Fünfter Vortrag
(Gehalten am 23. März 1872)

[247] Meine verehrten Zuhörer! Wenn das, was ich Ihnen von den mannigfaltig erregten, in nächtlicher Stille geführten Reden unseres Philosophen erzählt habe, mit einigem Mitgefühl von Ihnen aufgenommen ist, so dürfte Sie die zuletzt berichtete unmutige Entschließung desselben in ähnlicher Weise getroffen haben, wie sie uns damals traf. Plötzlich nämlich kündigte er uns an, daß er gehen wolle: im Stich gelassen von seinem Freunde und wenig erquickt von dem, was wir, samt seinem Begleiter, ihm in solcher Einöde entgegenzubringen wußten, schien er nun hastig den nutzlos verlängerten Aufenthalt auf dem Berge abbrechen zu wollen. Der Tag durfte ihm als verloren gelten: und ihn gleichsam von sich abschüttelnd hätte er gewiß auch gern das Andenken an unsere Bekanntschaft ihm hinterdreinwerfen mögen. Und so trieb er uns unwillig an zu gehen, als ein neues Phänomen ihn zum Stillstehen zwang, und der bereits erhobene Fuß sich wieder zögernd senkte.

Ein farbiger Lichtschein und ein knatterndes, schnell verhallendes Getöse, aus der Gegend des Rheins her, bannte unsere Aufmerksamkeit; und gleich darauf zog sich eine langsame melodische Phrase, im Einklange, doch durch zahlreiche jugendliche Stimmen verstärkt, aus der Ferne zu uns herüber. »Dies ist ja sein Signal«, rief der Philosoph, »mein Freund kommt doch noch, und ich habe nicht umsonst gewartet. Es wird ein mitternächtliches Wiedersehen – wie melden wir ihm doch, daß ich jetzt noch hier bin? Auf! Ihr Pistolenschützen, jetzt zeigt eure Künste einmal! Hört ihr den strengen Rhythmus jener uns begrüßenden Melodie? Diesen Rhythmus merkt euch und wiederholt ihn in der Reihenfolge eurer Explosionen!«

Dies war eine Aufgabe nach unserem Geschmack und unserer Fähigkeit; wir luden so schnell wie möglich und nach kurzer Verständigung erhoben wir unsere Pistolen nach der von Sternen durchleuchteten Höhe, während jene eindringliche Tonfolge in der Tiefe,[247] nach kurzer Wiederholung, erstarb. Der erste, der zweite und dritte Schuß gingen schneidig in die Nacht hinaus – jetzt schrie der Philosoph: »Falscher Takt!«; denn plötzlich waren wir unserer rhythmischen Aufgabe untreu geworden: eine Sternschnuppe kam, unmittelbar nach dem dritten Schuß, pfeilschnell heruntergeflogen und fast unwillkürlich ertönte der vierte und fünfte Schuß zugleich, in der Richtung ihres Niederfalls.

»Falscher Takt!« schrie der Philosoph, »wer heißt euch nach Sternschnuppen zu zielen! Das platzt schon von selbst, ohne euch; man muß wissen, was man will, wenn man mit Waffen hantiert.«

In diesem Augenblicke wiederholte sich, vom Rheine her herübergetragen, jene, jetzt von zahlreicheren und lauteren Stimmen intonierte Melodie. »Man hat uns doch verstanden«, rief lachend mein Freund, »und wer kann auch widerstehen, wenn so ein leuchtendes Gespenst gerade in Schußweite kommt?« – »Still!« unterbrach ihn der Begleiter, »was mag das für ein Schwarm sein, der uns dies Signal entgegensingt! Ich rate auf zwanzig bis vierzig Stimmen, kräftige männliche Stimmen – und von wo aus begrüßt uns jener Schwarm? Er scheint noch nicht das jenseitige Ufer des Rheins verlassen zu haben – doch das müssen wir ja sehen können, von unserer Bank aus. Kommen Sie schnell dahin!«

An der Stelle nämlich, auf der wir bis jetzt auf- und abgegangen waren, in der Nähe jenes gewaltigen Baumstumpfes, war die Aussicht nach dem Rheine zu durch das dichte, finstere und hohe Gehölz abgeschnitten. Dagegen habe ich erzählt, daß man von jenem Ruheplatz aus, etwas tiefer als die ebene Fläche auf der Höhe des Berges, einen Durchblick durch die Baumgipfel hindurch hatte und daß gerade der Rhein, mit der Insel Nonnenwörth im Arme, den Mittelpunkt des gerundeten Ausschnittes für den Beschauer ausfüllte. Wir liefen eilig, doch mit Vorsicht für den greisen Philosophen, nach diesem Ruheplatze hin: es war schwarze Dunkelheit im Walde, und den Philosophen rechts und links geleitend, errieten wir mehr den gebahnten Weg, als daß wir ihn wahrnahmen.

