[563] Wenn man auch noch so bescheiden in seinem Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit ist, man kann nicht verhindern, bei der Berührung mit dem Neuen Testament etwas wie ein unaussprechliches Mißbehagen zu empfinden: denn die zügellose Frechheit des Mitredenwollens Unberufenster über die großen Probleme, ja ihr Anspruch auf Richtertum in solchen Dingen übersteigt jedes Maß. Die unverschämte Leichtfertigkeit, mit der hier von den unzugänglichsten Problemen (Leben, Welt, Gott, Zweck des Lebens) geredet wird, wie als ob sie keine Probleme wären, sondern einfach Sachen, die diese kleinen Mucker wissen!
[201]
Die Intoleranz der Moral ist ein Ausdruck von der Schwäche des Menschen: er fürchtet sich vor seiner »Unmoralität«, er muß seine stärksten Triebe verneinen, weil er sie noch nicht zu benutzen weiß. So liegen die fruchtbarsten Striche der Erde am längsten unbebaut: – die Kraft fehlt, die hier Herr werden könnte...
[385]
Das »Ding an sich« widersinnig. Wenn ich alle Relationen, alle »Eigenschaften«, alle »Tätigkeiten« eines Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding übrig: weil Dingheit erst von uns hinzufingiert ist aus logischen Bedürfnissen, also zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung (zur Bindung jener Vielheit von Relationen, Eigenschaften, Tätigkeiten).
[558]
Der neuere Mensch hat seine idealisierende Kraft in Hinsicht auf einen Gott zumeist in einer wachsenden Vermoralisierung desselben ausgeübt – was bedeutet das? – Nichts Gutes, ein Abnehmen der Kraft des Menschen.
An sich wäre nämlich das Gegenteil möglich: und es gibt Anzeichen[563] davon. Gott, gedacht als das Freigewordensein von der Moral, die ganze Fülle der Lebensgegensätze in sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend, rechtfertigend – Gott als das Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von »Gut und Böse«.
[1035]
Dies war die verhängnisvollste Art Größenwahn, die bisher auf Erden dagewesen ist: – wenn diese verlogenen kleinen Mißgeburten von Muckern anfangen, die Worte »Gott«, »Jüngstes Gericht«, »Wahrheit«, »Liebe«, »Weisheit«, »Heiliger Geist« für sich in Anspruch zu nehmen und sich damit gegen »die Welt« abzugrenzen, wenn diese Art Mensch anfängt, die Werte nach sich umzudrehen, wie als ob sie der Sinn, das Salz, das Maß und Gewicht vom ganzen Rest wären: so sollte man ihnen Irrenhäuser bauen und nichts weiter tun. Daß man sie verfolgte, das war eine antike Dummheit großen Stils: damit nahm man sie zu ernst, damit machte man aus ihnen einen Ernst.
Das ganze Verhängnis war dadurch ermöglicht, daß schon eine verwandte Art von Größenwahn in der Welt war, der jüdische (– nachdem einmal die Kluft zwischen den Juden und den Christen-Juden auf – gerissen, mußten die Christen-Juden die Prozedur der Selbsterhaltung, welche der jüdische Instinkt erfunden hatte, nochmals und in einer letzten Steigerung zu ihrer Selbsterhaltung anwenden –); andererseits dadurch, daß die griechische Philosophie der Moral alles getan hatte, um einen Moral-Fanatismus selbst unter Griechen und Römern vorzubereiten und schmackhaft zu machen... Plato, die große Zwischenbrücke der Verderbnis, der zuerst die Natur in der Moral nicht verstehen wollte, der bereits die griechischen Götter mit seinem Begriff »gut« entwertet hatte, der bereits jüdisch – angemuckert war (– in Ägypten?).
[202]
Das Dasein im ganzen von Dingen behaupten, von denen wir gar nichts wissen, exakt weil ein Vorteil darin liegt, nichts von ihnen wissen zu können, war eine Naivität Kants, Folge eines Nachschlags von Bedürfnissen, namentlich moralisch-metaphysischen.
[571]
Die tiefe Unwürdigkeit, mit der alles Leben außerhalb des christlichen beurteilt wird: es genügt ihnen nicht, ihre eigentlichen Gegner sich[564] gemein zu denken, sie brauchen nichts weniger als eine Gesamtverleumdung von allem, was nicht sie sind... Mit der Arroganz der Heiligkeit verträgt sich aufs beste eine niederträchtige und verschmitzte Seele: Zeugnis die ersten Christen.
Die Zukunft: sie lassen es sich tüchtig bezahlen... Es ist die unsauberste Art Geist, die es gibt. Das ganze Leben Christi wird so dargestellt, daß er den Weissagungen zum Recht verhilft: er handelt so, damit sie Recht bekommen...
[188]
»Seid einfach« – eine Aufforderung an uns verwickelte und unfaßbare Nierenprüfer, welche eine einfache Dummheit ist... Seid natürlich: aber wie, wenn man eben »unnatürlich« ist?...
[66]
Die psychologische Voraussetzung: die Unwissenheit und Unkultur, die Ignoranz, die jede Scham verlernt hat: man denke sich diese unverschämten Heiligen mitten in Athen;
: der jüdische »Auserwählten«-Instinkt: sie nehmen alle Tugenden ohne weiteres für sich in Anspruch und rechnen den Rest der Welt als ihren Gegensatz; tiefes Zeichen der Gemeinheit der Seele;
: der vollkommene Mangel an wirklichen Zielen, an wirklichen Aufgaben, zu denen man andere Tugenden als die der Mucker braucht, – der Staat nahm ihnen diese Arbeit ab: das unverschämte Volk tat trotzdem, als ob sie ihn nicht nötig hätten.
»So ihr nicht werdet wie die Kinder –«: o wie fern wir von dieser psychologischen Naivität sind!
[197]
»Die Moral um der Moral willen« – eine wichtige Stufe in ihrer Entnaturalisierung: sie erscheint selbst als letzter Wert. In dieser Phase hat sie die Religion mit sich durchdrungen: im Judentum z. B. Und ebenso gibt es eine Phase, wo sie die Religion wieder von sich abtrennt und wo ihr kein Gott »moralisch« genug ist: dann zieht sie das unpersönliche Ideal vor... Das ist jetzt der Fall.
»Die Kunst um der Kunst willen«. – das ist ein gleichgefährliches Prinzip: damit bringt man einen falschen Gegensatz in die Dinge, – es läuft auf eine Realitäts-Verleumdung (»Idealisierung« ins Häßliche) hinaus. Wenn man ein Ideal ablöst vom Wirklichen, so stößt man das[565] Wirkliche hinab, man verarmt es, man verleumdet es. »Das Schöne um des Schönen willen», »das Wahren um des Wahren willen«, »das Gute um des Guten willen« – das sind drei Formen des bösen Blicks für das Wirkliche.
– Kunst, Erkenntnis, Moral sind Mittel: statt die Absicht auf Steigerung des Lebens in ihnen zu erkennen, hat man sie zu einem Gegensatz des Lebens in Bezug gebracht, zu »Gott«, – gleichsam als Offenbarungen einer höheren Welt, die durch diese hie und da hindurchblickt...
»Schon und häßlich«, »wahr und falsch«, »gut und böse« – diese Scheidungen und Antagonismen verraten Daseins – und Steigerungsbedingungen, nicht vom Menschen überhaupt, sondern von irgendwelchen festen und dauerhaften Komplexen, welche ihre Widersacher von sich abtrennen. Der Krieg, der damit geschaffen wird, ist das Wesentliche daran: als Mittel der Absonderung, die die Isolation verstärkt...
[298]
Heidnisch – christlich. Heidnisch ist das Jasagen zum Natürlichen, das Unschuldsgefühl im Natürlichen, »die Natürlichkeit«. Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl im Natürlichen, die Widernatürlichkeit.
»Unschuldig« ist z. B. Petronius: ein Christ hat im Vergleich mit diesem Glücklichen ein für allemal die Unschuld verloren. Da aber zuletzt auch der christliche status bloß ein Naturzustand sein muß, sich aber nicht als solchen begreifen darf, so bedeutet »christlich« eine zum Prinzip erhobene Falschmünzerei der psychologischen Interpretation...
[147]
Konsequenz des Kampfes: der Kämpfende sucht seinen Gegner zu seinem Gegensatz umzubilden – in der Vorstellung natürlich. Er sucht an sich bis zu dem Grade zu glauben, daß er den Mut der »guten Sache« haben kann (als ob er die gute Sache sei); wie als ob die Vernunft, der Geschmack, die Tugend von seinem Gegner bekämpft werde... Der Glaube, den er nötig hat, als stärkstes Defensiv- und Aggressiv-Mittel, ist ein Glaube an sich, der sich aber als Glaube an Gott zu mißverstehen weiß: – sich nie die Vorteile und Nützlichkeiten des Sieges vorstellen, sondern immer nur den Sieg um des Sieges willen, als »Sieg Gottes« –. Jede kleine im Kampf befindliche Gemeinschaft (selbst einzelne) sucht sich zu überreden: »Wir haben den[566] guten Geschmack, das gute Urteil und die Tugend für uns...«. Der Kampf zwingt zu einer solchen Übertreibung der Selbstschätzung...
[348]
Im Buddhismus überwiegt dieser Gedanke: »Alle Begierden, alles, was Affekt, was Blut macht, zieht zu Handlungen fort« – nur insofern wird gewarnt vor dem Bösen. Denn Handeln – das hat keinen Sinn, Handeln hält im Dasein fest: alles Dasein aber hat keinen Sinn. Sie sehen im Bösen den Antrieb zu etwas Unlogischem: zur Bejahung von Mitteln, deren Zweck man verneint. Sie suchen nach einem Wege zum Nichtsein, und deshalb perhorreszieren sie alle Antriebe seitens der Affekte. Z. B. ja nicht sich rächen! ja nicht feind sein! – Der Hedonismus der Müden gibt hier die höchsten Wertmaße ab. Nichts ist dem Buddhisten ferner als der jüdische Fanatismus eines Paulus:
nichts würde mehr seinem Instinkt widerstreben als diese Spannung, Flamme, Unruhe des religiösen Menschen, vor allem jene Form der Sinnlichkeit, welche das Christentum mit dem Namen der »Liebe« geheiligt hat. Zu alledem sind es die gebildeten und sogar übergeistigten Stände, die im Buddhismus ihre Rechnung finden: eine Rasse, durch einen jahrhundertelangen Philosophen-Kampf abgesotten und müde ge macht, nicht aber unterhalb aller Kultur wie die Schichten, aus denen das Christentum entsteht... Im Ideal des Buddhismus erscheint das Loskommen auch von Gut und Böse wesentlich: es wird da eine raffinierte Jenseitigkeit der Moral ausgedacht, die mit dem Wesen der Vollkommenheit zusammenfällt, unter der Voraussetzung, daß man auch die guten Handlungen bloß zeitweilig nötig hat, bloß als Mittel, -nämlich um von allem Handeln loszukommen.
[155]
Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt; hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das »göttlich«, das leibhafte Moral wäre.
Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen »Wahrhaftigkeit«; somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral.
[3]
Dies ist die Antinomie:[567]
Sofern wir an die Moral glauben, verurteilen wir das Dasein.
[6]
Die Logik des Pessimismus bis zum letzten Nihilismus: was treibt da? -Begriff der Wertlosigkeit, Sinnlosigkeit: inwiefern moralische Wertungen hinter allen sonstigen hohen Werten stecken.
– Resultat: die moralischen Werturteile sind Verurteilungen, Verneinungen; Moral ist die Abkehr vom Willen zum Dasein...
[11]
Ich betrachte das Christentum als die verhängnisvollste Lüge der Verführung, die es bisher gegeben hat, als die große unheilige Lüge: ich ziehe seinen Nachwuchs und Ausschlag von Ideal noch unter allen sonstigen Verkleidungen heraus, ich wehre alle Halb- und Dreiviertels/Stellungen zu ihm ab – ich zwinge zum Krieg mit ihm.
Die Kleine-Leute-Moralität als Maß der Dinge: das ist die ekelhafteste Entartung, welche die Kultur bisher aufzuweisen hat. Und diese Art Ideal als »Gott« hängenbleibend über der Menschheit!!
[200]
Auch die Christen haben es gemacht wie die Juden und das, was sie als Existenzbedingung und Neuerung empfanden, ihrem Meister in den Mund gelegt und sein Leben damit inkrustiert. Insgleichen haben sie die ganze Spruchweisheit ihm zurückgegeben –: kurz, ihr tatsächliches Leben und Treiben als einen Gehorsam dargestellt und dadurch für ihre Propaganda geheiligt.
Woran alles hängt, das ergibt sich bei Paulus: es ist wenig. Das andere ist die Ausgestaltung eines Typus von Heiligen, aus dem, was ihnen als heilig galt.
Die ganze »Wunderlehre«, eingerechnet die Auferstehung, ist eine Konsequenz der Selbstverherrlichung der Gemeinde, welche das, was sie sich selber zutraute, in höherem Grade ihrem Meister zutraute (resp. aus ihm ihre Kraft ableitete...).
[190]
Wann auch die »Herren« Christen werden können. – Es liegt in dem Instinkt einer Gemeinschaft (Stamm, Geschlecht, Herde, Gemeinde), die Zustände und Begehrungen, denen sie ihre Erhaltung verdankt, als an sich wertvoll zu empfinden, z. B. Gehorsam, Gegenseitigkeit, Rücksicht, Mäßigkeit, Mitleid – somit alles, was denselben im Wege steht[568] oder widerspricht, herabzudrücken.
Es liegt insgleichen in dem Instinkt der Herrschenden (seien es einzelne, seien es Stände), die Tugenden, auf welche hin die Unterworfenen handlich und ergeben sind, zu patronisieren und auszuzeichnen (– Zustände und Affekte, die den eignen so fremd wie möglich sein können).
Der Herdeninstinkt und der Instinkt der Herrschenden kommen im Loben einer gewissen Anzahl von Eigenschaften und Zuständen überein -aber aus verschiedenen Gründen: der erste aus unmittelbarem Egoismus, der zweite aus mittelbarem Egoismus.
Die Unterwerfung der Herren-Rassen unter das Christentum ist wesentlich die Folge der Einsicht, daß das Christentum eine Herdenreligion ist, daß es Gehorsam lehrt: kurz, daß man Christen leichter beherrscht als Nichtchristen. Mit diesem Wink empfiehlt noch heute der Papst dem Kaiser von China die christliche Propaganda.
Es kommt hinzu, daß die Verführungskraft des christlichen Ideals am stärksten vielleicht auf solche Naturen wirkt, welche die Gefahr, das Abenteuer und das Gegensätzliche lieben, welche alles lieben, wobei sie sich riskieren, wobei aber ein non plus ultra von Machtgefühl erreicht werden kann. Man denke sich die heilige Theresa, inmitten der heroischen Instinkte ihrer Brüder: – das Christentum erscheint da als eine Form der Willens-Ausschweifung, der Willensstärke, als eine Donquijoterie des Heroismus...
[216]
Daß es nicht darauf ankommt, ob etwas wahr ist, sondern wie es wirkt –: absoluter Mangel an intellektueller Rechtschaffenheit. Alles ist gut, die Lüge, die Verleumdung, die unverschämteste Zurechtmachung, wenn es dient, jenenWärmegrad zu erhöhen, – bis man »glaubt« –.
Eine förmliche Schule der Mittel der Verführung zu einem Glauben: prinzipielle Verachtung der Sphären, woher der Widerspruch kommen könnte (– der Vernunft, der Philosophie und Weisheit, des Mißtrauens, der Vorsicht); ein unverschämtes Loben und Verherrlichen der Lehre unter beständiger Berufung darauf, daß Gott es sei, der sie gebe, – daß der Apostel nichts bedeute, – daß hier nichts zu kritisieren sei, sondern nur zu glauben, anzunehmen; daß es die außerordentlichste Gnade und Gunst sei, eine solche Erlösungslehre zu empfangen; daß[569] die tiefste Dankbarkeit und Demut der Zustand sei, in dem man sie zu empfangen habe...
Es wird beständig spekuliert auf die Ressentiments, welche diese Niedrig-Gestellten gegen alles, was in Ehren ist, empfinden: daß man ihnen diese Lehre als Gegensatz-Lehre gegen die Weisheit der Welt, gegen die Macht der Welt darstellt, das verführt zu ihr. Sie überredet die Ausgestoßenen und Schlechtweggekommenen aller Art; sie verspricht die Seligkeit, den Vorzug, das Privilegium den Unscheinbarsten und Demütigsten; sie fanatisiert die armen, kleinen, törichten Köpfe zu einem unsinnigen Dünkel, wie als ob sie der Sinn und das Salz der Erde wären –.
Das alles, nochmals gesagt, kann man nicht tief genug verachten. Wir ersparen uns die Kritik der Lehre; es genügt, die Mittel anzusehn, deren sie sich bedient, um zu wissen, womit man es zu tun hat. Sie akkordierte mit der Tugend, sie nahm die ganze Faszinations-Kraft der Tugend schamlos für sich allein in Anspruch... sie akkordierte mit der Macht des Paradoxen, mit dem Bedürfnis alter Zivilisationen nach Pfeffer und Widersinn; sie verblüffte, sie empörte, sie reizte auf zu Verfolgung und zu Mißhandlung –.
Es ist genau dieselbe Art durchdachter Nichtswürdigkeit, mit der die jüdische Priesterschaft ihre Macht festgestellt hat und die jüdische Kirche geschaffen worden ist...
Man soll unterscheiden: 1.jene Wärme der Leidenschaft »Liebe« (auf dem Untergrund einer hitzigen Sinnlichkeit ruhend); 2. das absolut Unvornehme des Christentums: – die beständige Übertreibung, die Geschwätzigkeit; – den Mangel an kühler Geistigkeit und Ironie; – das Unmilitärische in allen Instinkten; – das priesterliche Vorurteil gegen den männlichen Stolz, gegen die Sinnlichkeit, die Wissenschaften, die Künste.
[172]
Die Realität, auf der das Christentum sich aufbauen konnte, war die kleine jüdische Familie der Diaspora mit ihrer Wärme und Zärtlichkeit, mit ihrer im ganzen römischen Reiche unerhörten und vielleicht unverstandenen Bereitschaft zum Helfen, Einstehen füreinander, mit ihrem verborgenen und in Demut verkleideten Stolz der »Auserwählten«, mit ihrem innerlichsten Neinsagen ohne Neid zu allem, was[570] obenauf ist und was Glanz und Macht für sich hat. Das als Macht erkannt zu haben, diesen seligen Zustand als mitteilsam, verführerisch, ansteckend auch für Heiden erkannt zu haben – ist das Genie des Paulus: den Schatz von latenter Energie, von klugem Glück auszunützen zu einer »jüdischen Kirche freieren Bekenntnisses«, die ganze jüdische Erfahrung und Meisterschaft der Gemeinde-Selbsterhaltung unter der Fremdherrschaft, auch die jüdische Propaganda – das erriet er als seine Aufgabe. Was er vorfand, das war eben jene absolut unpolitische und abseits gestellte Art kleiner Leute: ihre Kunst, sich zu behaupten und durchzusetzen, in einer Anzahl Tugenden angezüchtet, welche den einzigen Sinn von Tugend ausdrückten (»Mittel der Erhaltung und Steigerung einer bestimmten An Mensch«).
