erlösers vom Augenblick, getreten ist. Nun sagen Sie mir selbst, mein ausgezeichneter Meister, was ich mir für Hoffnungen machen sollte, im Kampfe gegen eine überall erreichte Verkehrung aller eigentlichen Bildungsbestrebungen, mit welchem Mute ich, als einzelner Lehrer, auftreten dürfte, wenn ich doch weiß, wie über jede eben gestreute Saat wahrer Bildung sofort schonungslos die zermalmende Walze dieser Pseudo-Bildung hinweggehn würde? Denken Sie sich, wie nutzlos jetzt die angestrengteste Arbeit des Lehrers sein muß, der etwa einen Schüler in die unendlich ferne und schwer zu ergreifende Welt des Hellenischen, als in die eigentliche Bildungsheimat zurückführen möchte: wenn doch derselbe Schüler in der[194] nächsten Stunde nach einer Zeitung oder nach einem Zeitroman oder nach einem jener gebildeten Bücher greifen wird, deren Stilistik schon das ekelhafte Wappen der jetzigen Bildungsbarbarei an sich trägt.« – –

»Nun halt einmal still!« rief hier der Philosoph mit starker und mitleidiger Stimme dazwischen, »ich begreife dich jetzt besser und hätte dir vorher kein so böses Wort sagen sollen. Du hast in allem Recht, nur nicht in deiner Mutlosigkeit. Ich will dir jetzt etwas zu deinem Tröste sagen.«[195]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 175,196.
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