Kaum hatten wir die Bänke erreicht, als uns ein feuriges, trübes, breites und unruhiges Leuchten, offenbar von der anderen Seite des Rheines her, ins Auge fiel. »Das sind Fackeln«, rief ich; »nichts ist sicherer, als daß dort drüben meine Kameraden aus Bonn sind und[248] daß Ihr Freund in ihrer Mitte sein muß. Diese haben gesungen, diese werden ihm das Geleit geben. Sehen Sie! Hören Sie! Jetzt steigt man in die Kähne: in wenig mehr als einer halben Stunde wird der Fackelzug hier oben angelangt sein.«

Der Philosoph sprang zurück. »Was sagen Sie?« versetzte er, »Ihre Kameraden aus Bonn, also Studenten, mit Studenten käme mein Freund?«

Diese fast ingrimmig vorgestoßene Frage regte uns auf. »Was haben Sie gegen die Studenten?« entgegneten wir und bekamen keine Antwort. Erst nach einer Weile begann der Philosoph langsam, in klagendem Tone und gleichsam den noch Entfernten anredend: »Also selbst um Mitternacht, mein Freund, selbst auf dem einsamen Berge werden wir nicht allein sein, und du selbst bringst eine Schar studentischer Störenfriede zu mir herauf, der du doch weißt, daß ich diesem genus omne gern und behutsam aus dem Wege gehe. Ich verstehe dich darin nicht, mein ferner Freund: es will doch etwas sagen, wenn wir uns nach langer Trennung zum Wiedersehn zusammenfinden und einen solchen entlegenen Winkel und solche ungewöhnliche Stunden dazu auslesen. Wozu brauchten wir einen Chor von Zeugen und von solchen Zeugen! Was uns ja für heute zusammenruft, das ist doch am wenigsten ein sentimentalisches, weichmütiges Bedürfnis: denn wir haben beide beizeiten gelernt, allein und in würdevoller Isolation leben zu können. Nicht um unsertwillen, etwa um zärtliche Gefühle zu pflegen oder um eine Szene der Freundschaft pathetisch darzustellen, haben wir beschlossen, uns hier zu sehen; sondern hier, wo ich dich einst, in denkwürdiger Stunde, feierlich vereinsamt, antraf, wollten wir miteinander, gleichsam als Ritter einer neuen Feme, des ernstesten Rates pflegen. Mag uns dabei hören, wer uns versteht, aber warum bringst du einen Schwarm mit, der uns gewiß nicht versteht! Ich erkenne dich darin nicht, mein ferner Freund!«

Wir hielten es nicht für schicklich, den so ungemut Klagenden zu unterbrechen: und als er melancholisch verstummte, wagten wir doch nicht, ihm zu sagen, wie sehr uns diese mißtrauische Ablehnung der Studenten verdrießen mußte.

Endlich wendete sich der Begleiter an den Philosophen und sagte:

»Sie erinnern mich, mein Lehrer, daran, daß Sie ja auch in früherer[249] Zeit, bevor ich Sie kennenlernte, an mehreren Universitäten gelebt haben und daß Gerüchte über Ihren Verkehr mit Studierenden, über die Methode Ihres Unterrichts noch aus jener Periode im Umlauf sind. Aus dem Tone der Resignation, mit dem Sie eben von den Studenten sprachen, dürfte mancher wohl auf eigentümliche verstimmende Erfahrungen raten; ich aber glaube vielmehr, daß Sie eben das erfahren und gesehen haben, was jeder dort erfährt und sieht, daß Sie aber dies strenger und richtiger beurteilt haben als jeder andere. Denn soviel habe ich aus Ihrem Umgange gelernt, daß die merkwürdigsten, lehrreichsten und entscheidenden Erfahrungen und Erlebnisse die alltäglichen sind, daß aber gerade das, was als ungeheures Rätsel vor aller Augen liegt, von den wenigsten als Rätsel verstanden wird, und daß für die wenigen rechten Philosophen eben diese Probleme unberührt, mitten auf der Fahrstraße und gleichsam unter den Füßen der Menge, liegenbleiben, um von ihnen dann sorgsam aufgehoben zu werden und von nun an als Edelsteine der Erkenntnis zu leuchten. Vielleicht sagen Sie uns in der kurzen Pause, die uns noch bis zur Ankunft ihres Freundes bleibt, noch etwas über Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen in der Sphäre der Universität und vollenden damit den Kreis der Betrachtungen, zu denen wir unwillkürlich in betreff unserer Bildungsanstalten genötigt worden sind. Zudem sei es uns erlaubt, Sie daran zu erinnern, daß Sie, auf einer früheren Stufe Ihrer Besprechungen, mir sogar eine derartige Verheißung gemacht haben. Von dem Gymnasium ausgehend, behaupteten Sie für dasselbe eine außerordentliche Bedeutung: an seinem Bildungsziele, je nachdem es gesteckt ist, müßten sich alle anderen Institute messen, an den Verirrungen seiner Tendenz hätten jene mitzuleiden. Eine solche Bedeutung, als bewegender Mittelpunkt, könne jetzt selbst die Universität nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die, bei ihrer jetzigen Formation, wenigstens nach einer wichtigen Seite hin nur als Ausbau der Gymnasialtendenz gelten dürfe. Hier versprachen Sie mir eine spätere Ausführung: etwas, was vielleicht auch unsere studierenden Freunde bezeugen können, die unser damaliges Gespräch möglicherweise mit angehört haben.«

»Dies bezeugen wir«, versetzte ich. Der Philosoph wendete sich gegen uns und versetzte: »Nun, wenn ihr wirklich zugehört habt, so könnt ihr mir einmal beschreiben, was ihr, nach allem Gesagten,[250] unter der jetzigen Gymnasialtendenz versteht. Zudem steht ihr dieser Sphäre noch nahe genug, um meine Gedanken an euren Erfahrungen und Empfindungen messen zu können.«

Mein Freund erwiderte, schnell und behend, wie seine Art ist, etwa Folgendes: »Bis jetzt hatten wir immer geglaubt, daß die einzige Absicht des Gymnasiums sei, für die Universität vorzubereiten. Diese Vorbereitung aber soll uns selbständig genug für die außerordentlich freie Stellung eines Akademikers machen. Denn es scheint mir, daß in keinem Gebiete des jetzigen Lebens dem einzelnen so viel zu entscheiden und zu verfügen überlassen sei, wie im Bereiche des studentischen Lebens. Er muß sich selbst, auf einer weiten, ihm völlig freigegebnen Fläche, auf mehrere Jahre hinaus führen können: also wird das Gymnasium versuchen müssen, ihn selbständig zu machen.«