Aus der kleinen jüdischen Gemeinde kommt das Prinzip der Liebe her: es ist eine leidenschaftlichere Seele, die hier unter der Asche von Demut und Armseligkeit glüht; so war es weder griechisch noch indisch noch gar germanisch. Das Lied zu Ehren der Liebe, welches Paulus gedichtet hat, ist nichts Christliches, sondern ein jüdisches Auflodern der ewigen Flamme, die semitisch ist. Wenn das Christentum etwas Wesentliches in psychologischer Hinsicht getan hat, so ist es eine Erhöhung der Temperatur der Seele bei jenen kälteren und vornehmeren Rassen, die damals obenauf waren; es war die Entdeckung, daß das elendeste Leben reich und unschätzbar werden kann durch eine Temperatur-Erhöhung...
Es versteht sich, daß eine solche Übertragung nicht stattfinden konnte in Hinsicht auf die herrschenden Stände: die Juden und Christen hatten die schlechten Manieren gegen sich, – und was Stärke und Leidenschaft der Seele bei schlechten Manieren ist, das wirkt abstoßend und beinahe ekelerregend (– ich sehe diese schlechten Manieren, wenn ich das Neue Testament lese). Man mußte durch Niedrigkeit und Not mit dem hier redenden Typus des niederen Volkes verwandt sein, um das Anziehende zu empfinden... Es ist eine Probe davon, ob man etwas klassischen Geschmack im Leibe hat, wie man zum Neuen Testament steht (vgl. Tacitus); wer davon nicht revoltiert ist, wer dabei nicht ehrlich und gründlich etwas von foeda superstitio empfindet, etwas, wovon man die Hand zurückzieht, wie um nicht sich zu beschmutzen: der weiß nicht, was klassisch ist. Man muß das »Kreuz« empfinden wie Goethe –
[175]
[571]
Das »christliche Ideal«: jüdisch klug in Szene gesetzt. Die psychologischen Grundtriebe, seine »Natur«:
der Aufstand gegen die herrschende geistliche Macht;
Versuch, die Tugenden, unter denen das Glück der Niedrigsten möglich ist, zum richterlichen Ideal aller Werte zu machen, – es Gott zu heißen: der Erhaltungs-Instinkt der lebensärmsten Schichten;
die absolute Enthaltung von Krieg und Widerstand aus dem Ideal zu rechtfertigen, – insgleichen den Gehorsam;
die Liebe untereinander, als Folge der Liebe zu Gott.
Kunstgriff: alle natürlichen mobilia ableugnen und umkehren ins Geistlich-Jenseitige... die Tugend und deren Verehrung ganz und gar für sich ausnützen, schrittweise sie allem Nicht-Christlichen absprechen.
[185]
Es ist heute in der Gesellschaft eine große Menge von Rücksicht, von Takt und Schonung, von gutwilligem Stehenbleiben vor fremden Rechten, selbst vor fremden Ansprüchen verbreitet; mehr noch gilt eine gewisse wohlwollende Instinkt-Abschätzung des menschlichen Wertes überhaupt, welche sich im Vertrauen und Kredit jeder Art zu erkennen gibt; die Achtung vor den Menschen – und zwar ganz und gar nicht bloß vor den tugendhaften Menschen – ist vielleicht das Element, welches uns am stärksten von einer christlichen Wertung abtrennt. Wir haben ein gut Teil Ironie, wenn wir noch Moral predigen hören; man erniedrigt sich in unsern Augen und wird scherzhaft, falls man Moral predigt.
Diese moralistische Liberalität gehört zu den besten Zeichen unsrer Zeit. Finden wir Fälle, wo sie entschieden fehlt, so mutet uns das wie Krankheit an (der Fall Carlyle in England, der Fall Ibsen in Norwegen, der Fall des Schopenhauerschen Pessimismus in ganz Europa). Wenn irgend etwas mit unsrer Zeit versöhnt, so ist es das große Quantum Immoralität, welches sie sich gestattet, ohne darum von sich geringer zu denken. Im Gegenteil! Was macht denn die Überlegenheit der Kultur gegen die Unkultur aus? der Renaissance z. B. gegen das Mittelalter? – Immer nur eins: das große Quantum zugestandener Immoralität. Daraus folgt, mit Notwendigkeit, als was alle Höhen der menschlichen Entwicklung sich dem Auge der Moraläl-Fanatiker darstellen müssen: als non plus ultra der Korruption (– man denke an[572] Savonarolas Urteil über Florenz, an Platos Urteil über das Perikleische Athen, an Luthers Urteil über Rom, an Rousseaus Urteil über die Gesellschaft Voltaires, an das deutsche Urteil contra Goethe).
[747]
Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem »Recht auf Philosophie«. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Mut zu sich selber zu erhalten.
[893]
Man muß zusammenrechnen, was alles sich gehäuft hatte, als Folge der höchsten moralischen Idealität: wie sich fast alle sonstigen Werte um das Ideal kristallisiert hatten. Das beweist, daß es am längsten, am stärksten begehrt worden ist, – daß es nicht erreicht worden ist: sonst würde es enttäuscht haben (resp. eine mäßigere Wertung nach sich gezogen haben).
Der Heilige als die mächtigste Spezies Mensch –: diese Idee hat den Wert der moralischen Vollkommenheit so hoch gehoben. Man muß die gesamte Erkenntnis sich bemüht denken, zu beweisen, daß der moralischste Mensch der mächtigste, göttlichste ist. – Die Überwältigung der Sinne, der Begierden – alles erregte Furcht; – das Widernatürliche erschien als das Übernatürliche, Jenseitige...
[359]
Verstecktere Formen des Kultus des christlichen Moral-Ideals. – Der weichliche und feige Begriff »Natur«, der von den Naturschwärmern auf-gebracht ist (– abseits von allen Instinkten für das Furchtbare, Unerbittliche und Zynische auch der »schönsten« Aspekte), eine Art Versuch, jene moralisch-christliche »Menschlichkeit« aus der Natur herauszulesen, – der Rousseausche Naturbegriff, wie als ob »Natur« Freiheit, Güte, Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit, Idyll sei, – immer Kultus der christlichen Moral im Grunde. – Stellen zu sammeln, was eigentlich die Dichter verehrt haben, z. B. am Hochgebirge usw. – Was Goethe an ihr haben wollte, – warum er Spinoza verehrte –. Vollkommene Unwissenheit der Voraussetzung dieses Kultus...
Der weichliche und feige Begriff »Mensch« á la Comte und Stuart Mill, womöglich gar Kultus-Gegenstand... Es ist immer wieder der Kultus der christlichen Moral unter einem neuen Namen... Die Freidenker, z. B. Guyau.[573]
Der weichliche und feige Begriff »Kunst«, als Mitgefühl für alles Leidende, Schlechweggekommene (selbst die Historie, z. B. Thierrys): es ist immer wieder der Kultus des christlichen Moral-Ideals.
Und nun gar das ganze sozialistische Ideal: nichts als ein tölpelhaftes Mißverständnis jenes christlichen Moral-Ideals.
[340]
Die Begierde vergrößert das, was man haben will; sie wächst selbst durch Nichterfüllung, – die größten Ideen sind die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat. Wir legen den Dingen immer mehr Wert bei, je mehr unsre Begierde nach ihnen wächst: wenn die »moralischen Werte« die höchsten Werte geworden sind, so verrät dies, daß das moralische Ideal das unerfüllteste gewesen ist (– insofern es galt als Jenseits alles Leids, als Mittel der Seligkeit). Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst nur Wolken umarmt: sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen »Gott« genannt...
[336]
Der tragische Künstler. – Es ist die Frage der Kraft (eines einzelnen oder eines Volkes), ob und wo das Urteil »schön« angesetzt wird. Das Gefühl der Fülle, der aufgestauten Kraft (aus dem es erlaubt ist, vieles mutig und wohlgemut entgegenzunehmen, vor dem der Schwächling schaudert) – das Machtgefühl spricht das Urteil »schön« noch über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der Ohnmacht nur als hassenwert, als »häßlich« abschätzen kann. Die Witterung dafür, womit wir ungefähr fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung – diese Witterung bestimmt auch noch unser ästhetisches Ja. (»Das ist schön« ist eine Bejahung.)
Daraus ergibt sich, ins Große gerechnet, daß die Vorliebe für fragwürdige und furchtbare Dinge ein Symptom für Stärke ist: während der Geschmack am Hübschen und Zierlichen den Schwachen, den Delikaten zugehört. Die Lust an der Tragödie kennzeichnet starke Zeitalter und Charaktere: ihr non plus ultra ist vielleicht die divina commedia. Es sind die heroischen Geister, welche zu sich selbst in der tragischen Grausamkeit ja sagen; sie sind hart genug, um das Leiden als Lust zu empfinden.
Gesetzt dagegen, daß die Schwachen von einer Kunst Genuß begehren, welche für sie nicht erdacht ist, was werden sie tun, um die[574] Tragödie sich schmackhaft zu machen? Sie werden ihre eigenen Wertgefühle in sie hineininterpretieren: z. B. den »Triumph der sittlichen Weltordnung« oder die Lehre vom »Unwert des Daseins« oder die Aufforderung zur »Resignation« (– oder auch halb medizinische, halb moralische Affekt-Ausladungen á la Aristoteles). Endlich: die Kunst des Furchtbaren, insofern sie die Nerven aufregt, kann als Stimulans bei den Schwachen und Erschöpften in Schätzung kommen: das ist heute z. B. der Grund für die Schätzung der Wagnerschen Kunst. Es ist ein Zeichen von Wohl– und Machtgefühl, wie weit einer den Dingen ihren furchtbaren und fragwürdigen Charakter zugestehen darf; und ob er überhaupt »Lösungen« am Schluß braucht.
Diese Art Künstler-Pessimismus ist genau das Gegenstück zum moralisch-religiösen Pessimismus, welcher an der »Verderbnis« des Menschen, am Rätsel des Daseins leidet: dieser will durchaus eine Lösung, wenigstens eine Hoffnung auf Lösung. Die Leidenden, Verzweifelten, An-sich-Mißtrauischen, die Kranken mit einem Wort, haben zu allen Zeiten die entzückenden Visionen nötig gehabt, um es auszuhalten (der Begriff »Seligkeit« ist dieses Ursprungs). Ein verwandter Fall: die Künstler der décadence, welche im Grunde nihilistisch zum Leben stehen, flüchten in die Schönheit der Form – in die ausgewählten Dinge, wo die Natur vollkommen ward, wo sie indifferent groß und schön ist... (– Die »Liebe zum Schönen« kann somit etwas anderes als das Vermögen sein, ein Schönes zu sehen, das Schöne zu schaffen; sie kann gerade der Ausdruck von Unvermögen dazu sein.)
Die überwältigenden Künstler, welche einen Kon sonanz-Ton aus jedem Konflikte erklingen lassen, sind die, welche ihre eigene Mächtigkeit und Selbsterlösung noch den Dingen zugute kommen lassen: sie sprechen ihre innerste Erfahrung in der Symbolik jedes Kunstwerkes aus – ihr Schaffen ist Dankbarkeit für ihr Sein.
Die Tiefe des tragischen Künstlers liegt darin, daß sein ästhetischer Instinkt die ferneren Folgen übersieht, daß er nicht kurzsichtig beim Nächsten stehenbleibt, daß er die Ökonomie im Großen bejaht, welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige rechtfertigt, und nicht nur – rechtfertigt.
[852]
[575]
Biologischer Wert des Schönen und des Häßlichen. – Was uns instinktiv widersteht, ästhetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen als schädlich, gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der plötzlich redende ästhetische Instinkt (im Ekel z. B.) enthält ein Urteil. Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werte des Nützlichen, Wohltätigen, Leben-steigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen, d. h. der Vermehrung von Machtgefühl geben (– nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindungen solcher Dinge oder ihre Symbole).
Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsre untersten Erhaltungswerte. Davon abgesehen ein Schönes und ein Häßliches ansetzen wollen, ist sinnlos. Das Schöne existiert so wenig als das Gute, das Wahre. Im einzelnen handelt es sich wieder um die Erhaltungsbedingungen einer bestimmten Art von Mensch: so wird der Herdenmensch bei anderen Dingen das Wertgefühl des Schönen haben als der Ausnahme- und Über-Mensch.
Es ist die Vordergrunds-Optik, welche nur die nächsten Folgen in Betracht zieht, aus der der Wert des Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt.
Alle Instinkt-Urteile sind kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie raten an, was zunächst zu tun ist. Der Verstand ist wesentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagieren auf das Instinkt-Urteil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger.
Die Schönheits– und Häßlichkeits-Urteile sind kurzsichtig (– sie haben immer den Verstand gegen sich –): aber im höchsten Grade überredend; sie appellieren an unsre Instinkte, dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, bevor noch der Verstand zu Worte kommt.
Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen regen sich gegenseitig auf und an; wenn der ästhetische Trieb einmal in Arbeit ist, kristallisiert sich um »das einzelne Schöne« noch eine ganze Fülle anderer und anders – woher stammender Vollkommenheiten. Es ist nicht möglich, objektiv zu bleiben resp. die interpretierende, hinzugebende, ausfüllende, dichtende[576] Kraft auszuhängen (– letztere ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen selber). Der Anblick eines »schönen Weibes«...
Also 1. das Schönheits-Urteil ist kurzsichtig, es sieht nur die nächsten Folgen;
2. es überhäuft den Gegenstand, der es erregt, mit einem Zauber, der durch die Assoziation verschiedener Schönheits-Urteile bedingt ist – der aber dem Wesen jenes Gegenstandes ganz fremd ist. Ein Ding als schön empfinden heißt: es notwendig falsch empfinden – (weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirat die gesellschaftlich unvernünftigste Art der Heirat ist).
[804]
Es gibt ganz naive Völker und Menschen, welche glauben, ein beständig gutes Wetter sei etwas Wünschbares: sie glauben noch heute in rebus moralibus, der »gute Mensch« allein und nichts als der »gute Mensch« sei etwas Wünschbares – und eben dahin gehe der Gang der menschlichen Entwicklung, daß nur er übrigbleibe (und allein dahin müsse man alle Absicht richten –). Das ist im höchsten Grade unökonomisch gedacht und, wie gesagt, der Gipfel des Naiven, nichts als Ausdruck der Annehmlichkeit, die der »gute Mensch« macht (– er erweckt keine Furcht, er erlaubt die Ausspannung, er gibt, was man nehmen kann).
Mit einem überlegnen Auge wünscht man gerade umgekehrt die immer größere Herrschaft des Bösen, die wachsende Freiwerdung des Menschen von der engen und ängstlichen Moral-Einschnürung, das Wachstum der Kraft, um die größten Naturgewalten – die Affekte – in Dienst nehmen zu können.
[386]
»Es wird gedacht: folglich gibt es Denkendes«: darauf läuft die Argumentation des Cartesius hinaus. Aber das heißt unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als »wahr a priori« ansetzen: – daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, »das denkt«, ist einfach eine Formulierung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Tun einen Täter setzt. Kurz, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht – und nicht nur konstatiert... Auf dem Wege des Cartesius kommt man nicht zu etwas absolut Gewissem, sondern nur zu einem Faktum eines sehr starken Glaubens.[577]
Reduziert man den Satz auf »es wird gedacht, folglich gibt es Gedanken«, so hat man eine bloße Tautologie: und gerade das, was in Frage steht, die »Realität des Gedankens«, ist nicht berührt – nämlich in dieser Form ist die »Scheinbarkeit« des Gedankens nicht abzuweisen. Was aber Cartesius wollte, ist, daß der Gedanke nicht nur eine scheinbare Realität hat, sondern eine an sich.
[484]
Die Zunahme der »Verstellung« gemäß der aufwärtssteigenden Rangordnung der Wesen. In der anorganischen Welt scheint sie zu fehlen – Macht gegen Macht, ganz roh –, in der organischen beginnt die List; die Pflanzen sind bereits Meister in ihr. Die höchsten Menschen wie Cäsar, Napoleon (Stendhals Wort über ihn), insgleichen die höheren Rassen (Italiener), die Griechen (Odysseus); die tausendfältigste Verschlagenheit gehört ins Wesen der Erhöhung des Menschen... Problem des Schauspielers. Mein Dionysos-Ideal...
[544a]
Das Gesetz, die gründlich realistische Formulierung gewisser Erhaltungsbedingungen einer Gemeinde, verbietet gewisse Handlungen in einer bestimmten Richtung, namentlich insofern sie gegen die Gemeinde sich wenden: sie verbietet nicht die Gesinnung, aus der diese Handlungen fließen, – denn sie hat dieselben Handlungen in einer anderen Richtung nötig, nämlich gegen die Feinde der Gemeinschaft. Nun tritt der Moral-Idealist auf und sagt: »Gott siehet das Herz an: die Handlung selbst ist noch nichts; man muß die feindliche Gesinnung ausrotten, aus der sie fließt...« Darüber lacht man in normalen Verhältnissen; nur in jenen Ausnahmefällen, wo eine Gemeinschaft absolut außerhalb der Nötigung lebt, Krieg für ihre Existenz zu führen, hat man überhaupt das Ohr für solche Dinge. Man läßt eine Gesinnung fahren, deren Nützlichkeit nicht mehr abzusehen ist.
Dies war z. B. beim Auftreten Buddhas der Fall, innerhalb einer sehr friedlichen und selbst geistig übermüdeten Gesellschaft.
Dies war insgleichen bei der ersten Christengemeinde (auch Judengemeinde) der Fall, deren Voraussetzung die absolut unpolitische jüdische Gesellschaft ist. Das Christentum konnte nur auf dem Boden des Judentums wachsen, d. h. innerhalb eines Volkes, das politisch schon Verzicht geleistet hatte und eine Art Parasiten-Dasein innerhalb der[578] römischen Ordnung der Dinge lebte. Das Christentum ist um einen Schritt weiter: man darf sich noch viel mehr »entmannen« – die Umstände erlauben es. – Man treibt die Natur aus der Moral heraus, wenn man sagt: »Liebet eure Feinde«: denn nun ist die Natur »du sollst deinen Nächsten lieben, deinen Feind hassen«, in dem Gesetz (im Instinkt) sinnlos geworden: nun muß auch die Liebe zu dem Nächsten sich erst neu begründen (als eine Art Liebe zu Gott). Überall Gott hineingesteckt und die Nützlichkeit herausgezogen; überall geleugnet, woher eigentlich alle Moral stammt: die Naturwürdigung, welche eben in der Anerkennung einer Natur-Moral liegt, in Grund und Boden vernichtet...