Ich setzte die Rede meines Kameraden fort. »Es scheint mir sogar«, sagte ich, »daß alles das, was Sie, gewiß mit Recht, an dem Gymnasium zu tadeln haben, nur notwendige Mittel sind, um, für ein so jugendliches Alter, eine Art von Selbständigkeit und mindestens den Glauben daran zu erzeugen. Dieser Selbständigkeit soll der deutsche Unterricht dienen: das Individuum muß seiner Ansichten und Absichten zeitig froh werden, um ohne Krücken allein gehen zu können. Deshalb wird es schon frühe zur Produktion und noch früher zu scharfer Beurteilung und Kritik angehalten. Wenn die lateinischen und griechischen Studien auch nicht imstande sind, den Schüler für das ferne Altertum zu entzünden, so erwacht doch wohl, bei der Methode, mit der sie betrieben werden, der wissenschaftliche Sinn, die Lust an strenger Kausalität der Erkenntnis, die Begier zum Finden und Erfinden: wie viele mögen durch eine auf dem Gymnasium gefundene, mit jugendlichem Tasten erhaschte neue Lesart zu den Reizungen der Wissenschaft dauernd verführt worden sein! Vielerlei muß der Gymnasiast lernen und in sich einsammeln: dadurch wird wahrscheinlich allgemach ein Trieb erzeugt, von dem geleitet er dann auf der Universität selbständig in ähnlicher Weise lernt und einsammelt. Kurz, wir glauben, es möge die Gymnasialtendenz sein, den Schüler so vorzubereiten und einzugewöhnen, daß er nachher so selbständig weiterlebe und lerne, wie er unter dem Zwange der Gymnasialordnung leben und lernen mußte.«[251]

Der Philosoph lachte hierauf, doch nicht gerade gutmütig, und versetzte: »Da habt ihr mir sogleich eine schöne Probe dieser Selbständigkeit gegeben. Und gerade diese Selbständigkeit ist es, die mich so erschreckt und mir die Nähe von Studierenden der Gegenwart immer so unerquicklich macht. Ja, meine Guten, ihr seid fertig, ihr seid ausgewachsen, die Natur hat eure Form zerbrochen, und eure Lehrer dürfen sich an euch weiden. Welche Freiheit, Bestimmtheit, Unbekümmertheit des Urteils, welche Neuheit und Frische der Einsicht! Ihr sitzt zu Gericht – und alle Kulturen aller Zeiten laufen davon. Der wissenschaftliche Sinn ist entzündet und schlägt als Flamme aus euch heraus – es hüte sich jeder, an euch nicht zu verbrennen! Nehme ich nun gleich eure Professoren noch hinzu, so bekomme ich dieselbe Selbständigkeit noch einmal, in einer kräftigen und anmutigen Steigerung; nie war eine Zeit so reich an den schönsten Selbständigkeiten, nie haßte man so stark jede Sklaverei, auch freilich die Sklaverei der Erziehung und der Bildung.

Erlaubt mir aber, diese eure Selbständigkeit einmal an dem Maßstabe eben dieser Bildung zu messen und eure Universität nur als Bildungsanstalt in Betracht zu ziehn. Wenn ein Ausländer unser Universitätswesen kennenlernen will, so fragt er zuerst mit Nachdruck:

›Wie hängt bei euch der Student mit der Universität zusammen?‹ Wir antworten: ›Durch das Ohr, als Hörer.‹ Der Ausländer erstaunt. ›Nur durch das Ohr?‹ fragt er nochmals. ›Nur durch das Ohr‹, antworten wir nochmals. Der Student hört. Wenn er spricht, wenn er sieht, wenn er gesellig ist, wenn er Künste treibt, kurz, wenn er lebt, ist er selbständig, das heißt unabhängig von der Bildungsanstalt. Sehr häufig schreibt der Student zugleich, während er hört. Dies sind die Momente, in denen er an der Nabelschnur der Universität hängt. Er kann sich wählen, was er hören will, er braucht nicht zu glauben, was er hört, er kann das Ohr schließen, wenn er nicht hören mag. Dies ist die ›akroamatische‹ Lehrmethode.

Der Lehrer aber spricht zu diesen hörenden Studenten. Was er sonst denkt und tut, ist durch eine ungeheure Kluft von der Wahrnehmung des Studenten abgeschieden. Häufig liest der Professor, während er spricht. Im allgemeinen will er möglichst viele solche Hörer haben, in der Not begnügt er sich mit wenigen, fast nie mit einem.[252] Ein redender Mund und sehr viele Ohren, mit halbsoviel schreibenden Händen – das ist der äußerliche akademische Apparat, das ist die in Tätigkeit gesetzte Bildungsmaschine der Universität. Im übrigen ist der Inhaber dieses Mundes von den Besitzern der vielen Ohren getrennt und unabhängig: und diese doppelte Selbständigkeit preist man mit Hochgefühl als ›akademische Freiheit‹. Übrigens kann der eine – um diese Freiheit noch zu erhöhen – ungefähr reden, was er will, der andre ungefähr hören, was er will: nur daß hinter beiden Gruppen in bescheidener Entfernung der Staat mit einer gewissen gespannten Aufsehermiene steht, um von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, daß er Zweck, Ziel und Inbegriff der sonderbaren Sprech- und Hörprozedur sei.