Woher kommt der Verführungsreiz eines solchen entmannten Menschheits-Ideals? Warum degoutiert es nicht, wie uns etwa die Vorstellung des Kastraten degoutiert?... Eben hier liegt die Antwort: die Stimme des Kastraten degoutiert uns auch nicht, trotz der grausamen Verstümmelung, welche die Bedingung ist: sie ist süßer geworden... Eben damit, daß der Tugend die »männlichen Glieder« ausgeschnitten sind, ist ein femininischer Stimmklang in die Tugend gebracht, den sie vorher nicht hatte.
Denken wir andererseits an die furchtbare Härte, Gefahr und Unberechenbarkeit, die ein Leben der männlichen Tugenden mit sich bringt – das Leben eines Korsen heute noch oder das der heidnischen Araber (welches bis auf die Einzelheiten dem Leben der Korsen gleich ist: die Lieder könnten von Korsen gedichtet sein) – so begreift man, wie gerade die robusteste Art Mensch von diesem wollüstigen Klang der »Güte«, der »Reinheit« fasziniert und erschüttert wird... Eine Hirtenweise... ein Idyll... der »gute Mensch«: dergleichen wirkt am stärksten in Zeiten, wo die Tragödie durch die Gassen läuft.
Hiermit haben wir aber auch erkannt, inwiefern der »Idealist« (– Ideal-Kastrat) auch aus einer ganz bestimmten Wirklichkeit herausgeht und nicht bloß ein Phantast ist... Er ist gerade zur Erkenntnis gekommen, daß für seine Art Realität eine solche grobe Vorschrift des Verbotes bestimmter Handlungen keinen Sinn hat (weil der Instinkt gerade zu diesen Handlungen geschwächt ist, durch langen Mangel an Übung, an Nötigung zur Übung). Der Kastratist formuliert eine Summe von neuen Erhaltungsbedingungen für Menschen einer ganz[579] bestimmten Spezies: darin ist er Realist. Die Mittel zu seiner Legislatur sind die gleichen wie für die älteren Legislaturen: der Appell an alle Art Autorität, an »Gott«, die Benutzung des Begriffs »Schuld und Strafe«, – d. h. er macht sich den ganzen Zubehör des älteren Ideals zunutze: nur in einer neuen Ausdeutung, die Strafe z. B. innerlicher gemacht (etwa als Gewissenbiß).
In praxi geht diese Spezies Mensch zugrunde, sobald die Ausnahme-bedingungen ihrer Existenz aufhören – eine Art Tahiti und Inselglück, wie es das Leben der kleinen Juden in der Provinz war. Ihre einzige natürliche Gegnerschaft ist der Boden, aus dem sie wuchsen: gegen ihn haben sie nötig zu kämpfen, gegen ihn müssen sie die Offensiv– und Defensiv-Affekte wieder wachsen lassen: ihre Gegner sind die Anhänger des alten Ideals (– diese Spezies Feindschaft ist großartig durch Paulus im Verhältnis zum Jüdischen vertreten, durch Luther im Verhältnis zum priesterlich-asketischen Ideal). Die mildeste Form dieser Gegnerschaft ist sicherlich die der ersten Buddhisten: vielleicht ist auf nichts mehr Arbeit verwendet worden, als die feindseligen Gefühle zu entmutigen und schwach zu machen. Der Kampf gegen das Ressentiment erscheint fast als erste Aufgabe des Buddhisten: erst damit ist der Frieden der Seele verbürgt. Sich loslösen, aber ohne Rankune: das setzt allerdings eine erstaunlich gemilderte und süß gewordene Menschlichkeit voraus – Heilige...
Die Klugheit des Moral-Kastratismus. – Wie führt man Krieg gegen die männlichen Affekte und Wertungen? Man hat keine physischen Gewaltmittel, man kann nur einen Krieg der List, der Verzauberung, der Lüge, kurz »des Geistes« führen.
Erstes Rezept: man nimmt die Tugend überhaupt für sein Ideal in Anspruch; man negiert das ältere Ideal bis zum Gegensatz zu allem Ideal. Dazu gehört eine Kunst der Verleumdung.
Zweites Rezept: man setzt seinen Typus als Wertmaß überhaupt an; man projiziert ihn in die Dinge, hinter die Dinge, hinter das Geschick der Dinge- als Gott.
Drittes Rezept: man setzt die Gegner seines Ideals als Gegner Gottes an; man erfindet sich das Recht zum großen Pathos, zur Macht, zu fluchen und zu segnen.[580]
Viertes Rezept: man leitet alles Leiden, alles Unheimliche, Furchtbare und Verhängnisvolle des Daseins aus der Gegnerschaft gegen sein Ideal ab: – alles Leiden folgt als Strafe, und selbst bei den Anhängern (– es sei denn, daß es eine Prüfung ist usw.).
Fünftes Rezept: man geht so weit, die Natur als Gegensatz zum eignen Ideal zu fassen: man betrachtet es als eine große Geduldsprobe, als eine Art Martyrium, so lange im Natürlichen auszuhalten; man übt sich auf den dédain der Mienen und Manieren in Hinsicht auf alle »natürlichen Dinge« ein.
Sechstes Rezept: der Sieg der Widernatur, des idealen Kastratismus, der Sieg der Welt des Reinen, Guten, Sündlosen, Seligen wird projiziert in die Zukunft, als Ende, Finale, große Hoffnung, als »Kommen des Reiches Gottes«.
– – Ich hoffe, man kann über diese Emporschraubung einer kleinen Spezies zum absoluten Wertmaß der Dinge noch lachen ?...
[204]
Es gibt heute auch einen Musiker-Pessimismus, selbst noch unter Nicht-Musikern. Wer hat ihn nicht erlebt, wer hat ihm nicht geflucht, dem unseligen Jüngling, der sein Klavier bis zum Verzweiflungsschrei martert, der eigenhändig den Schlamm der düstersten graubraunsten Harmonien vor sich herwälzt? Damit ist man erkannt, als Pessimist... Ob man aber damit auch als »musikalisch« erkannt ist ? Ich würde es nicht zu glauben wissen. Der Wagnerianer pur sang ist unmusikalisch; er unterliegt den Elementarkräften der Musik ungefähr, wie das Weib dem Willen seines Hypnotiseurs unterliegt – und um dies zu können, darf er durch kein strenges und feines Gewissen in rebus musicis et musicantibus mißtrauisch gemacht sein. Ich sagte »ungefähr wie« –: aber vielleicht handelt es sich hier um mehr als ein Gleichnis. Man erwäge die Mittel zur Wirkung, deren sich Wagner mit Vorliebe bedient (– die er zu einem guten Teile sich erst hat erfinden müssen): sie ähneln in einer befremdlichen Weise den Mitteln, mit denen der Hypnotiseur es zur Wirkung bringt (– Wahl der Bewegungen, der Klangfarben seines Orchesters; das abscheuliche Ausweichen vor der Logik und Quadratur des Rhythmus; das Schleichende, Streichende, Geheimnisvolle, der Hysterismus seiner »unendlichen Melodie«). – Und ist der Zustand, in welchen z. B. das Lohengrin-Vor spiel den Zuhörer und[581] noch mehr die Zuhörerin versetzt, wesentlich verschieden von der somnambulischen Ekstase? – Ich hörte eine Italienerin nach dem Anhören des genannten Vorspiels sagen, mit jenen hübsch verzückten Augen, auf welche sich die Wagnerianerin versteht: »come si dorme con questa musica!«. –
[839]
Man überlege sich die Einbuße, welche alle menschlichen Institutionen machen, falls überhaupt eine göttliche und jenseitige höhere Sphäre angesetzt wird, welche diese Institutionen erst sanktioniert. Indem man sich gewöhnt, den Wert dann in dieser Sanktion zu sehen (z. B. in der Ehe), hat man ihre natürliche Würdigkeit zurückgesetzt, unter Umständen geleugnet... Die Natur ist in dem Maße mißgünstig beurteilt, als man die Widernatur eines Gottes zu Ehren gebracht hat. »Natur« wurde so viel wie »verächtlich«, »schlecht«...
Das Verhängnis eines Glaubens an die Realität der höchsten moralischen Qualitäten als Gott: damit waren alle wirklichen Werte geleugnet und grundsätzlich als Unwerte gefaßt. So stieg das Widernatürliche auf den Thron. Mit einer unerbittlichen Logik langte man bei der absoluten Forderung der Verneinung der Natur an.
[245]
Die Moral-Hypothese zum Zweck der Rechtfertigung Gottes hieß: das Böse muß freiwillig sein (bloß damit an die Freiwilligkeit des Guten geglaubt werden kann) und andrerseits: in allem Übel und Leiden liegt ein Heilszweck.
Der Begriff »Schuld« als nicht bis auf die letzten Gründe des Daseins zurückreichend und der Begriff »Strafe« als eine erzieherische Wohltat, folglich als Akt eines guten Gottes.
Absolute Herrschaft der Moral-Wertung über alle andern: man zweifelte nicht daran, daß Gott nicht böse sein könne und nichts Schädliches tun könne, d. h. man dachte sich bei »Vollkommenheit« bloß eine moralische Vollkommenheit.
[290]
Meine Absicht, die absolute Homogenität in allem Geschehen zu zeigen und die Anwendung der moralischen Unterscheidung nur als perspektivisch bedingt; zu zeigen, wie alles das, was moralisch gelobt wird, wesensgleich mit allem Unmoralischen ist und nur, wie jede[582] Entwicklung der Moral, mit unmoralischen Mitteln und zu unmoralischen Zwecken ermöglicht worden ist –; wie umgekehrt alles, was als unmoralisch in Verruf ist, ökonomisch betrachtet, das Höhere und Prinzipiellere ist, und wie eine Entwicklung nach größerer Fülle des Lebens notwendig auch den Fortschritt der Unmoralität bedingt. »Wahrheit« der Grad, in dem wir uns die Einsicht in diese Tatsache gestatten.
[272]
Die Überreste der Natur-Entwertung durch Moral-Transzendenz: Wert der Entselbstung, Kultus des Altruismus; Glaube an eine Vergeltung innerhalb des Spiels der Folgen; Glaube an die »Güte«, an das »Genie« selbst, wie als ob das eine wie das andere Folgen der Entselbstung wären; die Fortdauer der kirchlichen Sanktion des bürgerlichen Lebens; absolutes Mißverstehen-wollen der Historie (als Erziehungswerk zur Moralisierung) oder Pessimismus im Anblick der Historie (– letzterer so gut eine Folge der Naturentwertung wie jene Pseudo-Rechtfertigung, jenes Nicht-Sehen-wollen dessen, was der Pessimist sieht–).
[297]
Inwiefern der Schopenhauersche Nihilismus immer noch die Folge des gleichen Ideals ist, welches den christlichen Theismus geschaffen hat. – Der Grad von Sicherheit in betreff der höchsten Wünschbarkeit, der höchsten Werte, der höchsten Vollkommenheit war so groß, daß die Philosophen davon wie von einer absoluten Gewißheit a priori ausgingen: »Gott« an der Spitze als gegebene Wahrheit. »Gott gleich zu werden«, »in Gott aufzugehn« – das waren jahrtausendelang die naivsten und überzeugendsten Wünschbarkeiten (– aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend. Anmerkung für Esel).
Man hat verlernt, jener Ansetzung von Idealen auch die Personen-Realität zuzugestehen; man ward atheistisch. Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet? – Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in ihm die wirkliche »Realität«, das »Ding an sich«, im Verhältnis zu dem alles andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma ist, daß, weil unsre Erscheinungswelt so ersichtlich nicht der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht »wahr« ist – und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den[583] Grund für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nötig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als »bösen, blinden Willen«: dergestalt konnte er dann »das Erscheinende« sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf – er schlich sich durch ...
(Kant schien die Hypothese der »intelligiblen Freiheit« nötig, um das ens perfectum von der Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein dieser Welt zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen...)
[17]
Moral als höchste Abwertung. – Entweder ist unsre Welt das Werk und der Ausdruck (der modus) Gottes: dann muß sie höchst vollkommen sein (Schluß Leibnizens...) – und man zweifelte nicht, was zur Vollkommenheit gehöre, zu wissen –, dann kann das Böse, das Übel nur scheinbar sein (radikaler bei Spinoza die Begriffe Gut und Böse) oder muß aus dem höchsten Zweck Gottes abgeleitet sein (– etwa als Folge einer besonderen Gunsterweisung Gottes, der zwischen Gut und Böse zu wählen erlaubt: das Privilegium, kein Automat zu sein; »Freiheit« auf die Gefahr hin, sich zu vergreifen, falsch zu wählen... z. B. bei Simplicius im Kommentar zu Epiktet).
Oder unsere Welt ist unvollkommen, das Übel und die Schuld sind real, sind determiniert, sind absolut ihrem Wesen inhärent; dann kann sie nicht die wahre Welt sein: dann ist Erkenntnis eben nur der Weg, sie zu verneinen, dann ist sie eine Verirrung, welche als Verirrung erkannt werden kann. Dies die Meinung Schopenhauers auf Grund Kantischer Voraussetzungen. Noch desperater Pascal: er begriff, daß dann auch die Erkenntnis korrupt, gefälscht sein müsse, – daß Offenbarung not tue, um die Welt auch nur als verneinenswert zu begreifen...
[411]
Man hat die Grausamkeit zum tragischen Mitleiden verfeinert, so daß sie als solche geleugnet wird. Desgleichen die Geschlechtsliebe in der Form der amour-passion; die Sklavengesinnung als christlicher Gehorsam; die Erbärmlichkeit als Demut; die Erkrankung des nervus sympathicus z. B. als Pessimismus, Pascalismus oder Carlylismus usw.
[312]
[584]
Gesichtspunkte für meine Werte: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen?... ob man zusieht oder Hand anlegt – oder wegsieht, beiseite geht?... ob aus der aufgestauten Kraft, »spontan«, oder bloß reaktiv angeregt, angereizt? ob einfach, aus Wenigkeit der Elemente, oder aus überwältigender Herrschaft über viele, so daß sie dieselben in Dienst nimmt, wenn sie sie braucht?... ob man Problem oder Lösung ist?... ob vollkommen bei der Kleinheit der Aufgabe oder unvollkommen bei dem Außerordentlichen eines Ziels? ob man echt oder nur Schauspieler, ob man als Schauspieler echt oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob man »Vertreter« oder das Vertretene selbst ist –? ob »Person« oder bloß ein Rendez-vous von Personen... ob krank aus Krankheit oder aus überschüssiger Gesundheit? ob man vorangeht als Hirt oder als »Ausnahme« (dritte Spezies: als Entlaufener)? ob man Würde nötig hat – oder den »Hanswurst«? ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege geht? ob man unvollkommen ist, als »zu früh« oder als »zu spät«? ob man von Natur ja sagt oder nein sagt oder ein Pfauenwedel von bunten Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht zu schämen? ob man eines Gewissensbisses noch fähig ist (– die Spezies wird selten: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer »Pflicht« noch fähig ist? (– es gibt solche, die sich den Rest ihrer Lebenslust rauben würden, wenn sie sich die Pflicht rauben ließen – sonderlich die Weiblichen, die Untertänig-Geborenen.)
[1009]
Es gibt zart und kränklich angelegte Naturen, sogenannte Idealisten, die es nicht höher treiben können als bis zu einem Verbrechen, cru, vert: es ist die große Rechtfertigung ihres kleinen und blassen Daseins, eine Abzahlung für eine lange Feigheit und Verlogenheit, ein Augenblick wenigstens von Stärke: hinterdrein gehen sie daran zugrunde.
[735]
Die einzige Möglichkeit, einen Sinn für den Begriff »Gott« aufrechtzuerhalten, wäre: Gott nicht als treibende Kraft, sondern Gott als Maximal-Zustand, als eine Epoche –: ein Punkt in der Entwicklung des Willens zur Macht: aus dem sich ebensosehr die Weiterentwicklung als das Vorher, das Bis-zu-ihm erklärte.
Mechanistisch betrachtet, bleibt die Energie des Gesamt-Werdens[585] konstant; ökonomisch betrachtet, steigt sie bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab in einem ewigen Kreislauf. Dieser »Wille zur Macht« drückt sich in der Ausdeutung, in der Art des Kraftverbrauchs aus: – Verwandlung der Energie in Leben und »Leben in höchster Potenz« erscheint demnach als Ziel. Dasselbe Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung verschiedenes.
Das, was das Wachstum im Leben ausmacht, ist die immer sparsamer und weiter rechnende Ökonomie, welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht... Als Ideal das Prinzip des kleinsten Aufwandes...
Daß die Welt nicht auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das einzige, was bewiesen ist. Folglich muß man ihren Höhezustand so ausdenken, daß er kein Gleichgewichtszustand ist...
Die absolute Nezessität des gleichen Geschehens in einem Weltlauf, wie in allen übrigen, ist in Ewigkeit nicht ein Determinismus über dem Geschehen, sondern bloß der Ausdruck dessen, daß das Unmögliche nicht möglich ist; daß eine bestimmte Kraft nichts anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft; daß sie sich an einem Quantum Kraft- Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist; – Geschehen und Notwendig-Geschehen ist eine Tautologie.
[639]
Mit der moralischen Herabwürdigung des ego geht auch noch, in der Naturwissenschaft, eine Überschätzung der Gattung Hand in Hand. Aber die Gattung ist etwas ebenso Illusorisches wie das ego: man hat eine falsche Distinktion gemacht. Das ego ist hundertmal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern; es ist die Kette selbst, ganz und gar; und die Gattung ist eine bloße Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren partieller Ähnlichkeit. Daß, wie so oft behauptet worden ist, das Individuum der Gattung geopfert wird, ist durchaus kein Tatbestand: vielmehr nur das Muster einer fehlerhaften Interpretation.
[682]
Die »bewußte Welt« kann nicht als Wert-Ausgangspunkt gelten: Notwendigkeit einer »objektiven« Wertsetzung.
In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinanderarbeitens,[586] wie es das Gesamtleben jedes Organismus darstellt, ist dessen bewußte Welt von Gefühlen, Absichten, Wertschätzungen ein kleiner Ausschnitt. Dies Stück Bewußtsein als Zweck, als Warum? für jenes Gesamt-Phänomen von Leben anzusetzen, fehlt uns alles Recht: ersichtlich ist das Bewußtwerden nur ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens. Deshalb ist es eine Naivität, Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit oder irgendeine Einzelheit der Sphäre des Bewußtseins als höchsten Wert anzusetzen: und vielleicht gar »die Welt« aus ihnen zu rechtfertigen.
Das ist mein Grundeinwand gegen alle philosophisch-moralischen Kosmo- und Theodizeen, gegen alle Warums und höchsten Werte in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie. Eine Art der Mittel ist als Zweck mißverstanden worden: das Leben und seine Machtsteigerung wurde umgekehrt zum Mittel erniedrigt.
Wenn wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen wollten, so dürfte er mit keiner Kategorie des bewußten Lebens zusammenfallen; er müßte vielmehr jede noch erklären als Mittel zu sich...
Die »Verneinung des Lebens« als Ziel des Lebens, Ziel der Entwicklung! Das Dasein als große Dummheit! Eine solche Wahnwitz-Interpretation ist nur die Ausgeburt einer Messung des Lebens mit Faktoren des Bewußtseins (Lust und Unlust, Gut und Böse). Hier werden die Mittel geltend gemacht gegen den Zweck – die »unheiligen«, absurden, vor allem unangenehmen Mittel –: wie kann der Zweck etwas taugen, der solche Mittel gebraucht! Aber der Fehler steckt darin, daß wir – statt nach dem Zweck zu suchen, der die Notwendigkeit solcher Mittel erklärt – von vornherein einen Zweck voraussetzen, welcher solche Mittel gerade ausschließt: d. h. daß wir eine Wünschbarkeit in bezug auf gewisse Mittel (nämlich angenehme, rationelle, tugendhafte) zur Norm nehmen, nach der wir erst ansetzen, welcher Gesamtzweck wünschbar ist...
Der Grundfehler steckt nur darin, daß wir die Bewußtheit – statt sie als Werkzeug und Einzelheit im Gesamt-Leben zu verstehen – als Maßstab, als höchsten Wertzustand des Lebens ansetzen: es ist die fehlerhafte Perspektive des a parte ad totum, – weshalb instinktiv alle Philosophen darauf aus sind, ein Gesamtbewußtsein, ein bewußtes Mitleben und Mitwollen alles dessen, was geschieht, einen »Geist«,[587] »Gott« zu imaginieren. Man muß ihnen aber sagen, daß eben damit das Dasein zum Monstrum wird; daß ein »Gott« und Gesamtsensorium schlechterdings etwas wäre, dessentwegen das Dasein verurteilt werden müßte... Gerade daß wir das zweck- und mittelsetzende Gesamtbewußtsein eliminiert haben: das ist unsre große Erleichterung, – damit hören wir auf, Pessimisten sein zu müssen... Unser größter Vorwurf gegen das Dasein war die Existenz Gottes...
[707]
Das Christentum ist möglich als privateste Daseinsform; es setzt eine enge, abgezogene, vollkommen unpolitische Gesellschaft voraus – es gehört ins Konventikel. Ein »christlicher Staat«, eine »christliche Politik« dagegen ist eine Schamlosigkeit, eine Lüge, etwa wie eine christliche Heerführung, welche zuletzt den »Gott der Heerscharen« als Generalstabschef behandelt. Auch das Papsttum ist niemals imstande gewesen, christliche Politik zu machen...; und wenn Reformatoren Politik treiben, wie Luther, so weiß man, daß sie eben solche Anhänger Macchiavells sind wie irgendwelche Immoralisten oder Tyrannen.
[211]
Die Krähwinkelei und Schollenkleberei der moralischen Abwertung und ihres »nützlich« und »schädlich« hat ihren guten Sinn; es ist die notwendige Perspektive der Gesellschaft, welche nur das Nähere und Nächste in Hinsicht in Folgen zu übersehen vermag.
Der Staat und der Politiker hat schon eine mehr übermoralische Denkweise nötig: weil er viel größere Komplexe von Wirkungen zu berechnen hat.
Insgleichen wäre eine Weltwirtschaft möglich, die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen für den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften.
[927]
Nützlich sind die Affekte allesamt, die einen direkt, die andern indirekt; in Hinsicht auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgendeine Wertabfolge festzusetzen, – so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur allesamt gut, d. h. nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches Verhängnis auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen, daß die mächtigsten Affekte die wertvollsten sind: insofern es keine größeren Kraftquellen gibt.
[931]
[588]
Wie unter dem Druck der asketischen Entselbstungs-Moral gerade die Affekte der Liebe, der Güte, des Mitleids, selbst der Gerechtigkeit, der Großmut, des Heroismus mißverstanden werden mußten:
Es ist der Reichtum an Person, die Fülle in sich, das Überströmen und Abgeben, das instinktive Wohl sein und Jasagen zu sich, was die großen Opfer und die große Liebe macht: es ist die starke und göttliche Selbstigkeit, aus der diese Affekte wachsen, so gewiß wie auch das Herr-werden-wollen, Übergreifen, die innere Sicherheit, ein Recht auf alles zu haben. Die nach gemeiner Auffassung entgegengsetzten Gesinnungen sind vielmehr eine Gesinnung; und wenn man nicht fest und wacker in seiner Haut sitzt, so hat man nichts abzugeben und Hand auszustrecken und Schutz und Stab zu sein...
Wie hat man diese Instinkte so umdeuten können, daß der Mensch als wertvoll empfindet, was seinem Selbst entgegengeht? wenn er sein Selbst einem andern Selbst preisgibt! Oh über die psychologische Erbärmlichkeit und Lügnerei, welche bisher in Kirche und kirchlich angekränkelter Philosophie das große Wort geführt hat!
Wenn der Mensch sündhaft ist, durch und durch, so darf er sich nur hassen. Im Grunde dürfte er auch seine Mitmenschen mit keiner andern Empfindung behandeln wie sich selbst; Menschenliebe bedarf einer Rechtfertigung, – sie liegt darin, daß Gott sie befohlen hat. – Hieraus folgt, daß alle die natürlichen Instinkte des Menschen (zur Liebe usw.) ihm an sich unerlaubt scheinen und erst, nach ihrer Verleugnung, auf Grund eines Gehorsams gegen Gott wieder zu Recht kommen... Pascal, der bewunderungswürdige Logiker des Christentums, ging so weit! Man erwäge sein Verhältnis zu seiner Schwester. »Sich nicht lieben machen« schien ihm christlich.
[388]
Die Präokkupation mit sich und seinem »ewigen Heile« ist nicht der Ausdruck einer reichen und selbstgewissen Natur: denn diese fragt den Teufel danach, ob sie selig wird, – sie hat kein solches Interesse am Glück irgendwelcher Gestalt, sie ist Kraft, Tat, Begierde – sie drückt sich den Dingen auf, sie vergreift sich an den Dingen. Christentum ist eine romantische Hypochondrie solcher, die nicht auf festen Beinen stehn.
Überall, wo die hedonistische Perspektive in den Vordergrund tritt, darf man auf Leiden und eine gewisse Mißratenheit schließen.
[781]
[589]
Die wohlwollenden, hilfreichen, gütigen Gesinnungen sind schlechterdings nicht um des Nutzens willen, der von ihnen ausgeht, zu Ehren gekommen: sondern weil sie Zustände reicher Seelen sind, welche abgeben können und ihren Wert als Füllegefühl des Lebens tragen. Man sehe die Augen des Wohltäters an! Das ist das Gegenstück der Selbstverneinung, des Hasses auf das moi, des »Pascalismus«.
[932]
Das Nachdenken über das Allgemeinste ist immer rückständig: die letzten »Wünschbarkeiten« über den Menschen z. B. sind von den Philosophen eigentlich niemals als Problem genommen worden. Die »Verbesserung« des Menschen wird von ihnen allen naiv angesetzt, wie als ob wir durch irgendeine Intuition über das Fragezeichen hinausgehoben wären, warum gerade »verbessern«? Inwiefern ist es wünschbar, daß der Mensch tugendhafter wird? oder klüger? oder glücklicher? Gesetzt, daß man nicht schon das »Warum?« des Menschen überhaupt kennt, so hat jede solche Absicht keinen Sinn; und wenn man das eine will, wer weiß? vielleicht darf man dann das andere nicht wollen? Ist die Vermehrung der Tugendhaftigkeit zugleich verträglich mit einer Vermehrung der Klugheit und Einsicht? Dubito; ich werde nur zu viel Gelegenheit haben, das Gegenteil zu beweisen. Ist die Tugendhaftigkeit als Ziel im rigorosen Sinne nicht tatsächlich bisher im Widerspruch mit dem Glücklich-werden gewesen? braucht sie andererseits nicht das Unglück, die Entbehrung und Selbstmißhandlung als notwendiges Mittel? Und wenn die höchste Einsicht das Ziel wäre, müßte man nicht eben damit die Steigerung des Glücks ablehnen? und die Gefahr, das Abenteuer, das Mißtrauen, die Verführung als Weg zur Einsicht wählen?... Und will man Glück, nun, so muß man vielleicht zu den »Armen des Geistes« sich gesellen.
[393]
Wir »Objektiven«. – Das ist nicht das »Mitleid«, was uns die Tore zu den fernsten und fremdesten Arten Sein und Kultur aufmacht; sondern unsre Zugänglichkeit und Unbefangenheit, welche gerade nicht »mitleidet«, sondern im Gegenteil sich bei hundert Dingen ergötzt, wo man ehedem litt (empört oder ergriffen war, oder feindselig und kalt blickte –). Das Leiden in allen Nuancen ist uns jetzt interessant: damit sind wir gewiß nicht die Mitleidigeren, selbst wenn der Anblick[590] des Leidens uns durch und durch erschüttert und zu Tränen rührt: – wir sind schlechterdings deshalb nicht hilfreicher gestimmt.
In diesem freiwilligen Anschauen-wollen von aller Art Not und Vergehen sind wir stärker und kräftiger geworden, als es das 18. Jahrhundert war; es ist ein Beweis unseres Wachstums an Kraft (– wir haben uns dem 17. und 16. Jahrhundert genähert). Aber es ist ein tiefes Mißverständnis, unsre »Romantik« als Beweis unsrer »verschönerten Seele« aufzufassen. Wir wollen starke sensations, wie alle gröberen Zeiten und Volksschichten sie wollen. (Dies hat man wohl auseinanderzuhalten vom Bedürfnis der Nervenschwachen und décadents: bei denen ist das Bedürfnis nach Pfeffer da, selbst nach Grausamkeit.)
Wir alle suchen Zustände, in denen die bürgerliche Moral nicht mehr mitredet, noch weniger die priesterliche (– wir haben bei jedem Buche, an dem etwas Pfarrer- und Theologenluft hängengeblieben ist, den Eindruck einer bemitleidenswerten niaiserie und Armut). Die »gute Gesellschaft« ist die, wo im Grunde nichts interessiert, als was bei der bürgerlichen Gesellschaft verboten ist und üblen Ruf macht: ebenso steht es mit Büchern, mit Musik, mit Politik, mit der Schätzung des Weibes.
[119]
Wie ist es möglich, daß jemand vor sich gerade in Hinsicht auf die moralischen Werte allein Respekt hat, daß er alles andere unterordnet und gering nimmt im Vergleich mit Gut, Böse, Besserung, Heil der Seele usw.? z. B. Henri Fréd. Amiel. Was bedeutet die Moral-Idiosynkrasie? – ich frage psychologisch, auch physiologisch, z. B. Pascal. Also in Fällen, wo große andere Qualitäten nicht fehlen; auch im Falle Schopenhauers, der ersichtlich das schätzte, was er nicht hatte und haben konnte... – ist es nicht die Folge einer bloß gewohnheitsmäßigen Moral-Interpretation von tatsächlichen Schmerz- und Unlust-Zuständen? ist es nicht eine bestimmte Art von Sensibilität, wel che die Ursache ihrer vielen Unlustgefühle nicht versteht, aber mit moralischen Hypothesen sich zu erklären glaubt? So daß auch ein gelegentliches Wohlbefinden und Kraftgefühl immer sofort wieder unter der Optik vom »guten Gewissen«, von der Nähe Gottes, vom Bewußtsein der Erlösung überleuchtet erscheint?... Also der Moral-Idiosynkratiker hat 1. entweder wirklich in der Annäherung an den Tugend-Typus der Gesellschaft[591] seinen eigenen Wert: »der Brave«, »Rechtschaffene«, – ein mittlerer Zustand hoher Achtbarkeit: in allem Können mittelmäßig, aber in allem Wollen honett, gewissenhaft, fest, geachtet, bewährt; 2. oder er glaubt ihn zu haben, weil er alle seine Zustände überhaupt nicht anders zu verstehen glaubt –, er ist sich unbekannt, er legt sich dergestalt aus. – Moral als das einzige Interpretationsschema, bei dem der Mensch sich aushält: – eine Art Stolz?...
[270]
Ich habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg erklärt (samt dem, was ihm nahe verwandt ist), nicht in der Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner Tyrannei ein Ende zu setzen und Platz frei zu bekommen für neue Ideale, für robustere Ideale... Die Fortdauer des christlichen Ideals gehört zu den wünschenswertesten Dingen, die es gibt: und schon um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend machen wollen, – sie müssen Gegner, starke Gegner haben, um stark zu werden. – So brauchen wir Immoralisten die Macht der Moral: unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unsre Gegner bei Kräften bleiben, – er will nur Herr über sie werden.
[361]
Schopenhauer hat die hohe Intellektualität als Loslösung vom Willen ausgelegt; er hat das Frei-werden von den Moral-Vorurteilen, welches in der Entfesselung des großen Geistes liegt, die typische Unmoralität des Genies, nicht sehen wollen, er hat künstlich das, was er allein ehrte, den moralischen Wert der »Entselbstung«, auch als Bedingung der geistigsten Tätigkeit, des »Objektiv«-Blickens, angesetzt. »Wahrheit«, auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug des Willens...
Quer durch alle moralische Idiosynkrasie hindurch sehe ich eine grundverschiedene Wertung: solche absurde Auseinandertrennung von »Genie« und Willens-Welt der Moral und Immoral kenne ich nicht. Der moralische Mensch ist eine niedrigere Spezies als der unmoralische, eine schwächere; ja – er ist der Moral nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus; eine Kopie, eine gute Kopie bestenfalls, – das Maß seines Wertes liegt außer ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Quantum Macht uns Fülle seines Willens: nicht nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens lehrt, als eine Lehre der Herunterbringung und der[592] Verleumdung... Ich schätze die Macht eines Willens danach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vorteil umzuwandeln weiß; ich rechne dem Dasein nicht seinen bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf an, sondern bin der Hoffnung, daß es einst böser und schmerzhafter sein wird als bisher...
Die Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginierte, war, zur Erkenntnis zu kommen, daß alles keinen Sinn hat, kurz, zu erkennen, was instinktiv der gute Mensch schon tut... Er leugnet, daß es höhere Arten Intellekt geben könne, – er nahm seine Einsicht als ein non plus ultra. Hier ist die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster Wert (als Kunst z. B.) wäre es, die moralische Umkehr anzuraten, vorzubereiten: absolute Herrschaft der Moralwerte. –
Neben Schopenhauer will ich Kant charakterisieren: nichts Griechisches, absolut widerhistorisch (Stelle über die Französische Revolution) und Moral-Fanatiker (Goethes Stelle über das Radikal-Böse). Auch bei ihm im Hintergrund die Heiligkeit...
Ich brauche eine Kritik des Heiligen...
Hegels Wert. »Leidenschaft«.
Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren Menschen.
Instinkt-Grundsatz aller Philosophen und Historiker und Psychologen: es muß alles, was wertvoll ist in Mensch, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik, bewiesen werden als moralisch-wertvoll, moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht auf den obersten Wert: z. B. Rousseaus Frage in betreff der Zivilisation »wird durch sie der Mensch besser?« – eine komische Frage, da das Gegenteil auf der Hand liegt und eben das ist, was zugunsten der Zivilisation redet.
[382]
Welcher Art von bizarrem Ideal man auch folgt (z. B. als »Christ« oder als »freier Geist« oder als »Immoralist« oder als Reichsdeutscher–), man soll nicht fordern, daß es das Ideal sei: denn damit nähme man ihm den Charakter des Privilegiums, des Vorrechts. Man soll es haben, um sich auszuzeichnen, nicht um sich gleichzusetzen.
Wie kommt es trotzdem, daß die meisten Idealisten sofort für ihr Ideal Propaganda machen, wie als ob sie kein Recht haben könnten[593] auf das Ideal, falls nicht alle es anerkennten? – Das tun z. B. alle jene mutigen Weiblein, die sich die Erlaubnis nehmen, Latein und Mathematik zu lernen. Was zwingt sie dazu? Ich fürchte, der Instinkt der Herde, die Furchtsamkeit vor der Herde: sie kämpfen für die »Emanzipation des Weibes«, weil sie unter der Form einer generösen Tätigkeit, unter der Flagge des »Für andere« ihren kleinen Privat-Separatismus am klügsten durchsetzen.
Klugheit der Idealisten, nur Missionare und »Vertreter« eines Ideals zu sein: sie »verklären« sich damit in den Augen derer, welche an Uneigennützigkeit und Heroismus glauben. Indes: der wirkliche Heroismus besteht darin, daß man nicht unter der Fahne der Aufopferung, Hingebung, Uneigennützigkeit kämpft, sondern gar nicht kämpft... »So bin ich; so will ich's: – hol euch der Teufel!« –
[349]
Krieg gegen die weichliche Auffassung der »Vornehmheit«! – ein Quantum Brutalität mehr ist nicht zu erlassen: so wenig als eine Nachbarschaft zum Verbrechen. Auch die »Selbstzufriedenheit« ist nicht darin; man muß abenteuerlich auch zu sich stehen, versucherisch, verderberisch – nichts von Schönseelen-Salbaderei –. Ich will einem robusteren Ideale Luft machen.
[951]
Über unsre moderne Musik. – Die Verkümmerung der Melodie ist das gleiche wie die Verkümmerung der »Idee«, der Dialektik, der Freiheit geistigster Bewegung, – eine Plumpheit und Gestopftheit, welche sich zu neuen Wagnissen und selbst zu Prinzipien entwickelt; – man hat schließlich nur die Prinzipien seiner Begabung, seiner Borniertheit von Begabung.
»Dramatische Musik« Unsinn! Das ist einfach schlechte Musik... Das »Gefühl«, die »Leidenschaft« als Surrogate, wenn man die hohe Geistigkeit und das Glück derselben (z. B. Voltaires) nicht mehr zu erreichen weiß. Technisch ausgedrückt, ist das »Gefühl«, die »Leidenschaft« leichter – es setzt viel ärmere Künstler voraus. Die Wendung zum Drama verrät, daß ein Künstler über die Scheinmittel noch mehr sich Herr weiß als über die echten Mittel. Wir haben dramatische Malerei, dramatische Lyrik usw.
[837]
[594] Zur Rangordnung. – Was ist am typischen Menschen mittelmäßig? Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig versteht: daß er die Übelstände bekämpft, wie als ob man ihrer entraten könne; daß er das eine nicht mit dem anderen hinnehmen will – daß er den typischen Charakter eines Dinges, eines Zustandes, einer Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er nur einen Teil ihrer Eigenschaften gutheißt und die andern abschaffen möchte. Die »Wünschbarkeit« der Mittelmäßigen ist das, was von uns anderen bekämpft wird: das Ideal gefaßt als etwas, an dem nichts Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes übrigbleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte: daß mit jedem Wachstum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am stärksten darstellte als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung... Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zugrunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst, d. h. die Vorbedingung für die Größe des Menschen. Daß der Mensch besser und böser werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit.