Wir, denen es einmal gestattet sein muß, dieses überraschende Phänomen nur als Bildungsinstitution zu berücksichtigen, berichten also dem forschenden Ausländer, daß das, was auf unsern Universitäten Bildung ist, aus dem Munde zum Ohre geht, daß alle Erziehung zur Bildung, wie gesagt, nur ›akroamatisch‹ ist. Da aber selbst das Hören und die Auswahl des zu Hörenden dem akademisch freigesinnten Studenten zu selbständiger Entscheidung überlassen ist, da er andererseits allem Gehörten Glaubwürdigkeit und Autorität absprechen kann, so fällt, in einem strengen Sinne, alle Erziehung zur Bildung ihm selbst zu, und die durch das Gymnasium zu erstrebende Selbständigkeit zeigt sich jetzt mit höchstem Stolze als ›akademische Selbsterziehung zur Bildung‹ und prunkt mit ihrem glänzendsten Gefieder.

Glückliche Zeit, in der die Jünglinge weise und gebildet genug sind, um sich selbst am Gängelbande führen zu können! Unübertreffliche Gymnasien, denen es gelingt, Selbständigkeit zu pflanzen, wo andre Zeiten glaubten, Abhängigkeit, Zucht, Unterordnung, Gehorsam pflanzen und allen Selbständigkeitsdünkel abwehren zu müssen! Wird euch hier deutlich, meine Guten, weshalb ich, nach der Seite der Bildung hin, die jetzige Universität als Ausbau der Gymnasialtendenz zu betrachten liebe? Die durch das Gymnasium anerzogene Bildung tritt, als etwas Ganzes und Fertiges, mit wählerischen Ansprüchen in die Tore der Universität: sie fordert, sie gibt Gesetze, sie sitzt zu Gericht. Täuscht euch also über den gebildeten Studenten nicht: dieser ist, soweit er eben die Bildungsweihen empfangen zu haben glaubt,[253] immer noch der in den Händen seiner Lehrer geformte Gymnasiast: als welcher nun, seit seiner akademischen Isolation, und nachdem er das Gymnasium verlassen hat, damit gänzlich aller weiteren Formung und Leitung zur Bildung entzogen ist, um von nun an von sich selbst zu leben und frei zu sein.

Frei! Prüft diese Freiheit, ihr Menschenkenner! Aufgebaut auf dem tönernen Grunde der jetzigen Gymnasialkultur, auf zerbröckelndem Fundamente, steht ihr Gebäude schief gerichtet und unsicher bei dem Anhauche der Wirbelwinde. Seht euch den freien Studenten, den Herold der Selbständigkeitsbildung an, erratet ihn in seinen Instinkten, deutet ihn auch aus seinen Bedürfnissen! Was dünkt euch über seine Bildung, wenn ihr diese an drei Gradmessern zu messen wißt, einmal an seinem Bedürfnis zur Philosophie, sodann an seinem Instinkt für Kunst und endlich an dem griechischen und römischen Altertum als an dem leibhaften kategorischen Imperativ aller Kultur.

Der Mensch ist so umlagert von den ernstesten und schwierigsten Problemen, daß er, in der rechten Weise an sie herangeführt, zeitig in jenes nachhaltige philosophische Erstaunen geraten wird, auf dem allein, als auf einem fruchtbaren Untergrunde, eine tiefere und edlere Bildung wachsen kann. Am häufigsten führen ihn wohl die eigenen Erfahrungen an diese Probleme heran, und besonders in der stürmischen Jugendzeit spiegelt sich fast jedes persönliche Ereignis in einem doppelten Schimmer, als Exemplifikation einer Alltäglichkeit und zugleich eines ewigen erstaunlichen und erklärungswürdigen Problems. In diesem Alter, das seine Erfahrungen gleichsam mit metaphysischen Regenbogen umringt sieht, ist der Mensch auf das höchste einer führenden Hand bedürftig, weil er plötzlich und fast instinktiv sich von der Zweideutigkeit des Daseins überzeugt hat und den festen Boden der bisher gehegten überkommenen Meinungen verliert.

Dieser naturgemäße Zustand höchster Bedürftigkeit muß begreiflicherweise als der ärgste Feind jener beliebten Selbständigkeit gelten, zu der der gebildete Jüngling der Gegenwart herangezogen werden soll. Ihn zu unterdrücken und zu lähmen, ihn abzuleiten oder zu verkümmern sind deshalb alle jene bereits in den Schoß des ›Selbstverstandes‹ eingekehrten Jünger der ›Jetztzeit‹ eifrig bemüht, und das beliebteste Mittel ist, jenen naturgemäßen philosophischen Trieb durch[254] die sogenannte ›historische Bildung‹ zu paralysieren. Ein noch jüngst in skandalöser Weltberühmtheit stehendes System hatte die Formel für diese Selbstvernichtung der Philosophie ausfindig gemacht: und jetzt zeigt sich bereits überall, bei der historischen Betrachtung der Dinge, eine solche naive Unbedenklichkeit, das Unvernünftigste zur ›Vernunft‹ zu bringen und das Schwärzeste als weiß gelten zu lassen, daß man öfters, mit parodistischer Anwendung jenes Hegelschen Satzes, fragen möchte: ›Ist diese Unvernunft wirklich?‹ Ach, gerade das Unvernünftige scheint jetzt allein ›wirklich‹, das heißt wirkend zu sein, und diese Art von Wirklichkeit zur Erklärung der Geschichte bereit zu halten, gilt als eigentliche ›historische Bildung‹. In diese hat sich der philosophische Trieb unserer Jugend verpuppt: in dieser den jungen Akademiker zu bestärken, scheinen sich jetzt die sonderbaren Philosophen der Universitäten verschworen zu haben.