Die meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustande kommen des synthetischen Menschen handelt: daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl bloß Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hie und da der ganze Mensch entsteht, der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht nicht in einem Striche vorwärts; oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren (– wir haben z. B. mit aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance wieder erreicht, und hinwiederum blieb der Mensch der Renaissance hinter dem antiken Menschen zurück).
[881]
[595]
Jede Gesellschaft hat die Tendenz, ihre Gegner bis zur Karikatur – zum mindesten in ihrer Vorstellung – herunterzubringen und gleichsam auszuhungern. Eine solche Karikatur ist z. B. unser »Verbrecher«. Inmitten der römisch-aristokratischen Ordnung der Werte war der Jude zur Karikatur reduziert. Unter Künstlern wird der »Biedermann und bourgeois« zur Karikatur; unter Frommen der Gottlose; unter Aristokraten der Volksmann. Unter Immoralisten wird es der Moralist: Plato zum Beispiel wird bei mir zur Karikatur.
[374]
Man soll die Tugend gegen die Tugendprediger verteidigen: das sind ihre schlimmsten Feinde. Denn sie lehren die Tugend als ein Ideal für alle; sie nehmen der Tugend ihren Reiz des Seltenen, des Unnachahmlichen, des Ausnahmsweisen und Undurchschnittlichen – ihren aristokratischen Zauber. Man soll insgleichen Front machen gegen die verstockten Idealisten, welche eifrig an alle Töpfe klopfen und ihre Genugtuung haben, wenn es hohl klingt: welche Naivität, Großes und Seltenes zu fordern und seine Abwesenheit mit Ingrimm und Menschenverachtung festzustellen! – Es liegt z. B. auf der Hand, daß eine Ehe so viel wert ist als die, welche sie schließen, d. h. daß sie im großen ganzen etwas Erbärmliches und Unschickliches sein wird: kein Pfarrer, kein Bürgermeister kann etwas anderes daraus machen.
Die Tugend hat alle Instinkte des Durchschnittsmenschen gegen sich: sie ist unvorteilhaft, unklug, sie isoliert; sie ist der Leidenschaft verwandt und der Vernunft schlecht zugänglich; sie verdirbt den Charakter, den Kopf, den Sinn, – immer gemessen mit dem Maß des Mittelguts von Mensch; sie setzt in Feindschaft gegen die Ordnung, gegen die Lüge, welche in jeder Ordnung, Institution, Wirklichkeit versteckt liegt, – sie ist das schlimmste Laster, gesetzt, daß man sie nach der Schädlichkeit ihrer Wirkung auf die andern beurteilt.
– Ich erkenne die Tugend daran, daß sie 1. nicht verlangt, erkannt zu werden, 2. daß sie nicht Tugend überall voraussetzt, sondern gerade etwas anderes, 3. daß sie an der Abwesenheit der Tugend nicht leidet, sondern umgekehrt dies als das Distanzverhältnis betrachtet, auf Grund dessen etwas an der Tugend zu ehren ist; sie teilt sich nicht mit, 4. daß sie nicht Propaganda macht... 5. daß sie niemandem erlaubt, den Richter zu machen, weil sie immer eine Tugend für sich ist, 6. daß[596] sie gerade alles das tut, was sonst verboten ist: Tugend, wie ich sie verstehe, ist das eigentliche vetitum innerhalb aller Herden-Legislatur, 7. kurz, daß sie Tugend im Renaissance-Stil ist, virtù, moralinfreie Tugend...
[317]
Zuletzt, was habe ich erreicht? Verbergen wir uns dies wunderlichste Resultat nicht: ich habe der Tugend einen neuen Reiz erteilt, – sie wirkt als etwas Verbotenes. Sie hat unsre feinste Redlichkeit gegen sich, sie ist eingesalzen in das »cum grano salis« des wissenschaftlichen Gewissensbisses; sie ist altmodisch im Geruch und antikisierend, so daß sie nunmehr endlich die Raffinierten anlockt und neugierig macht; – kurz, sie wirkt als Laster. Erst nachdem wir alles als Lüge, Schein erkannt haben, haben wir auch die Erlaubnis wieder zu dieser schönsten Falschheit, der der Tugend, erhalten. Es gibt keine Instanz mehr, die uns dieselbe verbieten dürfte: erst indem wir die Tugend als eine Form der Immoralität aufgezeigt haben, ist sie wieder gerechtfertigt, – sie ist eingeordnet und gleichgeordnet in Hinsicht auf ihre Grundbedeutung, sie nimmt teil an der Grund-Immoralität alles Daseins – als eine Luxus-Form ersten Ranges, die hochnäsigste, teuerste und seltenste Form des Lasters. Wir haben sie entrunzelt und entkuttet, wir haben sie von der Zudringlichkeit der vielen erlöst, wir haben ihr die blödsinnige Starrheit, das leere Auge, die steife Haartour, die hieratische Muskulatur genommen.
[328]
Gegen die Reue. – Ich liebe diese Art Feigheit gegen die eigene Tat nicht; man soll sich selbst nicht im Stich lassen unter dem Ansturz unerwarteter Schande und Bedrängnis. Ein extremer Stolz ist da eher am Platz. Zuletzt, was hilft es! Keine Tat wird dadurch, daß sie bereut wird, ungetan; ebensowenig dadurch, daß sie »vergeben« oder daß sie »gesühnt« wird. Man müßte Theologe sein, um an eine schuldentilgende Macht zu glauben: wir Immoralisten ziehen es vor, nicht an »Schuld« zu glauben. Wir halten dafür, daß jedwederlei Handlung in der Wurzel wert-identisch ist, – insgleichen daß Handlungen, welche sich gegen uns wenden, ebendarum immer noch, ökonomisch ge rechnet, nützliche, allgemein-wünschbare Handlungen sein können. – Im einzelnen Fall werden wir zugestehen, daß eine Tat uns leicht hätte erspart bleiben können, – nur die Umstände haben uns zu[597] ihr begünstigt. Wer von uns hätte nicht, von den Umständen begünstigt, schon die ganze Skala der Verbrechen durchgemacht?... Man soll deshalb nie sagen: »Das und das hättest du nicht tun sollen«, sondern immer nur: »Wie seltsam, daß ich das nicht schon hundertmal getan habe!« – Zuletzt sind die wenigsten Handlungen typische Handlungen und wirklich Abbreviaturen einer Person; und in Anbetracht, wie wenig Person die meisten sind, wird selten ein Mensch durch eine einzelne Tat charakterisiert. Tat der Umstände, bloß epidermal, bloß reflexmäßig als Auslösung auf einen Reiz erfolgend: lange bevor die Tiefe unseres Seins davon berührt, darüber befragt worden ist. Ein Zorn, ein Griff, ein Messerstich: was ist daran von Person! – Die Tat bringt häufig eine Art Starrblick und Unfreiheit mit sich: so daß der Täter durch ihre Erinnerung wie gebannt ist und sich selbst bloß als Zubehör zu ihr noch fühlt. Diese geistige Störung, eine Form von Hypnotisierung, hat man vor allem zu bekämpfen: eine einzelne Tat, sie sei welche sie sei, ist doch im Vergleich mit allem, was man tut, gleich null und darf weggerechnet werden, ohne daß die Rechnung falsch würde. Das unbillige Interesse, welches die Gesellschaft haben kann, unsre ganze Existenz nur in einer Richtung nachzurechnen, wie als ob ihr Sinn sei, eine einzelne Tat herauszutreiben, sollte den Täter selbst nicht anstecken: leider geschieht es fast beständig. Das hängt daran, daß jeder Tat mit ungewöhnlichen Folgen eine geistige Störung folgt: gleichgültig selbst, ob diese Folgen gute oder schlimme sind. Man sehe einen Verliebten an, dem ein Versprechen zuteil geworden; einen Dichter, dem ein Theater Beifall klatscht: sie unterscheiden sich, was den torpor intellectualis betrifft, in nichts von dem Anarchisten, den man mit einer Haussuchung überfällt.
Es gibt Handlungen, die unser unwürdig sind: Handlungen, die, als typisch genommen, uns in eine niedrigere Gattung herabdrücken würden. Hier hat man allein diesen Fehler zu vermeiden, daß man sie typisch nimmt. Es gibt die umgekehrte Art Handlungen, deren wir nicht würdig sind: Ausnahmen, aus einer besondern Fülle von Glück und Gesundheit geboren, unsere höchsten Flutwellen, die ein Sturm, ein Zufall einmal so hoch trieb: solche Handlungen und »Werke« sind ebenfalls nicht typisch. Man soll einen Künstler nie nach dem Maße seiner Werke messen.
[235]
[598]
Ob ich damit der Tugend geschadet habe?... Ebenso wenig, als die Anarchisten den Fürsten: erst seitdem sie angeschossen werden, sitzen sie wieder fest auf ihrem Thron... Denn so stand es immer und wird es stehen: man kann einer Sache nicht besser nützen, als indem man sie verfolgt und mit allen Hunden hetzt... Dies – habe ich getan.
[329]
Schopenhauer wünscht, daß man die Schurken kastriert und die Gänse ins Kloster sperrt: von welchem Gesichtspunkte aus könnte das wünschbar sein? Der Schurke hat das vor vielen Menschen voraus, daß er nicht mittelmäßig ist; und der Dumme das vor uns, daß er nicht am Anblick der Mittelmäßigkeit leidet.
Wünschbarer wäre es, daß die Kluft größer würde, also die Schurkerei und die Dummheit wüchse. Dergestalt erweiterte sich die menschliche Natur... Aber zuletzt ist eben das auch das Notwendige; es geschieht und wartet nicht darauf, ob wir es wünschen oder nicht. Die Dummheit, die Schurkerei wachsen: das gehört zum »Fortschritt«.
[746]
Typus meiner Jünger. – Solchen Menschen, welche mich etwas angehn, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung – ich wünsche, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder nicht – daß er standhält.
[910]
Zur Stärke des 19. Jahrhunderts. – Wir sind mittelalterlicher als das 18. Jahrhundert; nicht bloß neugieriger oder reizbarer für Fremdes und Seltnes. Wir haben gegen die Revolution revoltiert... Wir haben uns von der Furcht vor der raison, dem Gespenst des 18. Jahrhunderts, emanzipiert: wir wagen wieder absurd, kindisch, lyrisch zu sein – mit einem Wort: »wir sind Musiker«. Ebensowenig fürchten wir uns vor dem Lächerlichen wie vor dem Absurden. Der Teufel findet die Toleranz Gottes zu seinen Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse als der Verkannte, Verleumdete von alters her – wir sind die Ehrenretter des Teufels.
Wir trennen das Große nicht mehr von dem Furchtbaren. Wir rechnen die guten Dinge zusammen in ihrer Komplexität mit den [599] schlimmsten: wir haben die absurde »Wünschbarkeit« von ehedem überwunden (die das Wachstum des Guten wollte ohne das Wachstum des Bösen –). Die Feigheit vor dem Ideal der Renaissance hat nachgelassen – wir wagen es, zu ihren Sitten selbst zu aspirieren. Die Intoleranz gegen den Priester und die Kirche hat zu gleicher Zeit ein Ende bekommen; »es ist unmoralisch, an Gott zu glauben« – aber gerade das gilt uns als die beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens.
Wir haben alledem ein Recht bei uns gegeben. Wir fürchten uns nicht vor der Kehrseite der »guten Dinge« (– wir suchen sie: wir sind tapfer und neugierig genug dazu), z. B. am Griechentum, an der Moral, an der Vernunft, am guten Geschmack (– wir rechnen die Einbuße nach, die man mit all solchen Kostbarkeiten macht: man macht sich beinahe arm mit einer solchen Kostbarkeit –). Ebensowenig verhehlen wir uns die Kehrseite der schlimmen Dinge.
[1015]
Wogegen ich protestiere? Daß man nicht diese kleine friedliche Mittelmäßigkeit, dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar als Maß des Menschen.
Bacon von Verulam sagt: Infimarum virtutum apud vulgus laus est, mediarum admiratio, supremarum sensus nullus. Das Christentum aber gehört, als Religion, zum vulgus: es hat für die höchste Gattung virtus keinen Sinn.
[249]
Wem die Tugend leicht fällt, der macht sich auch noch über sie lustig. Der Ernst in der Tugend ist nicht aufrechtzuerhalten: man erreicht sie und hüpft über sie hinaus – wohin? in die Teufelei.
Wie intelligent sind inzwischen alle unsre schlimmen Hänge und Dränge geworden! wie viel wissenschaftliche Neugierde plagt sie! Lauter Angelhaken der Erkenntnis!
[321]
Die tiefe Verachtung, mit der der Christ in der vornehm gebliebenen antiken Welt behandelt wurde, gehört ebendahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, welche sich durchdrücken und schüchterne, linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden.[600]
Das Neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich unvornehmen Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Wert zu haben, ja allen Wert zu haben, hat in der Tat etwas Empörendes – auch heute noch.
[186]
Das christlich-jüdische Leben: hier überwog nicht das Ressentiment. Erst die großen Verfolgungen mögen die Leidenschaft dergestalt herausgetrieben haben – sowohl die Glut der Liebe als die des Hasses.
Wenn man für seinen Glauben seine Liebsten geopfert sieht, dann wird man aggressiv; man verdankt den Sieg des Christentums seinen Verfolgern.
Die Asketik im Christentum ist nicht spezifisch: das hat Schopenhauer mißverstanden: sie wächst nur in das Christentum hinein: überall dort, wo es auch ohne Christentum Asketik gibt.
Das hypochondrische Christentum, die Gewissens-Tierquälerei und -Folterung ist insgleichen nur einem gewissen Boden zugehörig, auf dem christliche Werte Wurzel geschlagen haben: es ist nicht das Christentum selbst. Das Christentum hat alle Art Krankheiten morbider Böden in sich aufgenommen: man könnte ihm einzig zum Vorwurf machen, daß es sich gegen keine Ansteckung zu wehren wußte. Aber eben das ist sein Wesen: Christentum ist ein Typus der décadence.
[174]
Die europäischen Fürsten sollten sich in der Tat besinnen, ob sie unsrer Unterstützung entbehren können. Wir Immoralisten – wir sind heute die einzige Macht, die keine Bundesgenossen braucht, um zum Siege zu kommen: damit sind wir bei weitem die Stärksten unter den Starken. Wir bedürfen nicht ein mal der Lüge: welche Macht könnte sonst ihrer entraten? Eine starke Verführung kämpft für uns, die stärkste vielleicht, die es gibt –: die Verführung der Wahrheit ... Der »Wahrheit«? Wer legt das Wort mir in den Mund? Aber ich nehme es wieder heraus: aber ich verschmähe das stolze Wort: nein, wir haben auch sie nicht nötig, wir würden auch noch ohne die Wahrheit zur Macht und zum Siege kommen. Der Zauber, der für uns kämpft, das Auge der Venus, das unsere Gegner selbst bestrickt und blind macht, das ist die Magie des Extrems, die Verführung, die alles Äußerste übt: wir Immoralisten – wir sind die Äußersten...
[749]
[601]
Das Christentum als emanzipiertes Judentum (in gleicher Weise wie eine lokal und rassenmäßig bedingte Vornehmheit endlich sich von diesen Bedingungen emanzipiert und nach verwandten Elementen suchen geht...)
[181]
Die moralischen Werte waren bis jetzt die obersten Werte: will das jemand in Zweifel ziehen?... Entfernen wir diese Werte von jener Stelle, so verändern wir alle Werte: das Prinzip ihrer bisherigen Rangordnung ist damit umgeworfen.
[1006]
Entfernen wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes – sie ist eines Gottes unwürdig. Entfernen wir insgleichen die höchste Weisheit – es ist die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums von Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst gleichsehen. Nein! Gott die höchste Macht – das genügt! Aus ihr folgt alles, aus ihr folgt – »die Welt«!
[1037]
Lauter Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft und deren Vorurteile? – wie weit seine furchtbaren Eigenschaften entfesseln, an denen die meisten zugrunde gehen? – wie weit der Wahrheit entgegengehen und sich die fragwürdigsten Seiten derselben zu Gemüte führen? – wie weit dem Leiden,[602] der Selbstverachtung, dem Mitleiden, der Krankheit, dem Laster entgegengehen, mit dem Fragezeichen, ob man darüber Herr werden wird? (– was uns nicht umbringt, macht uns stärker...) – endlich: wie weit der Regel, dem Gemeinen, dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen, der Durchschnitts-Natur recht geben bei sich, ohne sich damit vulgarisieren zu lassen?... Stärkste Probe des Charakters: sich nicht durch die Verführung des Guten ruinieren zu lassen. Das Gute als Luxus, als Raffinement, als Laster.
[934]
Der heuchlerische Anschein, mit dem alle bürgerlichen Ordnungen übertüncht sind, wie als ob sie Ausgeburten der Moralität wären – z. B. die Ehe; die Arbeit; der Beruf; das Vaterland; die Familie; die Ordnung; das Recht. Aber da sie insgesamt auf die mittelmäßigste Art Mensch hin begründet sind, zum Schutz gegen Ausnahmen und Ausnahme-Bedürfnis se, so muß man es billig finden, wenn hier viel gelogen wird.
[316]
Vor allem, meine Herren Tugendhaften, habt ihr keinen Vorrang vor uns: wir wollen euch die Bescheidenheit hübsch zu Gemüte führen: es ist ein erbärmlicher Eigennutz und Klugheit, welche euch eure Tugend anrät. Und hättet ihr mehr Kraft und Mut im Leibe, würdet ihr euch nicht dergestalt zu tugendhafter Nullität herabdrücken. Ihr macht aus euch, was ihr könnt: teils was ihr müßt – wozu euch eure Umstände zwingen –, teils was euch Vergnügen macht, teils was euch nützlich scheint. Aber wenn ihr tut, was nur euren Neigungen gemäß ist oder was eure Notwendigkeit von euch will oder was euch nützt, so sollt ihr euch darin weder loben dürfen noch loben lassen!... Man ist eine gründlich kleine Art Mensch, wenn man nur tugendhaft ist: darüber soll nichts in die Irre führen! Menschen, die irgendworin in Betracht kommen, waren noch niemals solche Tugend-Esel: ihr innerster Instinkt, der ihres Quantums Macht, fand dabei nicht seine Rechnung: während eure Minimalität an Macht nichts weiser erscheinen läßt als Tugend. Aber ihr habt die Zahl für euch: und insofern ihr tyrannisiert, wollen wir euch den Krieg machen...