So ist langsam an Stelle einer tiefsinnigen Ausdeutung der ewig gleichen Probleme ein historisches, ja selbst ein philologisches Abwägen und Fragen getreten: was der und jener Philosoph gedacht habe oder nicht, oder ob die und jene Schrift ihm mit Recht zuzuschreiben sei oder gar ob diese oder jene Lesart den Vorzug verdiene. Zu einem derartigen neutralen Sichbefassen mit Philosophie werden jetzt unsere Studenten in den philosophischen Seminarien unserer Universitäten angereizt: weshalb ich mich längst gewöhnt habe, eine solche Wissenschaft als Abzweigung der Philologie zu betrachten und ihre Vertreter danach abzuschätzen, ob sie gute Philologen sind oder nicht. Demnach ist nun freilich die Philosophie selbst von der Universität verbannt: womit unsre erste Frage nach dem Bildungswert der Universitäten beantwortet ist.

Wie diese selbe Universität zur Kunst sich verhält, ist ohne Scham gar nicht einzugestehen: sie verhält sich gar nicht. Von einem künstlerischen Denken, Lernen, Streben, Vergleichen ist hier nicht einmal eine Andeutung zu finden, und gar von einem Votum der Universität zur Förderung der wichtigsten nationalen Kunstpläne wird niemand im Ernste reden mögen. Ob der einzelne Lehrer sich zufällig persönlicher zur Kunst gestellt fühlt oder ob ein Lehrstuhl für ästhetisierende Literarhistoriker gegründet ist, kommt hierbei gar nicht in Betracht: sondern daß die Universität als Ganzes nicht imstande ist, den akademischen[255] Jüngling in strenger künstlerischer Zucht zu halten, und daß sie hier gänzlich willenlos geschehen läßt, was geschieht, darin liegt eine so schneidige Kritik ihres anmaßlichen Anspruchs, die höchste Bildungsanstalt vertreten zu wollen.

Ohne Philosophie, ohne Kunst leben unsere akademischen ›Selbständigen‹ heran: was können sie demnach für ein Bedürfnis haben, sich mit den Griechen und Römern einzulassen, zu denen eine Neigung zu erheucheln jetzt niemand mehr einen Grund hat und die überdies in schwer zugänglicher Einsamkeit und majestätischer Entfremdung thronen. Die Universitäten unserer Gegenwart nehmen deshalb auch konsequenterweise auf solche ganz erstorbene Bildungsneigungen gar keine Rücksicht und errichten ihre philologischen Professuren für die Erziehung neuer exklusiver Philologengenerationen, denen nun wieder die philologische Zurichtung der Gymnasiasten obliegt: ein Kreislauf des Lebens, der weder den Philologen noch den Gymnasien zugute kommt, der aber vor allem die Universität zum dritten Male bezichtigt, nicht das zu sein, wofür sie sich prunkenderweise gern ausgeben möchte – eine Bildungsanstalt. Denn nehmt nur die Griechen samt der Philosophie und der Kunst weg: an welcher Leiter wollt ihr noch zur Bildung emporsteigen? Denn bei dem Versuche, die Leiter ohne jene Hilfe zu erklimmen, möchte euch eure Gelehrsamkeit – das müßt ihr euch schon sagen lassen – vielmehr als eine unbehilfliche Last auf dem Nacken sitzen, als daß sie euch beflügelte und emporzöge.

Wenn ihr nun, ihr Ehrlichen, auf diesen drei Stufen der Einsicht ehrlich geblieben seid und den jetzigen Studenten als ungeeignet und unvorbereitet für Philosophie, als instinktlos für wahre Kunst und als frei sich dünkenden Barbaren, angesichts der Griechen, erkannt habt, so werdet ihr doch nicht beleidigt vor ihm zurückfliehn, wenn ihr auch vielleicht zu nahe Berührungen gerne verhüten möchtet. Denn so wie er ist, ist er unschuldig: so wie ihr ihn erkannt habt, klagt er stumm, doch fürchterlich die Schuldigen an.

Ihr müßtet die geheime Sprache verstehen, die dieser verschuldet Unschuldige vor sich selbst führt: dann würdet ihr auch das innere Wesen jener nach außen hin gern zur Schau getragnen Selbständigkeit verstehen lernen. Keinem der edler ausgerüsteten Jünglinge ist jene rastlose,[256] ermüdende, verwirrende, entnervende Bildungsnot ferngeblieben: für jene Zeit, in der er scheinbar der einzig Freie in einer beamteten und bediensteten Wirklichkeit ist, büßt er jene großartige Illusion der Freiheit durch immer sich erneuernde Qualen und Zweifel. Er fühlt, daß er sich selbst nicht führen, sich selbst nicht helfen kann: dann taucht er sich hoffnungsarm in die Welt des Tages und der Tagesarbeit: die trivialste Geschäftigkeit umhüllt ihn, schlaff sinken seine Glieder. Plötzlich wieder rafft er sich auf: noch fühlt er die Kraft nicht erlahmt, die ihn obenzuhalten vermag. Stolze und edle Entschlüsse bilden sich und wachsen in ihm. Es erschreckt ihn, in enger kleinlicher Fachmäßigkeit so frühe zu versinken; und nun greift er nach Stützen und Pfeilern, um nicht in jene Bahn gerissen zu werden. Umsonst! diese Stützen weichen; denn er hatte fehlgegriffen und an zerbrechlichem Rohre sich festgehalten. In leerer und trostloser Stimmung sieht er seine Pläne verrauchen: sein Zustand ist abscheulich und unwürdig: er wechselt mit überspannter Tätigkeit und melancholischer Erschlaffung. Dann ist er müde, faul, furchtsam vor der Arbeit, vor allem Großen erschreckend und im Hasse gegen sich selbst. Er zergliedert seine Fähigkeiten und glaubt in hohle oder chaotisch ausgefüllte Räume zu sehen. Dann wieder stürzt er aus der Höhe der erträumten Selbsterkenntnis in eine ironische Skepsis. Er entkleidet seine Kämpfe ihrer Wichtigkeit und fühlt sich bereit zu jeder wirklichen, wenn auch niedrigen Nützlichkeit. Er sucht jetzt seinen Trost in einem hastigen unablässigen Tun, um sich unter ihm vor sich selbst zu verstecken. Und so treibt ihn seine Ratlosigkeit und der Mangel eines Führers zur Bildung aus einer Daseinsform in die andre: Zweifel, Aufschwung. Lebensnot, Hoffnung, Verzagen, alles wirft ihn hin und her, zum Zeichen, daß alle Sterne über ihm erloschen sind, nach denen er sein Schiff lenken könnte.