[318] [603]
Ich liebe es durchaus nicht an jenem Jesus von Nazareth oder an seinem Apostel Paulus, daß sie den kleinen Leuten so viel in den Kopf gesetzt haben, als ob es etwas auf sich habe mit ihren bescheidenen Tugenden. Man hat es zu teuer bezahlen müssen: denn sie haben die wertvolleren Qualitäten von Tugend und Mensch in Verruf gebracht, sie haben das schlechte Gewissen und das Selbstgefühl der vornehmen Seele gegeneinander gesetzt, sie haben die tapfern, großmütigen, verwegenen, exzessiven Neigungen der starken Seele irregeleitet, bis zur Selbstzerstörung...
[205]
Ein tugendhafter Mensch ist schon deshalb eine niedrigere Spezies, weil er keine »Person« ist, sondern seinen Wert dadurch erhält, einem Schema Mensch gemäß zu sein, das ein für allemal aufgestellt ist. Er hat nicht seinen Wert a parte: er kann verglichen werden, er hat seinesgleichen, er soll nicht einzeln sein.
Rechnet die Eigenschaften des guten Menschen nach, weshalb tun sie uns wohl? Weil wir keinen Krieg nötig haben, weil er kein Mißtrauen, keine Vorsicht, keine Sammlung und Strenge uns auferlegt: unsre Faulheit, Gutmütigkeit, Leichtsinnigkeit macht sich einen guten Tag. Dieses unser Wohlgefühl ist es, das wir aus uns hinausprojizieren und dem guten Menschen als Eigenschaft, als Wert zurechnen.
[319]
Der Individualismus ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des »Willens zur Macht«; hier scheint es dem einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft (sei es des Staates oder der Kirche). Er setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als einzelner; er vertritt alle einzelnen gegen die Gesamtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an mit jedem einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen die Gesamtheit.
Der Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel des Individualismus: er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesamtaktion organisieren muß, zu einer »Macht«. Aber was er will, ist nicht die Sozietät als Zweck des einzelnen, sondern die Sozietät als Mittel zur Ermöglichung vieler einzelnen: – das ist der Instinkt der Sozialisten, über den sie sich häufig betrügen (– abgesehen, daß sie, um sich durchzusetzen,[604] häufig betrügen müssen). Die altruistische Moral-Predigt im Dienste des Individual-Egoismus: eine der gewöhnlichsten Falschheiten des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Anarchismus ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Sozialismus; mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu faszinieren und zu terrorisieren: vor allem – er zieht die Mutigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geistigsten.
Trotz alledem: der Individualismus ist die bescheidenste Stufe des Willens zur Macht.
Hat man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seinesgleichen – er hebt andere von sich ab. Auf den Individualismus folgt die Glieder– und Organbildung: die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht betätigend: zwischen diesen Machtzentren Reibung, Krieg, Erkenntnis beiderseitiger Kräfte, Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Austausch der Leistungen. Am Schluß: eine Rangordnung.
Rekapitulation:
Man will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man »Gerechtigkeit«, d. h. gleiche Macht.
[784]
Diese kleinen Herdentier-Tugenden führen ganz und gar nicht zum »ewigen Leben«: sie dergestalt in Szene setzen, und sich mit ihnen,[605] mag sehr klug sein, aber für den, der hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotz alledem das lächerlichste aller Schauspiele. Man verdient ganz und gar nicht ein Vorrecht auf Erden und im Himmel, wenn man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit gebracht hat; man bleibt damit, günstigenfalls, immer bloß ein kleines, liebes, absurdes Schaf mit Hörnern – vorausgesetzt, daß man nicht vor Eitelkeit platzt und durch richterliche Attitüden skandalisiert.
Die ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die kleinen Tugenden illuminiert werden – wie als Widerglanz göttlicher Qualitäten!
Die natürliche Absicht und Nützlichkeit jeder Tugend grundsätzlich verschwiegen; sie ist nur in Hinsicht auf ein göttliches Gebot, ein göttliches Vorbild wertvoll, nur in Hinsicht auf jenseitige und geistliche Güter. (Prachtvoll: als ob sichs ums »Heil der Seele« handelte: aber es war ein Mittel, um es hier mit möglichst viel schönen Gefühlen »auszuhalten«.)
[203]
Die jüdische Priesterschaft hatte verstanden, alles, was sie beanspruchte, als eine göttliche Satzung, als Folgeleistung gegen ein Gebot Gottes zu präsentieren... insgleichen, was dazu diente, Israel zu erhalten, seine Existenz-Ermöglichung (z. B. eine Summe von Werken: Beschneidung, Opferkult als Zentrum des nationalen Bewußtseins) nicht als Natur, sondern als »Gott« einzuführen. – Dieser Prozeß setzt sich fort; innerhalb des Judentums, wo die Notwendigkeit der »Werke« nicht empfunden wurde (nämlich als Abscheidung gegen außen), konnte eine priesterliche Art Mensch konzipiert werden, die sich verhält wie die »vornehme Natur« zum Aristokraten; eine kastenlose und gleichsam spontane Priesterhaftigkeit der Seele, welche nun, um ihren Gegensatz scharf von sich abzuheben, nicht auf die »Werke«, sondern die »Gesinnung« den Wert legte...
Im Grunde handelte es sich wieder darum, eine bestimmte Art von Seele durchzusetzen: gleichsam ein Volks-Aufstand innerhalb eines priesterlichen Volkes – eine pietistische Bewegung von unten (Sünder, Zöllner, Weiber, Kranke). Jesus von Nazareth war das Zeichen, an dem sie sich erkannten. Und wieder, um an sich glauben zu können, brauchen sie eine theologische Transfiguration: nichts Geringeres als »der[606] Sohn Gottes« tut ihnen not, um sich Glauben zu schaffen... Und genau so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit hier umzufälschen, damit das Christentum als sein kardinalstes Ereignis erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judentums entstehen: dessen Haupttat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld auf Schuld an Gott zu reduzieren: davon ist das Christentum die zweite Potenz.
[182]
Das Christentum als eine Entnatürlichung der Herdentier-Moral: unter absolutem Mißverständnis und Selbstverblendung. Die Demokratisierung ist eine natürlichere Gestalt derselben, eine weniger verlogene.
Tatsache: die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganze große Menge von Sklaven und Halbsklaven wollen zur Macht.
Erste Stufe: sie machen sich frei – sie lösen sich aus, imaginär zunächst, sie erkennen sich untereinander an, sie setzen sich durch.
Zweite Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, »Gerechtigkeit«.
Dritte Stufe: sie wollen die Vorrechte (– sie ziehen die Vertreter der Macht zu sich hinüber).
Vierte Stufe: sie wollen die Macht allein, und sie haben sie...
Im Christentum sind drei Elemente zu unterscheiden: a) die Unterdrückten aller Art, b) die Mittelmäßigen aller Art, c) die Unbefriedigten und Kranken aller Art. Mit dem ersten Element kämpft es gegen die politisch Vornehmen und deren Ideal; mit dem zweiten Element gegen die Ausnahmen und Privilegierten (geistig, sinnlich –) jeder Art; mit dem dritten Element gegen den Natur-Instinkt der Gesunden und Glücklichen.
Wenn es zum Siege kommt, so tritt das zweite Element in den Vordergrund; denn dann hat das Christentum die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als Krieger für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als interessiert wegen der Überwältigung der Menge), – und jetzt ist es der Herden-Instinkt, die in jedem Betracht wertvolle Mittelmaß-Natur, die ihre höchste Sanktion durch das Christentum bekommt. Diese Mittelmaß-Natur kommt endlich so weit sich zum[607] Bewußtsein (– gewinnt den Mut zu sich –), daß sie auch politisch sich die Macht zugesteht...
Die Demokratie ist das vernatürlichte Christentum: eine Art »Rückkehr zur Natur«, nachdem es durch eine extreme Antinatürlichkeit von der entgegengesetzten Wertung überwunden werden konnte. – Folge: das aristokratische Ideal entnatürlicht sich nunmehr (»der höhere Mensch«, »vornehm«, »Künstler«, »Leidenschaft«, »Erkenntnis«; Romantik als Kultus der Ausnahme, Genie usw.).
[215]
Man lese einmal das Neue Testament als Verführungs-Buch: die Tugend wird in Beschlag genommen, im Instinkt, daß man mit ihr die öffentliche Meinung für sich einnimmt, – und zwar die allerbescheidenste Tugend, welche das ideale Herdenschaf anerkennt und nichts weiter (den Schafhirten eingerechnet –): eine kleine, zärtliche, wohlwollende, hilfreiche und schwärmerisch-vergnügte Art Tugend, welche nach außen hin absolut anspruchslos ist, – welche »die Welt« gegen sich abgrenzt. Der unsinnigste Dünkel, als ob sich das Schicksal der Menschheit dergestalt um sie drehe, daß die Gemeinde auf der einen Seite das Rechte und die Welt auf der andern Seite das Falsche, das ewig-Verwerfliche und Verworfene sei. Der unsinnigste Haß gegen alles, was in der Macht ist: aber ohne daran zu rühren! Eine Art von innerlicher Loslösung, welche äußerlich alles beim alten läßt (Dienstbarkeit und Sklaverei; aus allem sich ein Mittel zum Dienste Gottes und der Tugend zu machen wissen).
[210]
Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem robusten Idealismus und »Willen zur Wahrheit« hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus freizumachen gewagt, welcher »Freiheit« sagt und nicht sich eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des »Willens zur Macht« seitens derer, denen sie fehlt. Auf der ersten verlangt man Gerechtigkeit von seiten derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man »Freiheit«, d. h. man will »loskommen« von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man »gleiche Rechte«, d. h. man will, solange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.
[86]
[608]
Rang bestimmend, Rang abhebend sind allein Macht-Quantitäten: und nichts sonst.
[855]
Nicht die Menschen »besser« machen, nicht zu ihnen auf irgendeine Art Moral reden, als ob »Moralität an sich«, oder eine ideale Art Mensch überhaupt, gegeben sei: sondern Zustände schaffen, unter denen stärkere Menschen nötig sind, welche ihrerseits eine Moral (deutlicher: eine leiblich-geistige Disziplin), welche stark macht, brauchen und folglich haben werden!
Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen verführen lassen: die Größe der Seele hat nichts Romantisches an sich. Und leider gar nichts Liebenswürdiges!
[981]
Sehen wir, was »der echte Christ« mit alledem anfängt, was seinem Instinkte sich widerrät: – die Beschmutzung und Verdächtigung des Schönen, des Glänzenden, des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen, des Erkennenden, des Mächtigen – in summa der ganzen Kultur: seine Absicht geht dahin, ihr das gute Gewissen zu nehmen...
[250]
Eine Gesinnung, die sich »Idealismus« nennt und die der Mittelmäßigkeit nicht erlauben will, mittelmäßig zu sein, und dem Weibe nicht, Weib zu sein! – Nicht uniformieren! Uns klarmachen, wie teuer eine Tugend zu stehen kommt: und daß Tugend nichts Durchschnittlich-Wünschenswertes, sondern eine noble Tollheit, eine schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht, stark-gestimmt zu werden...
[865]
Wo man die stärkeren Naturen zu suchen hat. – Das Zugrundegehen und Entarten der solitären Spezies ist viel größer und furchtbarer: sie haben die Instinkte der Herde, die Tradition der Werte gegen sich; ihre Werkzeuge zur Verteidigung, ihre Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug – es gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie gedeihen (– sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen am häufigsten; wenn man nach Person sucht, dort findet man sie, um wie viel sicherer als in den mittleren Klassen!).
Der Stände- und Klassenkampf, der auf »Gleichheit der Rechte«[609] abzielt – ist er ungefähr erledigt, so geht der Kampflos gegen die Solitär-Person. (In einem gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Verteidigungs-Mittel nicht mehr nötig sind und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört.)
Die Stärksten müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht werden: so will es der Instinkt der Herde. Für sie ein Régime der Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits oder der »Pflicht« in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.
[887]
Inwiefern die christlichen Jahrhunderte mit ihrem Pessimismus stärkere Jahrhunderte waren als das 18. Jahrhundert – entsprechend das tragische Zeitalter der Griechen –.
Das 19. Jahrhundert gegen das 18. Jahrhundert. Worin Erbe, – worin Rückgang gegen dasselbe (: »geist«-loser, geschmackloser), – worin Fortschritt über dasselbe (düsterer, realistischer, stärker).
[102]
Absurde und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität nicht medioker haben will und, statt an einem Ausnahme-Sein einen Triumph zu fühlen, entrüstet ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. Man soll das nicht anders wollen! und die Kluft größer aufreißen! – Man soll die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch die Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat.
Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen. Die Mittelgebilde ablösen und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.
[891]
Im Verhältnis zur Musik ist alle Mitteilung durch Worte von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht; das Wort macht das Ungemeine gemein.
[810]
Die Rangordnung der Menschen-Werte. –
a) Man soll einen Menschen nicht nach einzelnen Werken abschätzen. Epidermal-Handlungen. Nichts ist seltener als eine Personal-Handlung.[610] Ein Stand, ein Rang, eine Volks-Rasse, eine Umgebung, ein Zufall – alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Tun aus als eine »Person«.
b) Man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen »Personen« sind. Und dann sind manche auch mehrere Personen, die meisten sind keine. Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer »Person« zu verlangen. Es sind Träger, Transmissions-Werkzeuge.
c) Die »Person« ein relativ isoliertes Faktum; in Hinsicht auf die weit größere Wichtigkeit des Fort flusses und der Durchschnittlichkeit somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört eine zeitige Isolierung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz, etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und, vor allem, eine viel geringere Impressionabilität, als sie der mittlere Mensch, dessen Menschlichkeit kontagiös ist, hat.
Erste Frage in betreff der Rangordnung: wie solitär oder wie herdenhaft jemand ist. (Im letztern Falle liegt sein Wert in den Eigenschaften, die den Bestand seiner Herde, seines Typus sichern; im andern Falle in dem, was ihn abhebt, isoliert, verteidigt und solitär ermöglicht.)
Folgerung: man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem herdenhaften, und den herdenhaften nicht nach dem solitären.
Aus der Höhe betrachtet sind beide notwendig; insgleichen ist ihr Antagonismus notwendig, – und nichts ist mehr zu verbannen als jene »Wünschbarkeit«, es möchte sich etwas drittes aus beiden entwickeln (»Tugend« als Hermaphroditismus). Das ist so wenig »wünschbar« als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das Typische fortentwickeln, die Kluft immer tiefer aufreißen...
Begriff der Entartung in beiden Fällen: wenn die Herde den Eigenschaften der solitären Wesen sich nähert und diese den Eigenschaften der Herde – kurz, wenn sie sich annähern. Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moralischen Beurteilung.
[886]
[611] Erster Satz: Es gilt gar keine moralischen Handlungen: sie sind vollkommen eingebildet. Nicht nur, daß sie nicht nachweisbar sind (was z. B. Kant zugab und das Christentum insgleichen), – sondern sie sind gar nicht möglich. Man hat einen Gegensatz zu den treibenden Kräften erfunden, durch ein psychologisches Mißverständnis, und glaubt eine andere Art von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein primum mobile fingiert, das gar nicht existiert. Nach der Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz »moralisch« und »unmoralisch« aufgebracht hat, muß man sagen: es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen.
Zweiter Satz: Diese ganze Unterscheidung »moralisch« und »unmoralisch« geht davon aus, daß sowohl die moralischen als die unmoralischen Handlungen Akte der freien Spontaneität seien – kurz, daß es eine solche gebe, oder anders ausgedrückt: daß die moralische Beurteilung überhaupt sich nur auf eine Gattung von Absichten und Handlungen beziehe, die freien. Aber diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen ist rein imaginär: die Welt, an welche der moralische Maßstab allein anlegbar ist, existiert gar nicht – es gibt weder moralische noch unmoralische Handlungen.
Der psychologische Irrtum, aus dem der Gegensatz-Begriff »moralisch« und »unmoralisch« entstanden ist: »selbstlos«, »unegoistisch«, »selbstverleugnend« – alles unreal, fingiert.
Fehlerhafter Dogmatismus in betreff des »ego«: dasselbe als atomistisch genommen, in einem falschen Gegensatz zum »Nicht-Ich«; insgleichen aus dem Werden herausgelöst, als etwas Seiendes. Die falsche Versubstanzialisierung des Ich: diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders unter dem Druck religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel gemacht. Nach dieser künstlichen Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung des ego hatte man einen Wert-Gegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien: das Einzel-ego und das ungeheure Nicht-Ich. Es schien handgreiflich, daß der Wert des Einzel-ego nur darin liegen könne, sich auf das ungeheure »Nicht-Ich« zu beziehen resp. sich ihm unterzuordnen und um seinet-willen zu existieren. – Hier waren die Herden-Instinkte bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte als die Souveränität des Einzelnen.[612] Gesetzt aber, das ego ist begriffen als ein An-und-für-sich, so muß sein Wert in der Selbstverneinung liegen.
Also: 1. die falsche Verselbständigung des »Individuums«, als Atom;
2. die Herden-Würdigung, welche das Atom-bleiben-wollen perhorresziert und als feindlich empfindet;
3. als Folgerung: Überwindung des Individuums durch Verlegung seines Ziels;
4. nun schien es Handlungen zu geben, welche selbstverneinend waren: man phantasierte um sie eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum;
5. man fragte: in welchen Handlungen bejaht sich der Mensch am stärksten? Um diese (Geschlechtlichkeit, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde der Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man glaubte, daß es unselbstische Triebe gibt, man verwarf alle selbstischen, man verlangte die unselbstischen;
6. Folge davon: was hatte man getan? Man hatte die stärksten, natürlichsten, mehr noch, die einzig realen Triebe in Bann getan, – man mußte, um eine Handlung fürderhin lobenswert zu finden, in ihr die Anwesenheit solcher Triebe leugnen – ungeheure Fälscherei in psychologicis. Selbst jede Art »Selbstzufriedenheit« hatte sich erst dadurch wieder möglich zu machen, daß man sich sub specie boni mißverstand und zurechtlegte. Umgekehrt: jene Spezies, wel che ihren Vorteil davon hatte, dem Menschen seine Selbstzufriedenheit zu nehmen (die Repräsentanten des Herden-Instinkts, z. B. die Priester und Philosophen), wurde fein und psychologisch-scharfsichtig, zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht herrsche. Christlicher Schluß: »Alles ist Sünde; auch unsre Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des Menschen. Die selbstlose Handlung ist nicht möglich.« Erbsünde. Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz zu einer rein imaginären Welt des Guten gebracht hatte, endete er mit Selbstverachtung, als unfähig, Handlungen zu tun, welche »gut« sind.
NB. Das Christentum bezeichnet damit einen Fortschritt in der psychologischen Verschärfung des Blicks: Larochefoucauld und Pascal. Es begriff die Wesensgleichheit der menschlichen Handlungen und ihre Wert-Gleichheit in der Hauptsache (– alle unmoralisch).[613]
Nun machte man Ernst, Menschen zu bilden, in denen die Selbstsucht getötet ist – die Priester, die Heiligen. Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit, »vollkommen« zu werden, man zweifelte nicht, zu wissen, was vollkommen ist.
Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des »guten Menschen« mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen. Man hatte die wirklichen Motive des Handelns für schlecht erklärt: man mußte, um überhaupt noch handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können, Handlungen, die gar nicht möglich sind, als möglich beschreiben und gleichsam heiligen. Mit derselben Falschheit, mit der man verleumdet hatte, hat man nunmehr verehrt und veridealisiert.
Das Wüten gegen die Instinkte des Lebens als »heilig«, verehrungswürdig. Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die absolute Armut: priesterliches Ideal. Almosen, Mitleiden, Aufopferung, Verleugnung des Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit, moroser Blick für alle starken Qualitäten, die man hat: Laien-Ideal.
Man kommt vorwärts: die verleumdeten Instinkte suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z. B. Luthers Reformation: gröbste Form der moralischen Verlogenheit unter der »Freiheit des Evangeliums«), – man tauft sie um auf heilige Namen;
: die verleumdeten Instinkte suchen sich als notwendig zu beweisen, damit die tugendhaften überhaupt möglich sind; man muß vivre, pour vivre pour autrui: Egoismus als Mittel zum Zweck;
: man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen als auch den altruistischen Regungen ein Existenz-Recht zu geben: Gleichheit der Rechte für die einen wie für die andern (vom Gesichtspunkt des Nutzens);
: man geht weiter, man sucht die höhere Nützlichkeit in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes gegenüber dem altruistischen: nützlicher in Hinsicht auf das Glück der meisten oder die Förderung der Menschheit usw. Also: ein Übergewicht an Rechten des Egoismus, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive (»Gesamt-Nutzen der Menschheit«);
: man sucht die altruistische Handlungsweise mit der Natürlichkeit zu versöhnen, man sucht das Altruistische auf dem Grunde des Lebens;[614] man sucht das Egoistische wie das Altruistische als gleich begründet im Wesen des Lebens und der Natur;
: man träumt von einem Verschwinden des Gegensatzes in irgendeiner Zukunft, wo, durch fortgesetzte Anpassung, das Egoistische auch zugleich das Altruistische ist;
: endlich, man begreift, daß die altruistischen Handlungen nur eine Spezies der egoistischen sind – und daß der Grad, in dem man liebt, sich verschwendet, ein Beweis ist für den Grad einer individuellen Macht und Personalität. Kurz, daß man, indem man den Menschen böser macht, ihn besser macht – und daß man das eine nicht ohne das andere ist... Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren Fälschung der Psychologie des bisherigen Menschen.
Folgerungen: es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen; – die sogenannten moralischen sind also als Unmoralitäten nachzuweisen. Die Ableitung aller Affekte aus dem einen Willen zur Macht: wesensgleich. Der Begriff des Lebens: – es drücken sich in dem anscheinenden Gegensatze (von »gut und böse«) Machtgrade von Instinkten aus, zeitweilige Rangordnung, unter der gewisse Instinkte im Zaum gehalten werden oder in Dienst genommen werden. – Rechtfertigung der Moral: ökonomisch usw.
Gegen den zweiten Satz. Der Determinismus: Versuch, die moralische Welt zu retten, dadurch daß man sie transloziert – ins Unbekannte. Der Determinismus ist nur ein modus, unsre Wertschätzungen eskamotieren zu dürfen, nachdem sie in der mechanistisch-gedachten Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb den Determinismus angreifen und unterminieren: insgleichen unser Recht zu einer Scheidung einer An-sich- und Phänomenal-Welt bestreiten.
[786]
Der Protestantismus, jene geistig unreinliche und langweilige Form der décadence, in der das Christentum sich bisher im mediokren Norden zu konservieren gewußt hat: als etwas Halbes und Komplexes wertvoll für die Erkenntnis, insofern es Erfahrungen verschiedener Ordnung und Herkunft in den gleichen Köpfen zusammenbrachte.
[88]
Die Vernatürlichung des Menschen im 19. Jahrhundert (- das 18. Jahrhundert[615] ist das der Eleganz, der Feinheit und der sentiments généreux). – Nicht »Rückkehr zur Natur«: denn es gab noch niemals eine natürliche Menschheit. Die Scholastik un- und wider-natürlicher Werte ist die Regel, ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe, – er kehrt nie »zurück« ... Die Natur: d. h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur.
Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen generöse Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen.
Natürlicher ist unsre erste Gesellschaft, die der Reichen, der Müßigen: man macht Jagd aufeinander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hindernis und einen Reiz abgibt; man unterhält sich und lebt um des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge in erster Linie, man ist neugierig und gewagt.
Natürlicher ist unsre Stellung zur Erkenntnis; wir haben die Libertinage des Geistes in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse der Erkenntnis, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten.
Natürlicher ist unsre Stellung zur Moral. Prinzipien sind lächerlich geworden; niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner »Pflicht« zu reden. Aber man schätzt eine hilfreiche, wohlwollende Gesinnung (– man sieht im Instinkt die Moral und dédaigniert den Rest. Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe –).
Natürlicher ist unsre Stellung in politicis: wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen.
Natürlicher ist unsre Schätzung großer Menschen und Dinge: wir rechnen die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein großes Verbrechen einbegriffen ist; wir konzipieren alles Groß-sein als ein Sich-außerhalb-stellen in bezug auf Moral.
Natürlicher ist unsre Stellung zur Natur: wir lieben sie nicht mehr um ihrer »Unschuld«, »Vernunft«, »Schönheit« willen, wir haben sie hübsch »verteufelt« und »verdummt«. Aber statt sie darum zu verachten, fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspiriert nicht zur Tugend: wir achten sie deshalb.[616]
Natürlicher ist unsre Stellung zur Kunst: wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher konstatiert, ohne sich zu erregen.
In summa: es gibt Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal seine unbedingte Natürlichkeit, d. h. seine Unmoralität einzugestehen, ohne Erbitterung: im Gegenteil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch auszuhalten.
Das klingt in gewissen Ohren, wie als ob die Korruption fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht der »Natur« angenähert hat, von der Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter getan hat in der Zivilisation, welche er perhorreszierte. Wir haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen, dem Geschmack seines Endes namentlich (Dancourt, Lesage, Regnard).
[120]
Der Nihilismus der Artisten. – Die Natur grausam durch ihre Heiterkeit; zynisch mit ihren Sonnenaufgängen. Wir sind feindselig gegen Rührungen. Wir flüchten dorthin, wo die Natur unsere Sinne und unsre Einbildungskraft bewegt; wo wir nichts zu lieben haben, wo wir nicht an die moralischen Scheinbarkeiten und Delikatessen dieser nordischen Natur erinnert werden; – und so auch in den Künsten. Wir ziehen vor, was nicht mehr uns an »Gut und Böse« erinnert. Unsre moralistische Reizbarkeit und Schmerzfähigkeit ist wie erlöst in einer furchtbaren und glücklichen Natur, im Fatalismus der Sinne und der Kräfte. Das Leben ohne Güte.
Die Wohltat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse.
Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivität sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt –, und insgleichen in der Natur dorthin, wo der böse und indifferente Charakter sich nicht verhehlt, wo sie den Charakter der Vollkommenheit darstellt... Der nihilistische Künstler verrät sich im Wollen und Bevorzugen der zynischen Geschichte, der zynischen Natur.
[850]
[617]
Das Verbrechen gehört unter den Begriff »Aufstand wider die gesellschaftliche Ordnung«. Man »bestraft« einen Aufständischen nicht: man unterdrückt ihn. Ein Aufständischer kann ein erbärmlicher und verächtlicher Mensch sein: an sich ist an einem Aufstande nichts zu verachten, – und in Hinsicht auf unsere Art Gesellschaft aufständisch zu sein, erniedrigt an sich noch nicht den Wert eines Menschen. Es gibt Fälle, wo man einen solchen Aufständischen darum selbst zu ehren hätte, weil er an unsrer Gesellschaft etwas empfindet, gegen das der Krieg not tut – wo er uns aus dem Schlummer weckt.
Damit, daß der Verbrecher etwas einzelnes tut an einem einzelnen, ist nicht widerlegt, daß sein ganzer Instinkt gegen die ganze Ordnung im Kriegszustande ist: die Tat als bloßes Symptom.
Man soll den Begriff »Strafe« reduzieren auf den Begriff: Niederwerfung eines Aufstandes, Sicherheitsmaßregel gegen den Niedergeworfenen (ganze oder halbe Gefangenschaft). Aber man soll nicht Verachtung durch die Strafe ausdrücken: ein Verbrecher ist jedenfalls ein Mensch, der sein Leben, seine Ehre, seine Freiheit riskiert – ein Mann des Muts. Man soll insgleichen nicht die Strafe als Buße nehmen; oder als eine Abzahlung, wie als ob es ein Tauschverhältnis gebe zwischen Schuld und Strafe, – die Strafe reinigt nicht, denn das Verbrechen beschmutzt nicht.
Man soll dem Verbrecher die Möglichkeit nicht abschließen, seinen Frieden mit der Gesellschaft zu machen: gesetzt, daß er nicht zur Rasse des Verbrechertums gehört. In letzterm Falle soll man ihm den Krieg machen, noch bevor er etwas Feindseliges getan hat (erste Operation, sobald man ihn in der Gewalt hat: ihn kastrieren).
Man soll dem Verbrecher nicht seine schlechten Manieren noch den niedrigen Stand seiner Intelligenz zum Nachteil anrechnen. Nichts ist gewöhnlicher, als daß er sich selbst mißversteht (namentlich ist sein revoltierter Instinkt, die Ranküne des déclassé oft nicht sich zum Bewußtsein gelangt, faute de lecture), daß er unter dem Eindruck der Furcht, des Mißerfolgs seine Tat verleumdet und verunehrt: von jenen Fällen noch ganz abgesehen, wo, psychologisch nachgerechnet, der Verbrecher einem unverstandnen Triebe nachgibt und seiner Tat durch eine Nebenhandlung ein falsches Motiv unterschiebt (etwa durch eine Beraubung, während es ihm am Blute lag).[618]
Man soll sich hüten, den Wert eines Menschen nach einer einzelnen Tat zu behandeln. Davor hat Napoleon gewarnt. Namentlich sind die Hautrelief-Taten ganz besonders insignifikant. Wenn unsereiner kein Verbrechen, z. B. keinen Mord auf dem Gewissen hat – woran liegt es? Daß uns ein paar begünstigende Umstände dafür gefehlt haben. Und täten wir es, was wäre damit an unserm Werte bezeichnet? An sich würde man uns verachten, wenn man uns nicht die Kraft zutraute, unter Umständen einen Menschen zu töten. Fast in allen Verbrechen drücken sich zugleich Eigenschaften aus, welche an einem Manne nicht fehlen sollen. Nicht mit Unrecht hat Dostojewskij von den Insassen jener sibirischen Zuchthäuser gesagt, sie bildeten den stärksten und wertvollsten Bestandteil des russischen Volkes. Wenn bei uns der Verbrecher eine schlecht ernährte und verkümmerte Pflanze ist, so gereicht dies unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zur Unehre; in der Zeit der Renaissance gedieh der Verbrecher und erwarb sich seine eigne Art von Tugend – Tugend im Renaissancestile freilich, virtù, moralinfreie Tugend.
Man vermag nur solche Menschen in die Höhe zu bringen, die man nicht mit Verachtung behandelt; die moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und Schädigung als irgendein Verbrechen.
[740]
Es ist eine Entnatürlichung der Moral, daß man die Handlung abtrennt vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die »Sünde« wendet; daß man glaubt, es gebe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind.
Wiederherstellung der »Natur«: eine Handlung an sich ist vollkommen leer an Wert: es kommt alles darauf an, wer sie tut. Ein und dasselbe »Verbrechen« kann im einen Fall das höchste Vorrecht, im andern das Brandmal sein. Tatsächlich ist es die Selbstsucht der Urteilenden, welche eine Handlung, resp. ihren Täter auslegt im Verhältnis zum eigenen Nutzen oder Schaden (– oder im Verhältnis zur Ähnlichkeit oder Nichtverwandtschaft mit sich).
[292]
Man soll das Reich der Moralität Schritt für Schritt verkleinern und eingrenzen: man soll die Namen für die eigentlichen hier arbeitenden Instinkte ans Licht ziehen und zu Ehren bringen, nachdem sie die[619] längste Zeit unter heuchlerischen Tugendnamen versteckt wurden; man soll aus Scham vor seiner immer gebieterischer redenden »Redlichkeit« die Scham verlernen, welche die natürlichen Instinkte verleugnen und weglügen möchte. Es ist ein Maß der Kraft, wie weit man sich der Tugend entschlagen kann; und es wäre eine Höhe zu denken, wo der Begriff »Tugend« so umempfunden wäre, daß er wie virtù klänge, Renaissance-Tugend, moralinfreie Tugend. Aber einstweilen
– wie fern sind wir noch von diesem Ideale!
Die Gebiets-Verkleinerung der Moral: ein Zeichen ihres Fortschritts. Überall, wo man noch nicht kausal zu denken vermocht hat, dachte man moralisch.
[327]
Was wird aus dem Menschen, der keine Gründe mehr hat, sich zu wehren und anzugreifen? Was bleibt von seinen Affekten übrig, wenn die ihm abhandenkommen, in denen er seine Wehr und seine Waffe hat?
[924]
»Glaube« oder »Werke«?. – Aber daß zum »Werke«, zur Gewohnheit bestimmter Werke sich eine bestimmte Wertschätzung und endlich Gesinnung hinzuerzeugt, ist ebenso natürlich, als es unnatürlich ist, daß aus einer bloßen Wertschätzung »Werke« hervorgehn. Man muß sich üben, nicht in der Verstärkung von Wertgefühlen, sondern im Tun; man muß erst etwas können... Der christliche Dilettantismus Luthers. Der Glaube ist eine Eselsbrücke. Der Hintergrund ist eine tiefe Überzeugung Luthers und seinesgleichen von ihrer Unfähigkeit zu christlichen Werken, eine persönliche Tatsache, verhüllt unter einem extremen Mißtrauen darüber, ob nicht überhaupt jedwedes Tun Sünde und vom Teufel ist: so daß der Wert der Existenz auf einzelne hochgespannte Zustände der Untätigkeit fällt (Gebet, Effusion usw.). – Zuletzt hätte er recht: die Instinkte, welche sich im ganzen Tun der Reformatoren ausdrücken, sind die brutalsten, die es gibt. Nur in der absoluten Wegwendung von sich, in der Versenkung in den Gegensatz, nur als Illusion (»Glaube«) war ihnen das Dasein auszuhalten.
[192]
Der vollkommene Nihilist. – Das Auge des Nihilisten idealisiert ins Häßliche, übt Untreue gegen seine Erinnerungen –: es läßt sie fallen, sich[620] entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt. Und was er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit der Menschen nicht – er läßt sie fallen.
[21]
Der unvollständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin.
Die Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die bisherigen Werte umzuwerten: bringen das Gegenteil hervor, verschärfen das Problem.
[28]
Krieg gegen das christliche Ideal, gegen die Lehre von der »Seligkeit« und dem »Heil« als Ziel des Lebens, gegen die Suprematie der Einfältigen, der reinen Herzen, der Leidenden und Mißglückten.
[217a]
Der Instinkt der Herde schätzt die Mitte und das Mittlere als das Höchste und Wertvollste ab: die Stelle, auf der die Mehrzahl sich befindet; die Art und Weise, in der sie sich daselbst befindet. Damit ist er Gegner aller Rangordnung, der ein Aufsteigen von unten nach oben zugleich als ein Hinabsteigen von der Überzahl zur kleinsten Zahl ansieht. Die Herde empfindet die Ausnahme, sowohl das Unter-ihr wie das Über-ihr, als etwas, das zu ihr sich gegnerisch und schädlich verhält. Ihr Kunstgriff in Hinsicht auf die Ausnahmen nach oben, die Stärkeren, Mächtigeren, Weiseren, Fruchtbareren ist, sie zur Rolle der Hüter, Hirten, Wächter zu überreden – zu ihren ersten Dienern: damit hat sie eine Gefahr in einen Nutzen umgewandelt. In der Mitte hört die Furcht auf: hier ist man mit nichts allein; hier ist wenig Raum für das Mißverständnis; hier gibt es Gleichheit; hier wird das eigne Sein nicht als Vorwurf empfunden, sondern als das rechte Sein; hier herrscht die Zufriedenheit. Das Mißtrauen gilt den Ausnahmen; Ausnahme sein gilt als Schuld.
[280]
Würde irgendein Ring in der ganzen Kette von Kunst und Wissenschaft fehlen, wenn das Weib, wenn das Werk des Weibes darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu – sie beweist die Regel – das Weib bringt es in allem zur Vollkommenheit, was nicht ein Werk ist, in Brief, in Memoiren, selbst in der delikatesten Handarbeit, die es gibt, kurz in[621] allem, was nicht ein Metier ist, genau deshalb, weil es darin sich selbst vollendet, weil es damit seinem einzigen Kunst-Antrieb gehorcht, den es besitzt – es will gefallen... Aber was hat das Weib mit der leidenschaftlichen Indifferenz des echten Künstlers zu schaffen, der einem Klang, einem Hauch, einem Hopsassa mehr Wichtigkeit zugesteht, als sich selbst? der mit allen fünf Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift? der keinem Dinge einen Wert zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden weiß (– daß es sich preisgibt, daß es sich öffentlich macht –). Die Kunst, so wie der Künstler sie übt – begreift ihr's denn nicht, was sie ist: ein Attentat auf alle pudeurs?... Erst mit diesem Jahrhundert hat das Weib jene Schwenkung zur Literatur gewagt (– vers la canaille plumière écrivassière, mit dem alten Mirabeau zu reden): es schriftstellert, es künstlert, es verliert an Instinkt. Wozu doch? wenn man fragen darf.
[817]
Die moderne Kunst als eine Kunst zu tyrannisieren. – Eine grobe und stark herausgetriebene Logik des Lineaments; das Motiv vereinfacht bis zur Formel: die Formel tyrannisiert. Innerhalb der Linien eine wilde Vielheit, eine überwältigende Masse, vor der die Sinne sich verwirren; die Brutalität der Farben, des Stoffes, der Begierden. Beispiele: Zola, Wagner; in geistigerer Ordnung Taine. Also Logik, Masse und Brutalität.
[827]
– Das Laster mit etwas entschieden Peinlichem so verknüpfen, daß zuletzt man vor dem Laster flieht, um von dem loszukommen, was mit ihm verknüpft ist. Das ist der berühmte Fall Tannhäusers. Tannhäuser, durch Wagnersche Musik um seine Geduld gebracht, hält es selbst bei Frau Venus nicht mehr aus: mit einem Male gewinnt die Tugend Reiz; eine thüringische Jungfrau steigt im Preise; und um das Stärkste zu sagen, er goutiert sogar die Weise Wolframs von Eschenbach...