Das ist das Bild jener gerühmten Selbständigkeit, jener akademischen Freiheit, widergespiegelt in den besten und wahrhaft bildungsbedürftigen Seelen: denen gegenüber jene roheren und unbekümmerten Naturen nicht in Betracht kommen, welche sich ihrer Freiheit im barbarischen Sinne freuen. Denn diese zeigen in ihrem niedrig gearteten Behagen und in ihrer fachgemäßen zeitigen Beschränktheit, daß für sie gerade dieses Element das rechte ist: wogegen gar nichts zu[257] sagen ist. Ihr Behagen aber wiegt wahrhaftig nicht das Leiden eines einzigen zur Kultur hingetriebenen und der Führung bedürftigen Jünglings auf, der unmutig endlich die Zügel fallen läßt und sich selbst zu verachten beginnt. Dies ist der schuldlos Unschuldige: denn wer hat ihm die unerträgliche Last aufgebürdet, allein zu stehen? Wer hat ihn in einem Alter zur Selbständigkeit angereizt, in dem Hingebung an große Führer und begeistertes Nachwandeln auf der Bahn des Meisters gleichsam die natürlichen und nächsten Bedürfnisse zu sein pflegen?

Es hat etwas Unheimliches, den Wirkungen nachzudenken, zu denen die gewaltsame Unterdrückung so edler Bedürfnisse führen muß. Wer die gefährlichsten Förderer und Freunde jener von mir so gehaßten Pseudokultur der Gegenwart in der Nähe und mit durchdringendem Auge mustert, findet nur zu häufig gerade unter ihnen solche entartete und entgleiste Bildungsmenschen, durch eine innere Desperation in ein feindseliges Wüten gegen die Kultur getrieben, zu der ihnen niemand den Zugang zeigen wollte. Es sind nicht die Schlechtesten und die Geringsten, die wir dann als Journalisten und Zeitungsschreiber in der Metamorphose der Verzweiflung wiederfinden; ja, der Geist gewisser, jetzt sehr gepflegter Literaturgattungen wäre geradezu zu charakterisieren als desperates Studententum. Wie anders wäre zum Beispiel jenes ehemals wohlbekannte ›junge Deutschland‹ mit seinem bis zum Augenblick fortwuchernden Epigonentum zu verstehen! Hier entdecken wir ein gleichsam wildgewordenes Bildungsbedürfnis, welches sich endlich selbst bis zu dem Schrei erhitzt: ich bin die Bildung! Dort, vor den Toren der Gymnasien und der Universitäten, treibt sich die aus ihm entlaufene und sich nun souverän gebärdende Kultur dieser Anstalten herum; freilich ohne ihre Gelehrsamkeit: so daß zum Beispiel der Romanschreiber Gutzkow am besten als Ebenbild des modernen, bereits literarischen Gymnasiasten zu fassen wäre.

Es ist eine ernste Sache um einen entarteten Bildungsmenschen: und furchtbar berührt es uns, zu beobachten, daß unsre gesamte gelehrte und journalistische Öffentlichkeit das Zeichen dieser Entartung an sich trägt. Wie will man sonst unseren Gelehrten gerecht werden, wenn sie unverdrossen bei dem Werke der journalistischen Volksverführung[258] zuschauen oder gar mithelfen, wie anders, wenn nicht durch die Annahme, daß ihre Gelehrsamkeit etwas Ähnliches für sie sein möge, was für jene die Romanschreiberei, nämlich eine Flucht vor sich selbst, eine asketische Ertötung ihres Bildungstriebs, eine desperate Vernichtung des Individuums. Aus unserer entarteten literarischen Kunst ebensowohl als aus der ins Unsinnige anschwellenden Buchmacherei unserer Gelehrten quillt der gleiche Seufzer hervor: ach, daß wir uns selbst vergessen könnten! Es gelingt nicht: die Erinnerung, durch ganze Berge darübergeschütteten gedruckten Papiers nicht erstickt, sagt doch von Zeit zu Zeit wieder: ›ein entarteter Bildungsmensch! Zur Bildung geboren und zur Unbildung erzogen! Hilfloser Barbar, Sklave des Tages, an die Kette des Augenblicks gelegt und hungernd – ewig hungernd!‹