[322]
Künstler sind nicht die Menschen der großen Leidenschaft, was sie uns und sich auch vorreden mögen. Und das aus zwei Gründen: es fehlt ihnen die Scham vor sich selber (sie sehen sich zu, indem sie leben; sie lauern sich auf, sie sind zu neugierig) und es fehlt ihnen auch die[622] Scham vor der großen Leidenschaft (sie beuten sie als Artisten aus). Zweitens aber ihr Vampyr, ihr Talent, mißgönnt ihnen meist solche Verschwendung von Kraft, welche Leidenschaft heißt. – Mit einem Talent ist man auch das Opfer seines Talents: man lebt unter dem Vampyrismus seines Talents.
Man wird nicht dadurch mit seiner Leidenschaft fertig, daß man sie darstellt: vielmehr, man ist mit ihr fertig, wenn man sie darstellt. (Goethe lehrt es anders; aber es scheint, daß er hier sich selbst mißverstehen wollte – aus delicatezza.)
[814]
Wann und wo hat je ein Mensch, der in Betracht kommt, jenem christlichen Ideal ähnlich gesehen? Wenigstens für solche Augen, wie sie ein Psycholog und Nierenprüfer haben muß! – man blättere alle Helden Plutarchs durch.
[217b]
Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen Einsturz unsrer ganzen Zivilisation wünschen müssen. Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen Entschuldigung.
Der Wert eines Menschen (abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn mit diesen Begriffen wird der Wert eines Menschen noch nicht einmal berührt) liegt nicht in seiner Nützlichkeit: denn er bestünde fort, selbst wenn es niemanden gäbe, dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgingen, die Spitze der ganzen Spezies Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an ihm alles vor Neid zugrunde ginge?
[877]
A. Die Wege zur Macht: die neue Tugend unter dem Namen einer alten einführen, – für sie das »Interesse« aufregen (»Glück« als ihre Folge und umgekehrt), – die Kunst der Verleumdung gegen ihre Widerstände, – die Vorteile und Zufälle ausnützen zu ihrer Verherrlichung, – ihre Anhänger durch Opfer, Separation zu ihren Fanatikern machen; – die große Symbolik.
B. Die erreichte Macht: 1. Zwangsmittel der Tugend; 2. Verführungsmittel der Tugend; 3. die Etikette (der Hofstaat) der Tugend.
[310]
[623] Die falsche »Verstärkung«: – 1) im Romantismus: dies beständige espressivo ist kein Zeichen von Stärke, sondern von einem Mangelgefühl;
2) die pittoreske Musik, die sogenannte dramatische, ist vor allem leichter (ebenso wie die brutale Kolportage und Nebeneinanderstellung von faits und traits im Roman des Naturalismus);
3) die »Leidenschaft« eine Sache der Nerven und der ermüdeten Seelen; so wie der Genuß an Hochgebirgen, Wüsten, Unwettern, Orgien und Scheußlichkeiten – am Massenhaften und Massiven (bei Historikern z.B.); tatsächlich gibt es einen Kultus der Ausschweifung des Gefühls (– wie kommt es, daß die starken Zeiten ein umgekehrtes Bedürfnis in der Kunst haben – nach einem Jenseits der Leidenschaft?);
4) die Bevorzugung der aufregenden Stoffe (Erotica oder Socialistica oder Pathologica): Alles Zeichen, für wen heute gearbeitet wird, für Überarbeitete und Zerstreute oder Geschwächte.
Man muß tyrannisieren, um überhaupt zu wirken.
[826]
Die Wissenschaft: ihre zwei Seiten:
hinsichtlich des Individuums;
hinsichtlich des Kultur-Komplexes (»Niveaus«); – entgegengesetzte Wertung nach dieser und nach jener Seite.
[607]
Einsicht in die Zunahme der Gesamt-Macht: ausrechnen, inwiefern auch der Niedergang von Einzelnen, von Ständen, von Zeiten, Völkern einbegriffen ist in diesem Wachstum.
Verschiebung des Schwergewichts einer Kultur. Die Unkosten jedes großen Wachstums: wer sie trägt! Inwiefern sie jetzt ungeheuer sein müssen.
[867]
Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat und daß die »Barbarei« der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung einmal in die Notwendigkeit versetzt wird, am Kongo oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu müssen.
[922]
Gesamt-Einsicht: der zweideutige Charakter unsrer modernen Welt – eben dieselben Symptome könnten auf Niedergang und auf Stärke deuten. Und die Abzeichen der Stärke, der errungenen Mündigkeit[624] könnten auf Grund überlieferter (zurückgebliebener) Gefühls-Abwertung als Schwäche mißverstanden werden. Kurz, das Gefühl, als Wertgefühl, ist nicht auf der Höhe der Zeit.
Verallgemeinert: Das Wertgefühl ist immer rückständig, es drückt Erhaltungs-, Wachstums-Bedingungen einer viel früheren Zeit aus: es kämpft gegen neue Daseinsbedingungen an, aus denen es nicht gewachsen ist und die es notwendig mißversteht: es hemmt, es weckt Argwohn gegen das Neue...
[110]
Mit der Kunst gegen die Vermoralisierung kämpfen. – Kunst als Freiheit von der moralischen Verengung und Winkel-Optik; oder als Spott über sie. Die Flucht in die Natur, wo ihre Schönheit mit der Furchtbarkeit sich paart. Konzeption des großen Menschen.
– Zerbrechliche, unnütze Luxus-Seelen, welche ein Hauch schon trübe macht, »die schönen Seelen«.
– Die verblichenen Ideale aufwecken in ihrer schonungslosen Härte und Brutalität, als die prachtvollsten Ungeheuer, die sie sind.
– Ein frohlockender Genuß an der psychologischen Einsicht in die Sinuosität und Schauspielerei wider Wissen bei allen vermoralisierten Künstlern.
– Die Falschheit der Kunst – ihre Immoralität ans Licht ziehen.
– Die »idealisierenden Grundmächte« (Sinnlichkeit, Rausch, überreiche Animalität) ans Licht ziehen.
[823]
Gesamt-Einsicht. – Tatsächlich bringt jedes große Wachstum auch ein ungeheures Abbröckeln und Vergehen mit sich: das Leiden, die Symptome des Niedergangs gehören in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens; jede fruchtbare und mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung mitgeschaffen. Es wäre unter Umständen das Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentlichstes Wachstum, für den Übergang in neue Daseinsbedingungen, daß die extremste Form des Pessimismus, der eigentliche Nihilismus, zur Welt käme. Dies habe ich begriffen.
[112]
Zum Pessimismus der Stärke. – In dem innern Seelen-Haushalt des primitiven Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das [625] Böse? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse? – Er konzipiert es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus einzuwirken – zu prävenieren.
– Ein anderes Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen als wohlgemeint, als sinnvoll aus.
– Ein drittes Mittel: man interpretiert vor allem das Schlimme als »verdient«: man rechtfertigt das Böse als Strafe.
– In summa: man unterwirft sich ihm –: die ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse. – Der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt Verzicht leisten, es zu bekämpfen.
Nun stellt die ganze Geschichte der Kultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Kultur, das heißt eben berechnen lernen, kausal denken lernen, prävenieren lernen, an Notwendigkeit glauben lernen. Mit dem Wachstum der Kultur wird dem Menschen jene primitive Form der Unterwerfung unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene »Rechtfertigung des Übels« entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das »Übel« – er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdruß ins Bewußtsein tritt – wo die Lust am Zufall, am Ungewissen und am Plötzlichen als Kitzel hervorspringt.
Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom höchster Kultur – ich nenne ihn den Pessimismus der Stärke. Der Mensch braucht jetzt nicht mehr eine »Rechtfertigung des Übels«, er perhorresziert gerade das »Rechtfertigen«: er genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nötig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört.
In einem solchen Zustande bedarf gerade das Gute einer »Rechtfertigung«, d. h. es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch. Die[626] Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher Übermut zugunsten des Tiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphierendste Form der Geistigkeit. Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens an Gott schämen zu dürfen – er darf jetzt von neuem den advocatus diaboli spielen. Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet, so tut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-, Machtsuchtsform erkennen lassen.
Auch dieser Pessimismus der Stärke endet mit einer Theodizee, d. h. mit einem absoluten Ja-sagen zu der Welt – aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals nein gesagt hat –: und dergestalt zur Konzeption dieser Welt als des tatsächlich erreichten höchstmöglichen Ideals.
[1019]
Der Substanz-Begriff eine Folge des Subjekt-Begriffs: nicht umgekehrt! Geben wir die Seele, »das Subjekt« preis, so fehlt die Voraussetzung für eine »Substanz« überhaupt. Man bekommt Grade des Seienden, man verliert das Seiende.
Kritik der »Wirklichkeit«: worauf führt die »Mehr-oder-Weniger-Wirklichkeit«, die Gradation des Seins, an die wir glauben? –
Unser Grad von Lebens– und Machtgefühl (Logik und Zusammenhang des Erlebten) gibt uns das Maß von »Sein«, »Realität«, Nicht-Schein.
Subjekt: das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine Einheit unter allen den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehen diesen Glauben als Wirkung einer Ursache, – wir glauben an unseren Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die »Wahrheit«, »Wirklichkeit«, »Substantialität« überhaupt imaginieren. – »Subjekt« ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung eines Substrats wären: aber wir haben erst die »Gleichheit« dieser Zustände geschaffen; das Gleich-setzen und Zurecht-machen derselben ist der Tatbestand, nicht die Gleichheit (– diese ist vielmehr zu leugnen –).
[485]
Die »Modernität« unter dem Gleichnis von Ernährung und Verdauung. –
Die Sensibilität unsäglich reizbarer (– unter moralistischem Aufputz:[627] die Vermehrung des Mitleids –); die Fülle disparater Eindrücke größer als je: – der Kosmopolitismus der Speisen, der Literaturen, Zeitungen, Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften. Das Tempo dieser Einströmung ein Prestissimo; die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, etwas zu »verdauen«; – Schwächung der Verdauungs-Kraft resultiert daraus. Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agieren; er reagiert nur noch auf Erregungen von außen her. Er gibt seine Kraft aus teils in der Aneignung, teils in der Verteidigung, teils in der Entgegnung. Tiefe Schwächung der Spontaneität: – der Historiker, Kritiker, Analytiker, der Interpret, der Beobachter, der Sammler, der Leser, – alles reaktive Talente, – alle Wissenschaft!
Künstliche Zurechtmachung seiner Natur zum »Spiegel«; interessiert, aber gleichsam bloß epidermal-interessiert: eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine festgehaltene niedere Temperatur dicht unter der dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, »Sturm«, Wellen- spiel gibt.
Gegensatz der äußeren Beweglichkeit zu einer gewissen tiefen Schwere und Müdigkeit.
[71]
Die Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen »Maschinerie« der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichnis für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort »Übermensch«.
Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesentum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen – eine Art Stillstands-Niveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: – als ein ungeheures Räderwerk von immer[628] kleineren, immer feiner »anzupassenden« Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssig-werden aller dominierenden und kommandierenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werte darstellen.
Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisiertere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung – der Erzeugung des synthetischen, des summierenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisierung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann.
Er braucht die Gegnerschaft der Menge, der »Nivellierten«, das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratismus ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesamt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein Maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie tatsächlich bloß die Gesamt-Verringerung, Wert-Verringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile.
– Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus; wie als ob mit den wachsenden Unkosten aller auch der Nutzen aller notwendig wachsen müßte. Das Gegenteil scheint mir der Fall: die Unkosten aller summieren sich zu einem Gesamt-Verlust: der Mensch wird geringer – so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein Wozu? ein neues Wozu? – das ist es, was die Menschheit nötig hat.
[866]
Das Kontinuum: »Ehe, Eigentum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk, Staat« sind Kontinuen niederer und höherer Ordnung. Die Ökonomik derselben besteht in dem Überschusse der Vorteile der ununterbrochenen Arbeit, sowie der Vervielfachung über die Nachteile: die größeren Kosten der Auswechslung der Teile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung der wirkenden Teile, welche doch vielfach unbeschäftigt bleiben, also größere Anschaffungskosten und nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung.) Der Vorteil besteht darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden[629] Verluste gespart werden. Nichts ist kostspieliger als ein Anfang.
»Je größer die Daseinsvorteile, desto größer auch die Erhaltungs- und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflanzung); desto größer auch die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe zugrunde zu gehen.«
[731]
Spott über den falschen »Altruismus« bei den Biologen: die Fortpflanzung bei den Amöben erscheint als Abwerfen des Ballastes, als purer Vorteil. Die Ausstoßung der unbrauchbaren Stoffe.
[653]
Ich versuche eine ökonomische Rechtfertigung der Tugend. – Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar zu machen und ihn, soweit es irgendwie angeht, der unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden (– er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwertigen empfinden lernen: dazu tut not, daß ihm die anderen möglichst verleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden).
Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile, die Einförmigkeit, welche alle machinale Tätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen – und nicht nur zu ertragen –, die Langeweile von einem höheren Reiz umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe alles höheren Schulwesens. Etwas lernen, das uns nichts angeht; und eben darin, in diesem »objektiven« Tätigsein, seine »Pflicht« empfinden; die Lust und die Pflicht voneinander getrennt abschätzen lernen – das ist die unschätzbare Aufgabe und Leistung des höheren Schulwesens. Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher an sich: weil seine Tätigkeit selber das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Tätigkeit abgibt; unter seiner Fahne lernt der Jüngling »ochsen«: erste Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung (als Staats-Beamter, Ehegatte, Büro-Sklave, Zeitungsleser und Soldat). Eine solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von irgendeiner unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewer tet werden; die »Pflicht an sich«, vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf alles,[630] was unangenehm ist – und diese Forderung als jenseits aller Nützlichkeit. Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend, imperativisch... Die machinale Existenzform als höchste, ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend (–Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs »du sollst«).
[888]
Die ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale – d. h. Auswahl bestimmter Affekte und Zustände, auf Unkosten anderer ausgewählt und großgezüchtet. Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft) wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren Tätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt ist (ein Machinalismus von Leistungen nämlich als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen jener Affekte und Zustände).
Gesetzt, daß diese Zustände und Affekte Ingredienzen des Peinlichen enthalten, so muß ein Mittel gefunden werden, dieses Peinliche durch eine Wertvorstellung zu überwinden, die Unlust als wertvoll, also in höherem Sinne lustvoll empfinden zu machen. In Formel gefaßt: »wie wird etwas Unangenehmes angenehm?« Zum Beispiel wenn in der Kraft, Macht, Selbstüberwindung unser Gehorsam, unsre Einordnung in das Gesetz, zu Ehren kommt. Insgleichen unser Gemeinsinn. Nächstensinn, Vaterlandssinn, unsre »Vermenschlichung«, unser »Altruismus«, »Heroismus«.
Daß man die unangenehmen Dinge gern tut – Absicht der Ideale.
[889]
Eine Arbeitsteilung der Affekte innerhalb der Gesellschaft: so daß die Einzelnen und die Stände die unvollständige, aber eben damit nützlichere Art von Seele heranzüchten. Inwiefern bei jedem Typus innerhalb der Gesellschaft einige Affekte fast rudimentär geworden sind (auf die stärkere Ausbildung eines andern Affekts hin).
Zur Rechtfertigung der Moral:
die ökonomische (die Absicht auf möglichste Ausnutzung von Individual-Kraft gegen die Verschwendung alles Ausnahmsweisen);
die ästhetische (die Ausgestaltung fester Typen samt der Lust am eignen Typus);
die politische (als Kunst, die schweren Spannungsverhältnisse von verschiedenen Machtgraden auszuhalten);[631]
die psychologische (als imaginäres Übergewicht der Schätzung zugunsten derer, die schlecht oder mittelmäßig weggekommen sind – zur Erhaltung der Schwachen).
[719]
Nachzudenken: Inwiefern immer noch der verhängnisvolle Glaube an die göttliche Providenz – dieser für Hand und Vernunft lähmendste Glaube, den es gegeben hat – fortbesteht; inwiefern unter den Formeln »Natur«, »Fortschritt«, »Vervollkommnung«, »Darwinismus«, unter dem Aberglauben einer gewissen Zusammengehörigkeit von Glück und Tugend, von Unglück und Schuld immer noch die christliche Voraussetzung und Interpretation ihr Nachleben hat. Jenes absurde Vertrauen zum Gang der Dinge, zum »Leben«, zum »Instinkt des Lebens«, jene biedermännische Resignation, die des Glaubens ist, jedermann habe nur seine Pflicht zu tun, damit alles gut gehe – dergleichen hat nur Sinn unter der Annahme einer Leitung der Dinge sub specie boni. Selbst noch der Fatalismus, unsre jetzige Form der philosophischen Sensibilität, ist eine Folge jenes längsten Glaubens an göttliche Fügung, eine unbewußte Folge: nämlich als ob es eben nicht auf uns ankomme, wie alles geht (– als ob wir es laufen lassen dürften, wie es läuft: jeder einzelne selbst nur ein Modus der absoluten Realität –).
[243]
Jedes Ideal setzt Liebe und Haß, Verehrung und Verachtung voraus. Entweder ist das positive Gefühl das primum mobile oder das negative Gefühl. Haß und Verachtung sind z. B. bei allen Ressentiments-Idealen das primum mobile.
[350]
Statt des »Naturmenschen« Rousseaus hat das 19. Jahrhundert ein wahreres Bild vom »Menschen« entdeckt – es hat dazu den Mut gehabt... Im ganzen ist damit dem christlichen Begriff »Mensch« eine Wiederherstellung zuteil geworden. Wozu man nicht den Mut gehabt hat, das ist, gerade diesen »Mensch an sich« gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantiert zu sehen. Insgleichen hat man nicht gewagt, das Wachstum der Furchtbarkeit des Menschen als Begleiterscheinung jedes Wachstums der Kultur zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen Ideal unterwürfig und nimmt dessen Partei gegen das Heidentum, insgleichen gegen den RenaissanceBegriff[632] der virtù. So aber hat man den Schlüssel nicht zur Kultur: und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte zugunsten des »guten Menschen« (wie als ob er allein der Fortschritt des Menschen sei) und beim sozialistischen Ideal (d. h. dem Residuum des Christentums und Rousseaus in der entchristlichten Welt).
Der Kampf gegen das 18. Jahrhundert: dessen höchste Überwindung durch Goethe und Napoleon. Auch Schopenhauer kämpft gegen dasselbe; unfreiwillig aber tritt er zurück ins 17. Jahrhundert – er ist ein moderner Pascal, mit Pascalschen Werturteilen ohne Christentum. Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja.
Napoleon: die notwendige Zusammengehörigkeit des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der »Mann« wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen. Die »Totalität« als Gesundheit und höchste Aktivität; die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht.
[1017] [633]
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