O der elenden Verschuldet-Unschuldigen! Denn ihnen fehlte etwas, was jedem von ihnen entgegenkommen mußte, eine wahre Bildungsinstitution, die ihnen Ziele, Meister, Methoden, Vorbilder, Genossen geben konnte und aus deren Innerem der kräftigende und erhebende Anhauch des wahren deutschen Geistes auf sie zuströmte. So verkümmern sie in der Wildnis, so entarten sie zu Feinden jenes im Grunde ihnen innig verwandten Geistes; so häufen sie Schuld auf Schuld, schwerere als je eine andre Generation gehäuft hat, das Reine beschmutzend, das Heilige entweihend, das Falsche und Unechte präkonisierend. An ihnen mögt ihr über die Bildungskraft unserer Universitäten zum Bewußtsein kommen und euch die Frage allen Ernstes vorlegen: Was fördert ihr in ihnen? Die deutsche Gelehrsamkeit, die deutsche Empfindsamkeit, den ehrlichen deutschen Trieb zur Erkenntnis, den deutschen der Aufopferung fähigen Fleiß – schöne und herrliche Dinge, um die euch andre Nationen beneiden werden, ja die schönsten und herrlichsten Dinge der Welt, wenn über ihnen allen jener wahre deutsche Geist als dunkle, blitzende, befruchtende, segnende Wolke ausgebreitet läge. Vor diesem Geiste aber fürchtet ihr euch und daher hat sich eine andre Dunstschicht, schwül und schwer, über euren ›Universitäten‹ zusammengezogen, unter der eure edleren Jünglinge mühsam und belastet atmen, unter der die besten zugrunde gehen.

Es gab in diesem Jahrhundert einen tragisch ernsten und einzig belehrenden[259] Versuch, jene Dunstschicht zu zerstreuen und den Ausblick nach dem hohen Wolkengange des deutschen Geistes weithin zu erschließen. Die Geschichte der Universitäten enthält keinen ähnlichen Versuch mehr, und wer das, was hier not tut, eindringlich demonstrieren will, wird nie ein deutlicheres Beispiel finden können. Dies ist das Phänomen der alten ursprünglichen ›Burschenschaft‹.

Im Kriege hatte der Jüngling den unvermuteten würdigsten Kampfpreis heimgetragen, die Freiheit des Vaterlandes: mit diesem Kranze geziert sann er auf Edleres. Zur Universität zurückkehrend, empfand er, schweratmend, jenen schwülen und verderbten Hauch, der über der Stätte der Universitätsbildung lag. Plötzlich sah er mit erschrecktem, weitgeöffnetem Auge die hier unter Gelehrsamkeiten aller Art künstlich versteckte undeutsche Barbarei, plötzlich entdeckte er seine eignen Kameraden, wie sie führerlos einem widerlichen Jugendtaumel überlassen wurden. Und er ergrimmte. Mit der gleichen Miene der stolzesten Empörung erhob er sich, mit der sein Friedrich Schiller einst die ›Räuber‹ vor den Genossen rezitiert haben mochte: und wenn dieser seinem Schauspiel das Bild eines Löwen und die Aufschrift ›in tyrannos‹ gegeben hatte, so war sein Jünger selbst jener zum Sprunge sich anschickende Löwe: und wirklich erzitterten alle ›Tyrannen‹. Ja, diese empörten Jünglinge sahen für den scheuen und oberflächlichen Blick nicht viel anders aus als Schillers Räuber: ihre Reden klangen dem ängstlichen Horcher wohl so, als ob Sparta und Rom gegen sie Nonnenklöster gewesen wären. Der Schrecken über diese empörten Jünglinge war so allgemein, wie ihn nicht einmal jene ›Räuber‹ in der Sphäre der Höfe erregt hatten: von denen doch ein deutscher Fürst, nach Goethes Erklärung, einmal geäußert haben soll: ›wäre er Gott und hätte er die Entstehung der Räuber vorausgesehen, so würde er die Welt nicht geschaffen haben.‹

Woher die unbegreifliche Stärke dieses Schreckens? Denn jene empörten Jünglinge waren die tapfersten, begabtesten und reinsten unten ihren Genossen: eine großherzige Unbekümmertheit, eine edle Einfalt der Sitte zeichnete sie in Gebärde und Tracht aus: die herrlichsten Gebote verknüpften sie untereinander zu strenger und frommer Tüchtigkeit; was konnte man an ihnen fürchten? Es ist nie zur Klarheit zu bringen, wie weit man bei dieser Furcht sich betrog oder sich[260] verstellte oder wirklich das Rechte erkannte: aber ein fester Instinkt sprach aus dieser Furcht und aus der schmachvollen und unsinnigen Verfolgung. Dieser Instinkt haßte mit zähem Hasse zweierlei an der Burschenschaft: einmal ihre Organisation, als den ersten Versuch einer wahren Bildungsinstitution, und sodann den Geist dieser Bildungsinstitution, jenen männlich ernsten, schwergemuten, harten und kühnen deutschen Geist, jenen aus der Reformation her gesund bewahrten Geist des Bergmannssohnes Luther.

An das Schicksal der Burschenschaft denkt nun, wenn ich frage: hat die deutsche Universität damals jenen Geist verstanden, als sogar die deutschen Fürsten ihn in ihrem Hasse verstanden zu haben scheinen? Hat sie kühn und entschieden ihren Arm um ihre edelsten Söhne geschlungen, mit dem Worte, ›mich müßt ihr töten, ehe ihr diese tötet‹? – Ich höre eure Antwort: an ihr sollt ihr ermessen, ob die deutsche Universität eine deutsche Bildungsanstalt ist.

Damals hat der Student geahnt, in welchen Tiefen eine wahre Bildungsinstitution wurzeln muß: nämlich in einer innerlichen Erneuerung und Erregung der reinsten sittlichen Kräfte. Und dies soll dem Studenten immerdar zu seinem Ruhme nacherzählt werden. Auf den Schlachtfeldern mag er gelernt haben, was er am wenigsten in der Sphäre der ›akademischen Freiheit‹ lernen konnte: daß man große Führer braucht, und daß alle Bildung mit dem Gehorsam beginnt. Und mitten in dem siegreichen Jubel, im Gedanken an sein befreites Vaterland hatte er sich das Gelöbnis gegeben, deutsch zu bleiben. Deutsch! Jetzt lernte er den Tacitus verstehn, jetzt begriff er den kategorischen Imperativ Kants, jetzt entzückte ihn die Leier- und Schwertweise Karl Maria von Webers. Die Tore der Philosophie, der Kunst, ja des Altertums sprangen vor ihm auf – und in einer der denkwürdigsten Bluttaten, in der Ermordung Kotzebues rächte er, mit tiefem Instinkte und schwärmerischer Kurzsichtigkeit, seinen einzigen, zu zeitig am Widerstande der stumpfen Welt verzehrten Schiller, der ihm hätte Führer, Meister, Organisator sein können und den er jetzt mit so herzlichem Ingrimme vermißte.

Denn das war das Verhängnis jener ahnungsvollen Studenten: sie fanden die Führer nicht, die sie brauchten. Allmählich wurden sie untereinander selbst unsicher, uneins, unzufrieden; unglückliche Ungeschicktheiten[261] verrieten nur zu bald, daß es an dem alles überschattenden Genius in ihrer Mitte mangele: und jene mysteriöse Bluttat verriet neben einer erschreckenden Kraft auch eine erschreckende Gefährlichkeit jenes Mangels. Sie waren führerlos – und darum gingen sie zugrunde.

Denn ich wiederhole es, meine Freunde! – alle Bildung fängt mit dem Gegenteile alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit. Und wie die großen Führer der Gefährten bedürfen, so bedürfen die zu Führenden der Führer: Hier herrscht in der Ordnung der Geister eine gegenseitige Prädisposition, ja eine Art von prästabilierter Harmonie. Dieser ewigen Ordnung, zu der mit naturgemäßem Schwergewichte die Dinge immer wieder hinstreben, will gerade jene Kultur störend und vernichtend entgegenarbeiten, jene Kultur, die jetzt auf dem Throne der Gegenwart sitzt. Sie will die Führer zu ihrem Frondienste erniedrigen oder sie zum Verschmachten bringen: sie lauert den zu Führenden auf, wenn sie nach ihrem prädestinierten Führer suchen, und übertäubt durch berauschende Mittel ihren suchenden Instinkt. Wenn aber trotzdem die füreinander Bestimmten sich kämpfend und verwundet zusammengefunden haben, dann gibt es ein tief erregtes wonniges Gefühl, wie bei dem Erklingen eines ewigen Saitenspiels, ein Gefühl, das ich euch nur mit einem Gleichnisse erraten lassen möchte.

Habt ihr euch einmal, in einer Musikprobe, mit einiger Teilnahme die sonderbare verschrumpft-gutmütige Spezies des Menschengeschlechts angesehn, aus der das deutsche Orchester sich zu bilden pflegt? Welche Wechselspiele der launenhaften Göttin ›Form‹! Welche Nasen und Ohren, welche ungelenken oder klapperdürr-raschelnden Bewegungen! Denkt einmal, daß ihr taub wäret und von der Existenz des Tons und der Musik nicht einmal etwas geträumt hättet, und daß ihr das Schauspiel einer Orchesterevolution rein als plastische Artisten genießen solltet: ihr würdet euch, ungestört durch die idealisierende Wirkung des Tons, gar nicht satt sehen können an der mittelalterlich derben Holzschnittmanier dieser Komik, an dieser harmlosen Parodie auf den homo sapiens.

Nun denkt euch wiederum euren Sinn für Musik wiederkehrend,[262] eure Ohren erschlossen und an der Spitze des Orchesters einen ehrsamen Taktschläger in angemessener Tätigkeit: die Komik jener Figurationen ist jetzt für euch nicht mehr da, ihr hört – aber der Geist der Langeweile scheint euch aus dem ehrsamen Taktschläger auf seine Gesellen überzugehen. Ihr seht nur noch das Schlaffe, Weichliche, ihr hört nur noch das Rhythmisch-Ungenaue, das Melodisch-Gemeine und Trivial-Empfundene. Das Orchester wird für euch eine gleichgültig/verdrießliche oder eine geradezu widerwärtige Masse.

Endlich aber setzt mit beflügelter Phantasie einmal ein Genie, ein wirkliches Genie mitten in diese Masse hinein – sofort merkt ihr etwas Unglaubliches. Es ist, als ob dieses Genie in blitzartiger Seelenwanderung in alle diese halben Tierleiber gefahren sei, und als ob jetzt aus ihnen allen wiederum nur das eine dämonische Auge herausschaue. Nun aber hört und seht – ihr werdet nie genug hören können! Wenn ihr jetzt wieder das erhaben stürmende oder innig klagende Orchester betrachtet, wenn ihr behende Spannung in jeder Muskel und rhythmische Notwendigkeit in jeder Gebärde ahnt, dann werdet ihr mitfühlen, was eine prästabilierte Harmonie zwischen Führer und Geführten ist, und wie in der Ordnung der Geister alles auf eine derartig aufzubauende Organisation hindrängt. An meinem Gleichnisse aber deutet euch, was ich wohl unter einer wahren Bildungsanstalt verstanden haben möchte und weshalb ich auch in der Universität eine solche nicht im entferntesten wiedererkenne.«

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 247-263.
Lizenz:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon