[15]

[634] Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder groß redet: groß, das heißt zynisch und mit Unschuld.

[Vorrede 1]


Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.

[Vorrede 2]


– Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt nichts bisher getan als sich zu besinnen: als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vorteil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat.

[Vorrede 3]


Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte« – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Prinzip und[634] Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werte und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert dieser »Werte« war... Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig...

[Vorrede 4]


Der Staat oder die organisierte Unmoralitätinwendig: als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel, Familie; auswendig: als Wille zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache.

Wie wird es erreicht, daß eine große Menge Dinge tut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? – Durch Zerteilung der Verantwortlichkeit, des Befehlens und der Ausführung. Durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands- und Fürstenliebe. Durch Aufrechterhaltung des Stolzes, der Strenge, der Stärke, des Hasses, der Rache – kurz aller typischen Züge, welche dem Herdentypus widersprechen.

[717]


Die Aufrechterhaltung des Militär-Staates ist das allerletzte Mittel, die große Tradition sei es aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des obersten Typus Mensch, des starken Typus. Und alle Begriffe, die die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert erscheinen (z. B. Nationalismus, Schutzzoll).

[729]


Die Kunstgriffe, um Handlungen, Maßregeln, Affekte zu ermöglichen, welche, individuell gemessen, nicht mehr »statthaft« – auch nicht mehr »schmackhaft« sind:

die Kunst »macht sie uns schmackhaft«, die uns in solche »entfremdete« Welten eintreten läßt;

der Historiker zeigt ihre Art Recht und Vernunft; die Reisen; der Exotismus; die Psychologie; Strafrecht; Irrenhaus; Verbrecher; Soziologie;

die »Unpersönlichkeit« (so daß wir als Media eines Kollektivwesens uns[635] diese Affekte und Handlungen gestatten – Richterkollegien, Jury, Bürger, Soldat, Minister, Fürst, Sozietät, »Kritiker« –) gibt uns das Gefühl, als ob wir ein Opfer brächten...

[780]


Die angebliche Jugend. – Man betrügt sich, wenn man hier von einem naiven und jungen Volks-Dasein träumt, das sich gegen eine alte Kultur abhebt; es geht der Aberglaube, als ob in diesen Schichten des niedersten Volkes, wo das Christentum wuchs und Wurzeln schlug, die tiefere Quelle des Lebens wieder emporgesprudelt sei: man versteht nichts von der Psychologie der Christlichkeit, wenn man sie als Ausdruck einer neu heraufkommenden Volks-Jugend und Rassen-Verstärkung nimmt. Vielmehr: es ist einetypische décadence-Form, die Moral-Verzärtlichung und Hysterie in einer müde und ziellos gewordenen, krankhaften Mischmasch-Bevölkerung. Diese wunderliche Gesellschaft, welche hier um diesen Meister der Volks-Verführung sich zusammenfand, gehört eigentlich samt und sonders in einen russischen Roman: alle Nervenkrankheiten geben sich bei ihnen ein Rendezvous... die Abwesenheit von Aufgaben, der Instinkt, das alles eigentlich am Ende sei, daß sich nichts mehr lohne, die Zufriedenheit in einem dolce far niente.

Die Macht und Zukunfts-Gewißheit des jüdischen Instinkts, das Ungeheure seines zähen Willens zu Dasein und Macht, liegt in seiner herrschenden Klasse; die Schichten, welche das junge Christentum emporhebt, sind durch nichts schärfer gezeichnet, als durch die Instinkt-Ermüdung. Man hat es satt: das ist das eine – und man ist zufrieden, bei sich, in sich, für sich – das ist das andere.

[180]


Das Evangelium: die Nachricht, daß den Niedrigen und Armen ein Zugang zum Glück offensteht, – daß man nichts zu tun hat als sich von der Institution, der Tradition, der Bevormundung der oberen Stände loszumachen: insofern ist die Heraufkunft des Christentums nichts weiter als die typische Sozialisten-Lehre.

Eigentum, Erwerb, Vaterland, Stand und Rang, Tribunale, Polizei, Staat, Kirche, Unterricht, Kunst, Militärwesen: alles ebenso viele Verhinderungen des Glücks, Irrtümer, Verstrickungen, Teufelswerke, denen das Evangelium das Gericht ankündigt – alles typisch für die Sozialisten-Lehre.[636]

Im Hintergründe der Aufruhr, die Explosion eines aufgestauten Widerwillens gegen die »Herren«, der Instinkt dafür, wie viel Glück nach so langem Drucke schon im Frei-sich-fühlen liegen könnte... (Meistens ein Symptom davon, daß die unteren Schichten zu menschenfreundlich behandelt worden sind, daß sie ein ihnen verbotenes Glück bereits auf der Zunge schmecken... Nicht der Hunger erzeugt Revolutionen, sondern daß das Volk en mangeant Appetit bekommen hat...)

[209]


Das Erscheinen der griechischen Philosophen von Sokrates an ist ein Symptom der décadence; die antihellenischen Instinkte kommen obenauf...

Noch ganz hellenisch ist der »Sophist« – eingerechnet Anaxagoras, Demokrit, die großen Ionier –; aber als Übergangsform. Die Polis verliert ihren Glauben an die Einzigkeit ihrer Kultur, an ihr Herren-Recht über jede andere Polis... Man tauscht die Kultur, d. h. »die Götter« aus, – man verliert dabei den Glauben an das Allein-Vorrecht des deus autochtho nus. Das Gut und Böse verschiedener Abkunft mischt sich: die Grenze zwischen Gut und Böse verwischt sich... Das ist der »Sophist«...

Der »Philosoph« dagegen ist die Reaktion: er will die alte Tugend. Er sieht die Gründe des Verfalls im Verfall der Institutionen, er will alte Institutionen; – er sieht den Verfall im Verfall der Autorität: er sucht nach neuen Autoritäten (Reise ins Ausland, in fremde Literaturen, in exotische Religionen...); – er will die ideale Polis, nachdem der Begriff »Polis« sich überlebt hatte (ungefähr wie die Juden sich als »Volk« festhielten, nachdem sie in Knechtschaft gefallen waren). Sie interessieren sich für alle Tyrannen: sie wollen die Tugend mit force majeure wiederherstellen.

Allmählich wird alles Echthellenische verantwortlich gemacht für den Verfall (und Plato ist genau so undankbar gegen Perikles, Homer, Tragödie, Rhetorik, wie die Propheten gegen David und Saul). Der Niedergang von Griechenland wird als Einwand gegen die Grundlagen der hellenischen Kultur verstanden: Grundirrtum der Philosophen –. Schluß: die griechische Welt geht zugrunde. Ursache: Homer, der Mythos, die antike Sittlichkeit usw.[637]

Die antihellenische Entwicklung des Philosophen-Werturteils: – das Ägyptische (»Leben nach dem Tode« als Gericht...); – das Semitische (die »Würde des Weisen«, der »Scheich«); – die Pythagoreer, die unterirdischen Kulte, das Schweigen, die Jenseits-Furchtmittel, die Mathematik: religiöse Schätzung, eine Art Verkehr mit dem kosmischen All; – das Priesterliche, Asketische, Transzendente; – die Dialektik, – ich denke, es ist eine abscheuliche und pedantische Begriffsklauberei schon in Plato? – Niedergang des guten geistigen Geschmacks: man empfindet das Häßliche und Klappernde aller direkten Dialektik bereits nicht mehr.

Nebeneinandergehen die beiden décadence-Bewegungen und Extreme: a) die üppige, liebenswürdig-boshafte, prunk- und kunstliebende décadence und b) die Verdüsterung des religiös-moralischen Pathos, die stoische Selbst-Verhärtung, die platonische Sinnen-Verleumdung, die Vorbereitung des Bodens für das Christentum.

[427]


Diese nihilistische Religion sucht sich die décadence-Elemente und Verwandtes im Altertum zusammen; nämlich:

  • a) die Partei der Schwachen und Mißratenen (den Ausschuß der antiken Welt: das, was sie am kräftigsten von sich stieß...);

  • b) die Partei der Vermoralisierten und Antiheidnischen;

  • c) die Partei der Politisch-Ermüdeten und Indifferenten (blasierte Römer...), der Entnationalisierten, denen eine Leere geblieben war;

  • d) die Partei derer, die sich satt haben, – die gern an einer unterirdischen Verschwörung mitarbeiten –


[153]


Eine nihilistische Religion wie das Christentum, einem greisenhaftzähen, alle starken Instinkte überlebt habenden Volke entsprungen und gemäß – Schritt für Schritt in andre Milieus übertragen, endlich in die jungen, noch gar nicht gelebt habenden Völker eintretend – sehr seltsam! Eine Schluß-, Hirten-, Abend-Glückseligkeit Barbaren, Germanen gepredigt! Wie mußte das alles erst germanisiert, barbarisiert werden! Solchen, die ein Walhall geträumt hatten –: die alles Glück im Kriege fanden! – Eine übernationale Religion in ein Chaos hineingepredigt, wo noch nicht einmal Nationen da waren –.

[156]
[638]

Unser Vorrang: wir leben im Zeitalter der Vergleichung, wir können nachrechnen, wie nie nachgerechnet worden ist: wir sind das Selbstbewußtsein der Historie überhaupt. Wir genießen anders, wir leiden anders: die Vergleichung eines unerhört Vielfachen ist unsre instinktivste Tätigkeit. Wir verstehen alles, wir leben alles, wir haben kein feindseliges Gefühl mehr in uns. Ob wir selbst dabei schlecht wegkommen, unsre entgegenkommende und beinahe liebevolle Neugierde geht ungescheut auf die gefährlichsten Dinge los...

»Alles ist gut« – es kostet uns Mühe, zu verneinen. Wir leiden, wenn wir einmal so unintelligent werden, Partei gegen etwas zu nehmen... Im Grunde erfüllen wir Gelehrten heute am besten die Lehre Christi – –

[218]


Die beiden großen nihilistischen Bewegungen: a) der Buddhismus, b) das Christentum. Letzteres hat erst jetzt ungefähr Kultur-Zustände erreicht, in denen es seine ursprüngliche Bestimmung erfüllen kann – ein Niveau, zu dem es gehört, – in dem es sich rein zeigen kann...

[220]


Die ganze christliche Lehre von dem, was geglaubt werden soll, die ganze christliche »Wahrheit« ist eitel Lug und Trug: und genau das Gegenstück von dem, was den Anfang der christlichen Bewegung gegeben hat.

Das gerade, was im kirchlichen Sinn das Christliche ist, ist das Antichristliche von vornherein: lauter Sachen und Personen statt der Symbole, lauter Historie statt der ewigen Tatsachen, lauter Formeln, Riten, Dogmen statt einer Praxis des Lebens. Christlich ist die vollkommene Gleichgültigkeit gegen Dogmen, Kultus, Priester, Kirche, Theologie.

Die Praxis des Christentums ist keine Phantasterei, so wenig die Praxis des Buddhismus sie ist: sie ist ein Mittel, glücklich zu sein.

[159]


Das Christentum ist jeden Augenblick noch möglich. Es ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt haben: es braucht weder die Lehre vom persönlichen Gott, noch von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung, noch vom Glauben; es hat schlechterdings keine Metaphysik nötig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine[639] christliche »Naturwissenschaft«. Das Christentum ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt uns wie wir handeln, nicht was wir glauben sollen.

Wer jetzt sagte »ich will nicht Soldat sein«, »ich kümmere mich nicht um die Gerichte«, »die Dienste der Polizei werden von mir nicht in Anspruch genommen«, »ich will nichts tun, was den Frieden in mir selbst stört: und wenn ich daran leiden muß, nichts wird mehr mir den Frieden erhalten als Leiden« – der wäre Christ.

[212]


Es fehlt der exzentrische Begriff der »Heiligkeit«, – »Gott« und »Mensch« sind nicht auseinandergerissen. Das »Wunder« fehlt – es gibt gar nicht jene Sphäre: die einzige, die in Betracht kommt, ist die »geistliche« (d.h. symbolisch-psychologische). Als décadence: Seitenstück zum »Epikureismus«... Das Paradies, nach griechischem Begriff, auch nur der »Garten Epikurs«.

Es fehlt die Aufgabe in einem solchen Leben: – es will nichts; – eine Form der »epikurischen Götter«; – es fehlt aller Grund, noch Ziele zu setzen, – Kinder zu haben: – alles ist erreicht.

[225]


Unser Zeitalter ist in einem gewissen Sinne reif (nämlich décadent), wie es die Zeit Buddhas war... Deshalb ist eine Christlichkeit ohne die absurden Dogmen möglich (die widerlichsten Ausgeburten des antiken Hybridismus).

[239]


Wir haben das christliche Ideal wieder hergestellt: es bleibt übrig, seinen Wert zu bestimmen:

1. Welche Werte werden durch dasselbe negiert? Was enthält das Gegensatz-Ideal? – Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, den Übermut, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkenntnis –; das vornehme Ideal wird negiert: Schönheit, Weisheit, Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch: der Ziele setzende, der »zukünftige« Mensch (– hier ergibt sich die Christlichkeit als Schlußolgerung des Judentums –).

2. Ist es realisierbar? – Ja, doch klimatisch bedingt, ähnlich wie das[640] indische. Beiden fehlt die Arbeit. – Es löst heraus aus Volk, Staat, Kultur-Gemeinschaft, Gerichtsbarkeit, es lehnt den Unterricht, das Wissen, die Erziehung zu guten Manieren, den Erwerb, den Handel ab... es löst alles ab, was den Nutzen und Wert des Menschen ausmacht – es schließt ihn durch eine Gefühls-Idiosynkrasie ab. Unpolitisch, antinational, weder aggressiv noch defensiv, – nur möglich innerhalb des festgeordnetsten Staats- und Gesellschaftslebens, welches diese heiligen Parasiten auf allgemeine Unkosten wuchern läßt...

3. Es bleibt eine Konsequenz des Willens zur Lust – und zu nichts weiter! Die »Seligkeit« gilt als etwas, das sich selbst beweist, das keine Rechtfertigung mehr braucht, – alles übrige (die Art leben und leben lassen) ist nur Mittel zum Zweck...

Aber das ist niedrig gedacht: die Furcht vor dem Schmerz, vor der Verunreinigung, vor der Verderbnis selbst als ausreichendes Motiv, alles fahren zu lassen... Dies ist eine arme Denkweise, Zeichen einer erschöpften Rasse; man soll sich nicht täuschen lassen. (»Werdet wie die Kinder« –. Die verwandte Natur: Franz von Assisi, neurotisch, epileptisch, Visionär, wie Jesus.)

[221]


Zur Geschichte des Christentums. – Fortwährende Veränderung des Milieus: die christliche Lehre verändert damit fortwährend ihr Schwergewicht... Die Begünstigung der Niederen und kleinen Leute... Die Entwicklung der caritas... Der Typus »Christ« nimmt schrittweise alles wieder an, was er ursprünglich negierte (in dessen Negation er bestand –). Der Christ wird Bürger, Soldat, Gerichtsperson, Arbeiter, Handelsmann, Gelehrter, Theolog, Priester, Philosoph, Landwirt, Künstler, Patriot, Politiker, »Fürst«... er nimmt alle Tätigkeiten wieder auf, die er abgeschworen hat (– die Selbstverteidigung, das Gerichthalten, das Strafen, das Schwören, das Unterscheiden zwischen Volk und Volk, das Geringschätzen, das Zürnen...). Das ganze Leben des Christen ist endlich genau das Leben, von dem Christus die Loslösung predigte...

Die Kirche gehört so gut zum Triumph des Antichristlichen, wie der moderne Staat, der moderne Nationalismus... Die Kirche ist die Barbarisierung des Christentums.

[213]
[641]

Über das Christentum Herr geworden: der Judaismus (Paulus); der Platonismus (Augustin); die Mysterienkulte (Erlösungslehre, Sinnbild des »Kreuzes«); der Asketismus (– Feindschaft gegen die »Natur«, »Vernunft«, »Sinne«, – Orient...).

[214]


Jesus gebietet: Man soll dem, der böse gegen uns ist, weder durch die Tat, noch im Herzen Widerstand leisten.

Man soll keinen Grund anerkennen, sich von seinem Weibe zu scheiden.

Man soll keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen, Ausländern und Volksgenossen machen.

Man soll sich gegen niemanden erzürnen, man soll niemanden geringschätzen. Gebt Almosen im Verborgenen. Man soll nicht reich werden wollen. Man soll nicht schwören. Man soll nicht richten. Man soll sich versöhnen, man soll vergeben. Betet nicht öffentlich.

Die »Seligkeit« ist nichts Verheißenes: sie ist da, wenn man so und so lebt und tut.

[163]


Spätere Zutaten. – Die ganze Propheten- und Wundertäter-Attitüde, der Zorn, das Heraufbeschwören des Gerichts ist eine abscheuliche Verderbnis (z. B. Markus 6, 11: Und die, welche euch nicht aufnehmen... ich sage euch: wahrlich, es wird Sodom und Gomorrha usw.). Der »Feigenbaum« (Matth. 21, 18): Als er aber des Morgens wieder in die Stadt ging, hungerte ihn. Und er sah einen Feigenbaum am Wege und ging hin und fand nichts daran denn allein Blätter, und sprach zu ihm: Nun wachse auf dir hinfort nimmermehr Frucht! und der Feigenbaum verdorrte alsbald.

[164]


Auf eine ganz absurde Weise ist die Lohn- und Straf-Lehre hineingemengt: es ist alles damit verdorben.

Insgleichen ist die Praxis der ersten ecclesia militans, des Apostels Paulus und sein Verhalten auf eine ganz verfälschende Weise als geboten, als voraus festgesetzt dargestellt – – –.

Die nachträgliche Verherrlichung des tatsächlichen Lebens und Lehrens der ersten Christen: wie als ob alles so vorgeschrieben und bloß befolgt wäre – –.[642]

Nun gar die Erfüllung der Weissagungen: was ist da alles gefälscht und zurechtgemacht worden!

[165]


Jesus geht direkt auf den Zustand los, das »Himmelreich« im Herzen, und findet die Mittel nicht in der Observanz der jüdischen Kirche –; er rechnet selbst die Realität des Judentums (seine Nötigung, sich zu erhalten) für nichts: er ist rein innerlich. –

Ebenso macht er sich nichts aus den sämtlichen groben Formeln im Verkehr mit Gott: er wehrt sich gegen die ganze Buß- und Versöhnungs-Lehre; er zeigt, wie man leben muß, um sich als »vergöttlicht« zu fühlen – und wie man nicht mit Buße und Zerknirschung über seine Sünden dazu kommt: »es liegt nichts an Sünde« ist sein Haupturteil.

Sünde, Buße, Vergebung – das gehört alles nicht hierher... das ist eingemischtes Judentum, oder es ist heidnisch.

[160]


Der Symbolismus des Christentums ruht auf dem jüdischen, der auch schon die ganze Realität (Historie, Natur) in eine heilige Unnatürlichkeit und Unrealität aufgelöst hatte... der die wirkliche Geschichte nicht mehr sehen wollte –, der sich für den natürlichen Erfolg nicht mehr interessierte –

[183]


Das Himmelreich ist ein Zustand des Herzens (– von den Kindern wird gesagt »denn ihrer ist das Himmelreich«): Nichts, was »über der Erde« ist. Das Reich Gottes »kommt« nicht chronologisch-historisch, nicht nach dem Kalender, etwas, das eines Tages da wäre und tags vorher nicht: sondern es ist eine »Sinnes-Änderung im Einzelnen«, etwas, das jederzeit kommt und jederzeit noch nicht da ist...

[161]


Der Schächer am Kreuz: – wenn der Verbrecher selbst, der einen schmerzhaften Tod leidet, urteilt: »so, wie dieser Jesus, ohne Revolte, ohne Feindschaft, gütig, ergeben, leidet und stirbt, so allein ist es das Rechte«, hat er das Evangelium bejaht: und damit ist er im Paradiese...

[162]


»Seinem Gefühle folgen?« – Daß man, einem generösen Gefühle nachgebend, sein Leben in Gefahr bringt, und unter dem Impuls eines[643] Augenblicks: das ist wenig wert und charakterisiert nicht einmal. In der Fähigkeit dazu sind sich alle gleich – und in der Entschlossenheit dazu übertrifft der Verbrecher, Bandit und Korse einen honetten Menschen gewiß.

Die höhere Stufe ist: auch diesen Andrang bei sich zu überwinden und die heroische Tat nicht auf Impulse hin zu tun – sondern kalt, raisonnable, ohne das stürmische Überwallen von Lustgefühlen dabei... Dasselbe gilt vom Mitleid: es muß erst habituell durch die raison durchgesiebt sein; im anderen Falle ist es so gefährlich wie irgendein Affekt.

Die blinde Nachgiebigkeit gegen einen Affekt, sehr gleichgültig, ob es ein generöser und mitleidiger oder feindseliger ist, ist die Ursache der größten Übel.

Die Größe des Charakters besteht nicht darin, daß man diese Affekte nicht besitzt – im Gegenteil, man hat sie im furchtbarsten Grade: aber daß man sie am Zügel führt... und auch das noch ohne Lust an dieser Bändigung, sondern bloß weil...

[928]


Der Stifter des Christentums hat es büßen müssen, daß er sich an die niedrigste Schicht der jüdischen Gesellschaft und Intelligenz gewendet hat. Sie hat ihn nach dem Geiste konzipiert, den sie begriff... Es ist eine wahre Schande, eine Heilsgeschichte, einen persönlichen Gott, einen persönlichen Erlöser, eine persönliche Unsterblichkeit herausfabriziert zu haben und die ganze Mesquinerie der »Person« und der »Historie« übrigbehalten zu haben aus einer Lehre, die allem Persönlichen und Historischen die Realität bestreitet...

Die Heils-Legende an Stelle der symbolischen Jetzt- und Allzeit, des Hier und Überall; das Mirakel an Stelle des psychologischen Symbols.

[198]


Winckelmanns und Goethes Griechen, Victor Hugos Orientalen, Wagners Edda-Personnagen, Walter Scotts Engländer des dreizehnten Jahrhunderts – irgendwann wird man die ganze Komödie entdecken! es war alles über alle Maßen historisch falsch, aber – modern.

[830]


Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition: alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft[644] verdanken, gehen dem modernen Geiste wider den Geschmack... Im Grunde denkt und tut man nichts, was nicht den Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen. Man nimmt die Tradition als Fatalität: man studiert sie, man erkennt sie an (als »Erblichkeit« –), aber man will sie nicht. Die Anspannung eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und Wertungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft verfügen kann – das gerade ist im höchsten Maße antimodern. Woraus sich ergibt, daß die desorganisierenden Prinzipien unserem Zeitalter den Charakter geben.

[65]


Zur Kritik des guten Menschen. – Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen, – sind wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um ihrer selbst willen bejaht und gutgeheißen? oder sind hier an sich wertindifferente Eigenschaften und Zustände nur unter irgendwelchen Gesichtspunkt gerückt, wo sie Wert bekommen? Liegt der Wert dieser Eigenschaften in ihnen oder in dem Nutzen, Vorteil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint, zu folgen erwartet wird)?

Ich meine hier natürlich nicht einen Gegensatz von ego und alter in der Beurteilung: die Frage ist, ob die Folgen es sind, sei es für den Träger dieser Eigenschaften, sei es für die Umgebung, Gesellschaft, »Menschheit«, derentwegen diese Eigenschaften Wert haben sollen: oder ob sie an sich selbst Wert haben... Anders gefragt: ist es die Nützlichkeit, welche die entgegengesetzten Eigenschaften verurteilen, bekämpfen, verneinen heißt (– Unzuverlässigkeit, Falschheit, Verschrobenheit, Selbst-Ungewißheit, Unmenschlichkeit –)? Ist das Wesen solcher Eigenschaften oder nur die Konsequenz solcher Eigenschaften verurteilt? – Anders gefragt: wäre es wünschbar, daß Menschen die ser zweiten Eigenschaften nicht existieren? – Das wird jedenfalls geglaubt... Aber hier steckt der Irrtum, die Kurzsichtigkeit, die Borniertheit des Winkel-Egoismus.

Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar, Zustände zu schaffen, in denen der ganze Vorteil auf Seiten der Rechtschaffenen ist – so daß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmutigt würden und langsam ausstürben?[645]

Dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks und der Ästhetik: wäre es wünschbar, daß die »achtbarste«, d. h. langweiligste Spezies Mensch übrigbliebe? die Rechtwinkligen, die Tugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die »Hornochsen«?

Denkt man sich die ungeheure Überfülle der »Anderen« weg: so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein Recht auf Existenz: er ist nicht mehr nötig, – und hier begreift man, daß nur die grobe Nützlichkeit eine solche unausstehliche Tugend zu Ehren gebracht hat.

Die Wünschbarkeit liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten Seite: Zustände schaffen, bei denen der »rechtschaffene Mensch« in die bescheidne Stellung eines »nützlichen Werkzeugs« herabgedrückt wird – als das »ideale Herdentier«, bestenfalls Herden-Hirt: kurz, bei denen er nicht mehr in die obere Ordnung zu stehen kommt: welche andere Eigenschaften ver langt.

[353]


Der Humor der europäischen Kultur: man hält das für wahr, aber tut jenes. Z. B. was hilft alle Kunst des Lesens und der Kritik, wenn die kirchliche Interpretation der Bibel, die protestantische so gut wie die katholische, nach wie vor aufrechterhalten wird!

[241]


Zukünftiges. – Gegen die Romantik der großen »Passion«. – Zu begreifen, wie zu jedem »klassischen« Geschmack ein Quantum Kälte, Luzidität, Härte hinzugehört: Logik vor allem, Glück in der Geistigkeit, »drei Einheiten«, Konzentration, Haß gegen Gefühl, Gemüt, esprit, Haß gegen das Vielfache, Unsichere, Schweifende, Ahnende so gut als gegen das Kurze, Spitze, Hübsche, Gütige. Man soll nicht mit künstlerischen Formeln spielen: man soll das Leben umschaffen, daß es sich nachher formulieren muß.

Es ist eine heitere Komödie, über die erst jetzt wir lachen lernen, die wir jetzt erst sehen: daß die Zeitgenossen Herders, Winckelmanns, Goethes und Hegels in Anspruch nahmen, das klassische Ideal wieder entdeckt zu haben... und zu gleicher Zeit Shakespeare! – Und dasselbe Geschlecht hatte sich von der klassischen Schule der Franzosen auf schnöde Art losgesagt! als ob nicht das Wesentliche so gut hier wie dorther hätte gelernt werden können!... Aber man wollte die »Natur«,[646] die »Natürlichkeit«: o Stumpfsinn! Man glaubte, die Klassizität sei eine Art Natürlichkeit!

Ohne Vorurteil und Weichlichkeit zu Ende denken, auf welchem Boden ein klassischer Geschmack wachsen kann. Verhärtung, Vereinfachung, Verstärkung, Verböserung des Menschen: so gehört es zusammen. Die logisch-psychologische Vereinfachung. Die Verachtung des Details, des Komplexen, des Ungewissen.

Die Romantiker in Deutschland protestierten nicht gegen den Klassizismus, sondern gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes Jahrhundert.

Die Sensibilität der romantisch-wagnerschen Musik: Gegensatz der klassischen Sensibilität.

Der Wille zur Einheit (weil die Einheit tyrannisiert: nämlich die Zuhörer, Zuschauer), aber Unfähigkeit, sich in der Hauptsache zu tyrannisieren: nämlich in Hinsicht auf das Werk selbst (auf Verzichtleisten, Kürzen, Klären, Vereinfachen). Die Überwältigung durch Massen (Wagner, Victor Hugo, Zola, Taine).

[849]


Warum kulminiert die deutsche Musik zur Zeit der deutschen Romantik? Warum fehlt Goethe in der deutschen Musik? Wie viel Schiller, genauer wie viel »Thekla« ist dagegen in Beethoven!

Schumann hat Eichendorff, Uhland, Heine, Hoffmann, Tieck in sich. Richard Wagner hat Freischütz, Hoffmann, Grimm, die romantische Sage, den mystischen Katholizismus des Instinkts, den Symbolismus, die »Freigeisterei der Leidenschaft« (Rousseaus Absicht). Der »Fliegende Holländer« schmeckt nach Frankreich, wo le ténébreux 1830 der Verführer-Typus war.

Kultus der Musik, der revolutionären Romantik der Form. Wagner resümiert die Romantik, die deutsche und die französische –

[106]


Die ganze Auffassung vom Range der Leidenschaften: wie als ob das Rechte und Normale sei, von der Vernunft geleitet zu werden, – während die Leidenschaften das Unnormale, Gefährliche, Halbtierische seien, überdies, ihrem Ziele nach, nichts anderes als Lust-Begierden...

Die Leidenschaft ist entwürdigt 1. wie als ob sie nur ungeziemender Weise, und nicht notwendig und immer, das mobile sei, 2. insofern sie[647] etwas in Aussicht nimmt, was keinen hohen Wert hat, ein Vergnügen...

Die Verkennung von Leidenschaft und Vernunft, wie als ob letztere ein Wesen für sich sei und nicht vielmehr ein Verhältniszustand verschiedener Leidenschaften und Begehrungen; und als ob nicht jede Leidenschaft ihr Quantum Vernunft in sich hätte...

[387]


»Objektivität« am Philosophen: moralischer Indifferentismus gegen sich, Blindheit gegen die guten und schlimmen Folgen; Unbedenklichkeit im Gebrauch gefährlicher Mittel; Perversität und Vielheit des Charakters als Vorzug erraten und ausgenützt.

Meine tiefe Gleichgültigkeit gegen mich: ich will keinen Vorteil aus meinen Erkenntnissen und weiche auch den Nachteilen nicht aus, die sie mit sich bringen. – Hier ist eingerechnet das, was man Verderbnis des Charakters nennen könnte; diese Perspektive liegt außerhalb: ich handhabe meinen Charakter, aber denke weder daran, ihn zu verstehen, noch ihn zu verändern, – der persönliche Kalkul der Tugend ist mir nicht einen Augenblick in den Kopf gekommen. Es scheint mir, daß man sich die Tore der Erkenntnis zumacht, sobald man sich für seinen persönlichen Fall interessiert – oder gar für das »Heil seiner Seele«!... Man muß seine Moralität nicht zu wichtig nehmen und sich ein bescheidenes Anrecht auf deren Gegenteil nicht nehmen lassen...

Eine Art Erbreichtum an Moralität wird hier vielleicht vorausgesetzt: man wittert, daß man viel davon verschwenden und zum Fenster hinauswerfen kann, ohne dadurch sonderlich zu verarmen. Niemals sich versucht fühlen, »schöne Seelen« zu bewundern; sich ihnen immer überlegen wissen. Den Tugend-Ungeheuern mit einem innerlichen Spott begegnen; déniaiser la vertu – geheimes Vergnügen.

Sich um sich selber rollen; kein Wunsch, »besser« oder überhaupt nur »anders« zu werden. Zu interessiert, um nicht Fangarme oder Netze jeder Moralität nach den Dingen auszuwerfen –.

[425]


Man gibt sich nicht genug Rechenschaft darüber, in welcher Barbarei der Begriffe wir Europäer noch leben. Daß man hat glauben können, das »Heil der Seele« hänge an einem Buche!... Und man sagt mir, man glaube das heute noch.[648]

Was hilft alle wissenschaftliche Erziehung, alle Kritik und Hermeneutik, wenn ein solcher Widersinn von Bibel-Auslegung, wie ihn die Kirche aufrechterhält, noch nicht die Schamröte zur Leibfarbe gemacht hat?

[242]


Liebe. – Seht hinein: diese Liebe, dieses Mitleid der Weiber – gibt es etwas Egoistischeres?... Und wenn sie sich opfern, ihre Ehre, ihren Ruf, wem opfern sie sich? Dem Manne? Oder nicht vielmehr einem zügellosen Bedürfnisse? – Das sind genau so selbstsüchtige Begierden: ob sie nun anderen wohltun und Dankbarkeit einpflanzen...

Inwiefern eine derartige Hyperfötation einer Wertung alles übrige heiligen kann!!

[777]


Wie falsch, wie verlogen war die Menschheit immer über die Grundtatsachen ihrer inneren Welt! Hier kein Auge zu haben, hier den Mund halten und den Mund auftun –

[264]


A. Der konsequente Typus. Hier wird begriffen, daß man auch das Böse nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen dürfe, daß man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe; daß man das Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt, nicht nur hinnimmt; daß man ganz und gar in den positiven Gefühlen lebt; daß man die Partei der Gegner nimmt in Wort und Tat; daß man durch eine Superfötation der friedlichen, gütigen, versöhnlichen, hilf- und liebreichen Zustände den Boden der anderen Zustände verarmt..., daß man eine fortwährende Praxis nötig hat. Was ist hier erreicht? – Der buddhistische Typus oder die vollkommene Kuh.

Dieser Standpunkt ist nur möglich, wenn kein moralischer Fanatismus herrscht, d. h. wenn das Böse nicht um seiner selbst willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgibt zu Zuständen, welche uns wehtun (Unruhe, Arbeit, Sorge, Verwicklung, Abhängigkeit).

Dies der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht die Sünde gehaßt, hier fehlt der Begriff »Sünde«.

B. Der inkonsequente Typus. Man führt Krieg gegen das Böse, – man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen nicht die moralische und Charakter-Konsequenz habe, die sonst der Krieg mit sich bringt (und[649] derentwegen man ihn als böse verabscheut). Tatsächlich verdirbt ein solcher Krieg gegen das Böse viel gründlicher als irgendeine Feindseligkeit von Person zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar »die Person« als Gegner, wenigstens imaginär, wieder ein (der Teufel, die bösen Geister usw.). Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spionieren gegen alles, was in uns schlimm ist und schlimmen Ursprungs sein könnte, endet mit der gequältesten und unruhigsten Verfassung: so daß jetzt »Wunder«, Lohn, Ekstase, Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden... Der christliche Typus: oder der vollkommene Mucker.

C. Der stoische Typus. Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche, der Friede als Unbeugsamkeit eines langen Willens – die tiefe Ruhe, der Verteidigungszustand, die Burg, das kriegerische Mißtrauen – die Festigkeit der Grundsätze; die Einheit von Wille und Wissen; die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus. Der vollkommene Hornochs.

[342]


Das Christentum hat von vornherein das Symbolische in Kruditäten umgesetzt:

  • 1. der Gegensatz »wahres Leben« und »falsches« Leben: mißverstanden als »Leben diesseits« und »Leben jenseits«;

  • 2. der Begriff »ewiges Leben« im Gegensatz zum Personal-Leben der Vergänglichkeit als »Personal-Unsterblichkeit«;

  • 3. die Verbrüderung durch gemeinsamen Genuß von Speise und Trank nach hebräisch-arabischer Gewohnheit als »Wunder der Transsubstantiation«;

  • 4. die »Auferstehung –« als Eintritt in das »wahre Leben«, als »wiedergeboren«; daraus: eine historische Eventualität, die irgendwann nach dem Tode eintritt;

  • 5. die Lehre vom Menschensohn als dem »Sohn Gottes«, das Lebensverhältnis zwischen Mensch und Gott; daraus: die »zweite Person der Gottheit« – gerade das weggeschafft: das Sohnverhältnis jedes Menschen zu Gott, auch des niedrigsten;

  • 6. die Erlösung durch den Glauben (nämlich daß es keinen anderen Weg zur Sohnschaft Gottes gibt als die von Christus gelehrte Praxis des Lebens) umgekehrt in den Glauben, daß man an irgendeine[650] wunderbare Abzahlung der Sünde zu glauben habe, welche nicht durch den Menschen, sondern durch die Tat Christi bewerkstelligt ist: Damit mußte »Christus am Kreuze« neu gedeutet werden. Dieser Tod war an sich durchaus nicht die Hauptsache... er war nur ein Zeichen mehr, wie man sich gegen die Obrigkeit und Gesetze der Welt zu verhalten habe – nicht sich wehren... Darin lag das Vorbild.


[170]


Das Christentum nimmt den Kampf nur auf, der schon gegen das klassische Ideal, gegen die vornehme Religion bestand.

Tatsächlich ist diese ganze Umbildung eine Übersetzung in die Bedürfnisse und das Verständnis-Niveau der damaligen religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras, Dionysos, die »große Mutter« glaubte und welche von einer Religion verlangte: 1. die Jenseits-Hoffnung, 2. die blutige Phantasmagorie des Opfertiers (das Mysterium), 3. die erlösende Tat, die heilige Legende, 4. den Asketismus, die Weltverneinung, die abergläubische »Reinigung«, 5. die Hierarchie, eine Form der Gemeindebildung. Kurz: das Christentum paßt sich an das schon bestehende, überall eingewachsene Anti-Heidentum an, an die Kulte, welche von Epikur bekämpft worden sind... genauer, an die Religionen der niederen Masse, der Frauen, der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände.

Wir haben also als Mißverständnis:

  • 1. die Unsterblichkeit der Person;

  • 2. die angebliche andere Welt;

  • 3. die Absurdität des Strafbegriffs und Sühnebegriffs im Zentrum der Daseins-Interpretation;

  • 4. die Entgöttlichung des Menschen statt seiner Vergöttlichung, die Aufreißung der tiefsten Kluft, über die nur das Wunder, nur die Prostration der tiefsten Selbstverachtung hinweghilft;

  • 5. die ganze Welt der verdorbenen Imagination und des krankhaften Affekts, statt der liebevollen, einfältigen Praxis, statt eines auf Erden erreichbaren buddhistischen Glückes;

  • 6. eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaft, Theologie, Kultus, Sakrament; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte;

  • [651] 7. das Wunder in allem und jedem, der Aberglaube: während gerade das Auszeichnende des Judentums und des ältesten Christentums sein Widerwille gegen das Wunder ist, seine relative Rationalität.

[196]


In den Begriff der Macht, sei es eines Gottes, sei es eines Menschen, ist immer zugleich die Fähigkeit zu nützen und die Fähigkeit zu schaden eingerechnet. So bei den Arabern; so bei den Hebräern. So bei allen stark geratenen Rassen.

Es ist ein verhängnisvoller Schritt, wenn man dualistisch die Kraft zum einen von der zum andern trennt... Damit wird die Moral zur Giftmischerin des Lebens...

[352]


Das »Christentum« ist etwas Grundverschiedenes von dem geworden, was sein Stifter tat und wollte. Es ist die große antiheidnische Bewegung des Altertums, formuliert mit Benutzung von Leben, Lehre und »Worten« des Stifters des Christentums, aber in einer absolut willkürlichen Interpretation nach dem Schema grundverschiedener Bedürfnisse: übersetzt in die Sprache aller schon bestehenden unterirdischen Religionen –

Es ist die Heraufkunft des Pessimismus (– während Jesus den Frieden und das Glück der Lämmer bringen wollte): und zwar des Pessimismus der Schwachen, der Unterlegenen, der Leidenden, der Unterdrückten.

Ihr Todfeind ist 1. die Macht in Charakter, Geist und Geschmack; die »Weltlichkeit«; 2. das klassische »Glück«, die vornehme Leichtfertigkeit und Skepsis, der harte Stolz, die exzentrische Ausschweifung und die kühle Selbstgenugsamkeit des Weisen, das griechische Raffinement in Gebärde, Wort und Form. Ihr Todfeind ist der Römer ebenso sehr als der Grieche.

Versuch des Antiheidentums, sich philosophisch zu begründen und möglich zu machen: Witterung für die zweideutigen Figuren der alten Kultur, vor allem für Plato, diesen Antihellenen und Semiten von Instinkt... Insgleichen für den Stoizismus, der wesentlich das Werk von Semiten ist (– die »Würde« als Strenge, Gesetz, die Tugend als Größe, Selbstverantwortung, Autorität, als höchste Personal-Souveränität – das ist semitisch. Der Stoiker ist ein arabischer Scheich in griechische Windeln und Begriffe gewickelt).

[195]


[652] Sich stärker fühlen – oder anders ausgedrückt: die Freude – setzt immer ein Vergleichen voraus (aber nicht notwendig mit anderen, sondern mit sich, inmitten eines Zustands von Wachstum, und ohne daß man erst wüßte, inwiefern man vergleicht –).

Die künstliche Verstärkung: sei es durch aufregende Chemika, sei es durch aufregende Irrtümer (»Wahnvorstellungen«): z. B. das Gefühl der Sicherheit, wie es der Christ hat; er fühlt sich stark in sei nem Vertrauen-dürfen, in seinem Geduldig- und Gefaßt-sein-dürfen: er verdankt diese künstliche Verstärkung dem Wahne, von einem Gott beschirmt zu sein;

z. B. das Gefühl der Überlegenheit: wie wenn der Kalif von Marokko nur Erdkugeln zu sehen bekommt, auf denen seine drei vereinigten Königreiche vier Fünftel der Oberfläche einnehmen;

z. B. das Gefühl der Einzigkeit: wie wenn der Europäer sich einbildet, daß der Gang der Kultur sich in Europa abspielt, und wenn er sich selber eine Art abgekürzter Weltprozeß scheint: oder der Christ alles Dasein überhaupt um das »Heil des Menschen« sich drehen macht.

– Es kommt darauf an, wo man den Druck, die Unfreiheit empfindet: je nachdem erzeugt sich ein andres Gefühl des Stärker-seins. Einem Philosophen ist z. B. inmitten der kühlsten, transmontansten Abstraktions-Gymnastik zumute wie einem Fisch, der in sein Wasser kommt: während Farben und Töne ihn drücken; gar nicht zu reden von den dumpfen Begehrungen – von dem, was die andern »das Ideal« nennen.

[917]


Soviel habe ich begriffen: wenn man das Entstehen großer und seltener Menschen abhängig gemacht hätte von der Zustimmung der vielen (einbegriffen, daß diese wüßten, welche Eigenschaften zur Größe gehören, und insgleichen, auf wessen Unkosten alle Größe sich entwickelt) – nun, es hätte nie einen bedeutenden Menschen gegeben! –

Daß der Gang der Dinge unabhängig von der Zustimmung der allermeisten seinen Weg nimmt: daran liegt es, daß einiges Erstaunliche sich auf der Erde eingeschlichen hat.

[885]


Morphologie der Selbstgefühle

[653] Erster Gesichtspunkt: inwiefern die Mitgefühls– und Gemeinschafts-Gefühle, die niedrigere, die vorbereitende Stufe sind, zur Zeit, wo das Personal-Selbstgefühl, die Initiative der Wertsetzung im Einzelnen noch gar nicht möglich ist.

Zweiter Gesichtspunkt: inwiefern die Höhe des Kollektiv-Selbstgefühls, der Stolz auf die Distanz des Klans, das Sich-ungleich-fühlen, die Abneigung gegen Vermittlung, Gleichberechtigung, Versöhnung eine Schule des Individual-Selbstgefühls ist: namentlich insofern sie den Einzelnen zwingt, den Stolz des Ganzen zu repräsentieren: – er muß reden und handeln mit einer extremen Achtung vor sich, insofern er die Gemeinschaft in Person darstellt. Insgleichen: wenn das Individuum sich als Werkzeug und Sprachrohr der Gottheit fühlt.

Dritter Gesichtspunkt: inwiefern diese Formen der Entselbstung tatsächlich der Person eine ungeheure Wichtigkeit geben: insofern höhere Gewalten sich ihrer bedienen: religiöse Scheu vor sich selbst Zustand des Propheten, Dichters.

Vierter Gesichtspunkt: inwiefern die Verantwortlichkeit für das Ganze dem Einzelnen einen weiten Blick, eine strenge und furchtbare Hand, eine Besonnenheit und Kälte, eine Großartigkeit der Haltung und Gebärde anerzieht und erlaubt, welche er nicht um seiner selbst willen sich zugestehen würde.

In summa: die Kollektiv-Selbstgefühle sind die große Vorschule der Personal-Souveränität. Der vornehme Stand ist der, welcher die Erbschaft dieser Übung macht.

[773]


Jesus stellte ein wirkliches Leben, ein Leben in der Wahrheit jenem gewöhnlichen Leben gegenüber: nichts liegt ihm ferner als der plumpe Unsinn eines »verewigten Petrus«, einer ewigen Personal-Fortdauer. Was er bekämpft, das ist die Wichtigtuerei der »Person«: wie kann er gerade die verewigen wollen?

Er bekämpft insgleichen die Hierarchie innerhalb der Gemeinde: er verspricht nicht irgendeine Proportion von Lohn je nach der Leistung: wie kann er Strafe und Lohn im Jenseits gemeint haben!

[166] [654]


Das Christentum ist ein naiver Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung, mitten aus dem eigentlichen Herde des Ressentiments heraus... aber durch Paulus zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, welche endlich sich mit der ganzen staatlichen Organisation vertragen lernt... und Kriege führt, verurteilt, foltert, schwört, haßt.

Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfnis der großen, religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica mit dem »Opfer«.

Er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte Fortexistenz der Einzelseele) als Auferstehung in Kausalverbindung mit jenem Opfer zu bringen (nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris).

Er hat nötig, den Begriff Schuld und Sünde in den Vordergrund zu bringen, nicht eine neue Praxis (wie sie Jesus selbst zeigte und lehrte), sondern einen neuen Kultus, einen neuen Glauben, einen Glauben an eine wundergleiche Verwandlung (»Erlösung« durch den Glauben).

Er hat das große Bedürfnis der heidnischen Welt verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, alles neu akzentuiert, überall das Schwergewicht verlegt... er hat prinzipiell das ursprüngliche Christentum annulliert...

Das Attentat auf Priester und Theologen mündete, dank dem Paulus, in eine neue Priesterschaft und Theologie – einen herrschenden Stand, auch eine Kirche.

Das Attentat auf die übermäßige Wichtigtuerei der »Person« mündete in den Glauben an die »ewige Person« (in die Sorge ums »ewige Heil«...), in die paradoxeste Übertreibung des Personal-Egoismus.

Das ist der Humor der Sache, ein tragischer Humor: Paulus hat gerade das im großen Stile wieder aufgerichtet, was Christus durch sein Leben annulliert hatte. Endlich, als die Kirche fertig ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre Sanktion.

[167]


Man kann nicht genug Achtung vor dem Menschen haben, sobald man ihn daraufhin ansieht, wie er sich durchzuschlagen, auszuhalten, die Umstände sich zunutze zu machen, Widersacher niederzuwerfen versteht; sieht man dagegen auf den Menschen, sofern er wünscht, ist er[655] die absurdeste Bestie... Es ist gleichsam, als ob er einen Tummelplatz der Feigheit, Faulheit, Schwächlichkeit, Süßlichkeit, Untertänigkeit zur Erholung für seine starken und männlichen Tugenden brauchte: siehe die menschlichen Wünschbarkeiten, seine »Ideale«. Der wünschende Mensch erholt sich von dem Ewig-Wertvollen an ihm, von seinem Tun: im Nichtigen, Absurden, Wertlosen, Kindischen. Die geistige Armut und Erfindungslosigkeit ist bei diesem so erfinderischen und auskunftsreichen Tier erschrecklich. Das »Ideal« ist gleichsam die Buße, die der Mensch zahlt, für den ungeheuren Aufwand, den er in allen wirklichen und dringlichen Aufgaben zu bestreiten hat. Hört die Realität auf, so kommt der Traum, die Ermüdung, die Schwäche: »das Ideal« ist geradezu eine Form von Traum, Ermüdung, Schwäche... Die stärksten und die ohnmächtigsten Naturen werden sich gleich, wenn dieser Zustand über sie kommt: sie vergöttlichen das Aufhören der Arbeit, des Kampfes, der Leidenschaften, der Spannung, der Gegensätze, der »Realität« in summa... des Ringens um Erkenntnis, der Mühe der Erkenntnis.

»Unschuld«: so heißen sie den Idealzustand der Verdummung;

»Seligkeit«: den Idealzustand der Faulheit; »Liebe«: den Idealzustand des Herdentiers, das keinen Feind mehr haben will. Damit hat man alles, was den Menschen erniedrigt und herunterbringt, ins Ideal erhoben.

[335]


Ein Gott für unsere Sünden gestorben; eine Erlösung durch den Glauben; eine Wiederauferstehung nach dem Tode – das sind alles Falschmünzereien des eigentlichen Christentums, für die man jenen unheilvollen Querkopf (Paulus) verantwortlich machen muß.

Das vorbildliche Leben besteht in der Liebe und Demut; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten nicht ausschließt; in der förmlichen Verzichtleistung auf das Recht-behalten-wollen, auf Verteidigung, auf Sieg im Sinne des persönlichen Triumphes; im Glauben an die Seligkeit hier, auf Erden, trotz Not, Widerstand und Tod; in der Versöhnlichkeit, in der Abwesenheit des Zornes, der Verachtung; nicht belohnt werden wollen; niemandem sich verbunden haben; die geistlich-geistigste Herrenlosigkeit; ein sehr stolzes Leben unter dem Willen zum armen und dienenden Leben.[656]

Nachdem die Kirche die ganze christliche Praxis sich hatte nehmen lassen und ganz eigentlich das Leben im Staate, jene Art Leben, welche Jesus bekämpft und verurteilt hatte, sanktioniert hatte, mußte sie den Sinn des Christentums irgendwo anders hin legen: in den Glauben an unglaubwürdige Dinge, in das Zeremoniell von Gebeten, Anbetung, Festen usw. Der Begriff »Sünde«, »Vergebung«, »Strafe«, »Belohnung« – alles ganz unbeträchtlich und fast ausgeschlossen vom ersten Christentum – kommt jetzt in den Vordergrund.

Ein schauderhafter Mischmasch von griechischer Philosophie und Judentum; der Asketismus; das beständige Richten und Verurteilen; die Rangordnung usw.

[169]


– »Was tun, um zu glauben?« – eine absurde Frage. Was im Christentum fehlt, das ist die Enthaltung von alledem, was Christus befohlen hat zu tun.

Es ist das mesquine Leben, aber mit einem Auge der Verachtung interpretiert.

[193]


Gott schuf den Menschen glücklich, müßig, unschuldig und unsterblich: unser wirkliches Leben ist ein falsches, abgefallenes, sündhaftes Dasein, eine Straf-Existenz... Das Leiden, der Kampf, die Arbeit, der Tod werden als Einwände und Fragezeichen gegen das Leben abgeschätzt, als etwas Unnatürliches, etwas, das nicht dauern soll; gegen das man Heilmittel braucht – und hat!...

Die Menschheit hat von Adam an bis jetzt sich in einem unnormalen Zustande befunden: Gott selbst hat seinen Sohn für die Schuld Adams hergegeben, um diesem unnormalen Zustande ein Ende zu machen: der natürliche Charakter des Lebens ist ein Fluch; Christus gibt dem, der an ihn glaubt, den Normal-Zustand zurück: er macht ihn glücklich, müßig und unschuldig. – Aber die Erde hat nicht angefangen, fruchtbar zu sein ohne Arbeit; die Weiber gebären nicht ohne Schmerzen Kinder; die Krankheit hat nicht aufgehört; die Gläubigsten befinden sich hier so schlecht wie die Ungläubigsten. Nur daß der Mensch vom Tode und von der Sünde befreit ist – Behauptungen, die keine Kontrolle zulassen –, das hat die Kirche um so bestimmter behauptet. »Er ist frei von Sünde« – nicht durch sein Tun,[657] nicht durch einen rigorosen Kampf seinerseits, sondern durch die Tat der Erlösung freigekauft-folglich vollkommen, unschuldig, paradiesisch...

Das wahre Leben nur ein Glaube (d. h. ein Selbstbetrug, ein Irrsinn). Das ganze ringende, kämpfende, wirkliche Dasein voll Glanz und Finsternis nur ein schlechtes, falsches Dasein: von ihm erlöst werden ist die Aufgabe.

»Der Mensch unschuldig, müßig, unsterblich, glücklich« – diese Konzeption der »höchsten Wünschbarkeit« ist vor allem zu kritisieren. Warum ist die Schuld, die Arbeit, der Tod, das Leiden (und, christlich geredet, die Erkenntnis...) wider die höchste Wünschbarkeit? – Die faulen christlichen Begriffe »Seligkeit«, »Unschuld«, »Unsterblichkeit« – – –

[224]


Man hat kein Recht weder auf Dasein, noch auf Arbeit, noch gar auf »Glück«: es steht mit dem einzelnen Menschen nicht anders, als mit dem niedrigsten Wurm.

[759]


Die Gegenseitigkeit, die Hinterabsicht auf Bezahlt-werden-wollen: eine der verfänglichsten Formen der Wert-Erniedrigung des Menschen. Sie bringt jene »Gleichheit« mit sich, welche die Kluft der Distanz als unmoralisch abwertet...

[723]


– Die Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt hat – und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte –

[168]


Der Eintritt in das wahre Leben – man rettet sein persönliches Leben vom Tode, indem man das allgemeine Leben lebt

[194]


Ihr habt alle nicht den Mut, einen Menschen zu töten, oder auch nur zu peitschen, oder auch nur zu –, aber die ungeheure Maschine von Staat überwältigt den einzelnen, so daß er die Verantwortlichkeit für das, was er tut, ablehnt (Gehorsam, Eid usw.).

– Alles, was ein Mensch im Dienste des Staates tut, geht wider seine Natur;

– insgleichen alles, was er in Hinsicht auf den zukünftigen Dienst im Staate lernt, geht wider seine Natur.[658]

Das wird erreicht durch die Arbeitsteilung (so daß niemand die ganze Verantwortlichkeit mehr hat):

der Gesetzgeber – und der, der das Gesetz ausführt;

der Disziplin-Lehrer – und die, welche in der Disziplin hart und streng geworden sind.

[718]


Die Christen haben niemals die Handlungen praktiziert, welche ihnen Jesus vorgeschrieben hat, und das unverschämte Gerede von der »Rechtfertigung durch den Glauben« und dessen oberster und einziger Bedeutsamkeit ist nur die Folge davon, daß die Kirche nicht den Mut, noch den Willen hatte, sich zu den Werken zu bekennen, welche Jesus forderte.

Der Buddhist handelt anders als der Nichtbuddhist; der Christ handelt wie alle Welt und hat ein Christentum der Zeremonien und der Stimmungen.

Die tiefe und verächtliche Verlogenheit des Christentums in Europa –: wir werden wirklich die Verachtung der Araber, Hindus, Chinesen... Man höre die Reden des ersten deutschen Staatsmannes über das, was jetzt vierzig Jahre Europa eigentlich beschäftigt hat...

[191]


Das ursprüngliche Christentum ist Abolition des Staates: es verbietet den Eid, den Kriegsdienst, die Gerichtshöfe, die Selbstverteidigung und Verteidigung irgendeines Ganzen, den Unterschied zwischen Volksgenossen und Fremden; insgleichen die Ständeordnung.

Das Vorbild Christi: er widerstrebt nicht denen, die ihm Übles tun; er verteidigt sich nicht; er tut mehr: er »reicht die linke Wange« (auf die Frage »bist du Christus?« antwortet er »und von nun an werdet ihr ehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels«). Er verbietet, daß seine Jünger ihn verteidigen; er macht aufmerksam, daß er Hilfe haben könnte, aber nicht will.

Das Christentum ist auch Abolition der Gesellschaft: es bevorzugt alles von ihr Geringgeschätzte, es wächst heraus aus den Verrufenen und Verurteilten, den Aussätzigen jeder Art, den »Sündern«, den »Zöllnern«, den Prostituierten, dem dümmsten Volk (den »Fischern«); es verschmäht die Reichen, die Gelehrten, die Vornehmen, die Tugendhaften, die »Korrekten«...

[207]
[659]

Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europas soll nicht mehr lange dauern! Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt, wo alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln? Und das in einem Zustande, wo die geistige Unselbständigkeit und Entnationalisierung in die Augen springt und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und -Befruchtender eigentliche Wert und Sinn der jetzigen Kultur liegt!... Und das »neue Reich«, wieder auf den verbrauchtesten und bestverachteten Gedanken gegründet: die Gleichheit der Rechte und der Stimmen.

Das Ringen um einen Vorrang innerhalb eines Zustandes, der nichts taugt; diese Kultur der Großstädte, der Zeitungen, des Fiebers und der »Zwecklosigkeit« –!

Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Notwendigkeit – und ebenso, als Reaktion, die Friedenspartei...

Eine Partei des Friedens, ohne Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen; verbietet, sich der Gerichte zu bedienen; welche den Kampf, den Widerspruch, die Verfolgung gegen sich heraufbeschwört: eine Partei der Unterdrückten, wenigstens für eine Zeit; alsbald die große Partei. Gegnerisch gegen die Rach– und Nachgefühle.

Eine Kriegspartei, mit der gleichen Grundsätzlichkeit und Strenge gegen sich, in umgekehrter Richtung vorgehend –.

[748]


Zum psychologischen Problem des Christentums. – Die treibende Kraft bleibt: das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen. (Mit dem Buddhismus steht es anders: er ist nicht geboren aus einer Ressentiment-Bewegung. Er bekämpft dasselbe, weil es zum Handeln antreibt).

Diese Friedenspartei begreift, daß Verzichtleisten auf Feindseligkeit in Gedanken und Tat eine Unterscheidungs- und Erhaltungsbedingung ist. Hierin liegt die psychologische Schwierigkeit, welche verhindert hat, daß man das Christentum verstand: der Trieb, der es schuf, erzwingt eine grundsätzliche Bekämpfung seiner selber.

Nur als Friedens- und Unschuldspartei hat diese Aufstandsbewegung eine Möglichkeit auf Erfolg: sie muß siegen durch die extreme Milde,[660] Süßigkeit, Sanftmut, ihr Instinkt begreift das –. Kunststück: den Trieb, dessen Ausdruck man ist, leugnen, verurteilen, das Gegenstück dieses Triebes durch die Tat und das Wort beständig zur Schau tragen –.

[179]


Zu begreifen: – Daß alle Art Verfall und Erkrankung fortwährend an den Gesamt-Werturteilen mitgearbeitet hat: daß in den herrschend gewordnen Werturteilen die décadence sogar zum Übergewicht gekommen ist: daß wir nicht nur gegen die Folgezustände alles gegenwärtigen Elends von Entartung zu kämpfen haben, sondern alle bisherige décadence rückständig, das heißt lebendig geblieben ist. Eine solche Gesamt-Abirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten, eine solche Gesamt-décadence des Werturteils ist das Fragezeichen par excellence, das eigentliche Rätsel, das das Tier »Mensch« dem Philosophen aufgibt.

[39]


Die Hauptarten des Pessimismus:

der Pessimismus der Sensibilität (: die Überreizbarkeit mit einem Übergewicht der Unlustgefühle);

der Pessimismus des »unfreien Willens« (anders gesagt: der Mangel an Hemmungskräften gegen die Reize);

der Pessimismus des Zweifels (: die Scheu vor allem Festen, vor allem Fassen und Anrühren).

Die dazu gehörigen psychologischen Zustände kann man allesamt im Irrenhause beobachten, wenn auch in einer gewissen Übertreibung. Insgleichen den »Nihilismus« (das durchbohrende Gefühl des – »Nichts«).

Wohin aber gehört der Moral-Pessimismus Pascals? der metaphysische Pessimismus der Vedânta-Philosophie? der soziale Pessimismus des Anarchisten (oder Shelleys)? der Mitgefühls-Pessimismus (wie der Leo Tolstois, Alfred de Vignys) ?

Sind das nicht alles gleichfalls Verfalls- und Erkrankungs-Phänomene?... Das exzessive Wichtig-nehmen von Moralwerten oder von »Jenseits«-Fiktionen oder von sozialen Notständen oder von Leiden überhaupt. Jede solche Übertreibung eines engeren Gesichtspunktes ist an sich schon ein Zeichen von Erkrankung. Ebenfalls das Überwiegen des Neins über das Ja![661]

Was hier nicht zu verwechseln ist: die Lust am Nein-sagen und Nein- tun aus einer ungeheuren Kraft und Spannung des Ja-sagens – eigentümlich allen reichen und mächtigen Menschen und Zeiten. Ein Luxus gleichsam; eine Form der Tapferkeit ebenfalls, welche sich dem Furchtbaren entgegenstellt; eine Sympathie für das Schreckliche und Fragwürdige, weil man, unter anderem, schrecklich und fragwürdig ist: das Dionysische in Wille, Geist, Geschmack.

[1020]


Daß die Menschheit eine Gesamtaufgabe zu lösen habe, daß sie als Ganzes irgendeinem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung. Vielleicht wird man sie wieder los, bevor sie eine »fixe Idee« wird... Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen, – sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter. Sondern die Schichten liegen durcheinander und übereinander – und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch geben, als wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits gehört zu allen Epochen der Menschheit: überall gibt es Auswurf- und Verfalls-Stoffe, es ist ein Lebensprozeß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs- und Abfalls- Gebilde.

Unter der Gewalt des christlichen Vorurteils gab es diese Frage gar nicht: der Sinn lag in der Errettung der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer der Menschheit kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten, daß es möglichst bald ein Ende habe; – über das, was dem einzelnen not tue, gab es keinen Zweifel... Die Aufgabe stellte sich jetzt für jeden einzelnen, wie in irgendwelcher Zukunft für einen Zukünftigen: der Wert, Sinn, Umkreis der Werte war fest, unbedingt, ewig, eins mit Gott... Das, was von diesem ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch, verurteilt...

Das Schwergewicht des Wertes lag für jede Seele in sich selber: Heil oder Verdammnis! Das Heil der ewigen Seele! Extremste Form der Verselbstung... Für jede Seele gab es nur eine Vervollkommnung; nur ein Ideal; nur einen Weg zur Erlösung... Extremste Form der Gleichberechtigung, angeknüpft an eine optische Vergrößerung der eigenen[662] Wichtigkeit bis ins Unsinnige... Lauter unsinnig wichtige Seelen, mit entsetzlicher Angst um sich selbst gedreht...

Nun glaubt kein Mensch mehr an diese absurde Wichtigtuerei: und wir haben unsere Weisheit durch ein Sieb der Verachtung geseiht. Trotzdem bleibt unerschüttert die optische Gewöhnung, einen Wert des Menschen in der Annäherung an einen idealen Menschen zu suchen: man hält im Grunde sowohl die Verselbstungs-Perspektive als die Gleichberechtigung vor dem Ideal aufrecht. In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf den idealen Menschen, die letzte Wünschbarkeit sei...

Dieser Glaube ist aber nur die Folge einer ungeheuren Verwöhnung durch das christliche Ideal: als welches man, bei jeder vorsichtigen Prüfung des »idealen Typus«, sofort wieder herauszieht. Man glaubt, erstens, zu wissen, daß die Annäherung an einen Typus wünschbar ist;

zweitens, zu wissen, welcher Art dieser Typus ist; drittens, daß jede Abweichung von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein Kraft- und Machtverlust des Menschen ist... Zustände träumen, wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität für sich hat: höher haben es auch unsre Sozialisten, selbst die Herren Utilitarier nicht gebracht. – Damit scheint ein Ziel in die Entwicklung der Menschheit zu kommen: jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum Ideal die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft des »Reiches Gottes« in die Zukunft verlegt, auf die Erde, ins Menschliche, – aber man hat im Grunde den Glauben an das alte Ideal festgehalten...

[339]


Die Lasterhaften und Zügellosen: ihr deprimierender Einfluß auf den Wert der Begierden. Es ist die schauerliche Barbarei der Sitte, welche, im Mittelalter vornehmlich, zu einem wahren »Bund der Tugend« zwingt – nebst ebenso schauerlichen Übertreibungen über das, was den Wert des Menschen ausmacht. Die kämpfende »Zivilisation« (Zähmung) braucht alle Art Eisen und Tortur, um sich gegen die Furchtbarkeit und Raubtier-Natur aufrechtzuerhalten.

Hier ist eine Verwechslung ganz natürlich, obwohl vom schlimmsten Einfluß: Das, was Menschen der Macht und des Willens von sich verlangen können, gibt ein Maß auch für das, was sie sich zugestehen[663] dürfen. Solche Naturen sind der Gegensatz der Lasterhaften und Zügellosen: obwohl sie unter Umständen Dinge tun, derentwegen ein geringerer Mensch des Lasters und der Unmäßigkeit überführt wäre.

Hier schadet der Begriff der »Gleichwertigkeit der Menschen vor Gott« außerordentlich; man verbot Handlungen und Gesinnungen, welche, an sich, zu den Prärogativen der Starkgeratenen gehören – wie als ob sie an sich des Menschen unwürdig wären. Man brachte die ganze Tendenz der starken Menschen in Verruf, indem man die Schutzmittel der Schwächsten (auch gegen sich Schwächsten) als Wert-Norm aufstellte.

Die Verwechslung geht so weit, daß man geradezu die großen Virtuosen des Lebens (deren Selbstherrlichkeit den schärfsten Gegensatz zum Lasterhaften und Zügellosen abgibt) mit den schimpflichsten Namen brandmarkte. Noch jetzt glaubt man einen Cesare Borgia mißbilligen zu müssen; das ist einfach zum Lachen. Die Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer Laster in Bann getan: als ob ein Mönch oder Priester über das mitreden dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf. Ein Don Juan wird in die Hölle geschickt: das ist sehr naiv. Hat man bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen? ... Nur ein Wink für die Weiblein, wo sie ihr Heil am besten finden. – Denkt man ein wenig konsequent und außerdem mit einer vertieften Einsicht in das, was ein »großer Mensch« ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle »großen Menschen« in die Hölle schickt –, sie kämpft gegen alle »Größe des Menschen«.

[871]


Der »Ehr-Begriff«: beruhend auf dem Glauben an »gute Gesellschaft«, an ritterliche Hauptqualitäten, an die Verpflichtung, sich fortwährend zu repräsentieren. Wesentlich: daß man sein Leben nicht wichtig nimmt; daß man unbedingt auf respektvollste Manieren hält, seitens aller, mit denen man sich berührt (zum mindesten so weit sie nicht zu »uns« gehören); daß man weder vertraulich, noch gutmütig, noch lustig, noch bescheiden ist, außer inter pares; daß man sich immer repräsentiert.

[948]
[664]

Der Krieg gegen die Vornehmen und Mächtigen, wie er im Neuen Testament geführt wird, ist ein Krieg wie der des Reineke und mit gleichen Mitteln: nur immer in priesterlicher Salbung und in entschiedener Ablehnung, um seine eigne Schlauheit zu wissen.

[208]


Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ – wir wissen eine Zeitlang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten Wertungen, mit dem Maße von Energie, das eben eine solche extreme Überwertung des Menschen im Menschen erzeugt hat.

Jetzt ist alles durch und durch falsch, »Wort«, durcheinander, schwach oder überspannt:

  • a) man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber im gleichen Sinne, in dem des schließlichen Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit (der Sozialismus: »Gleichheit der Person«);

  • b) man versucht ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten (mit dem Vorrang des Unegoistischen, der Selbst-Verleugnung, der Willens- Verneinung);

  • c) man versucht selbst das »Jenseits« festzuhalten: sei es auch nur als antilogisches x: aber man deutet es sofort so aus, daß eine Art metaphysischer Trost alten Stils aus ihm gezogen werden kann;

  • d) man versucht die göttliche Leitung alten Stils, die belohnende, bestrafende, erziehende, zum Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem Geschehen herauszulesen;

  • e) man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: so daß man den Sieg des Guten und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet (– das ist englisch: typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill);

  • f) die Verachtung der »Natürlichkeit«, der Begierde, des ego: Versuch, selbst die höchste Geistigkeit und Kunst als Folge einer Entpersönlichung und als désintéressement zu verstehn;

  • g) man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte des Einzellebens einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn zu geben: wir haben noch immer den »christlichen Staat«, die »christliche Ehe« –

[30]
[665]

Meine »Zukunft«; – eine stramme Polytechniker-Bildung. Militärdienst: so daß durchschnittlich jeder Mann der höheren Stände Offizier ist, er sei sonst, wer er sei.

[793]


Perioden des europäischen Nihilismus.

Die Periode der Unklarheit, der Tentativen aller Art, das Alte zu konservieren und das Neue nicht fahren zu lassen.

Die Periode der Klarheit: man begreift, daß Altes und Neues Grundgegensätze sind: die alten Werte aus dem niedergehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben geboren –, daß alle alten Ideale lebensfeindliche Ideale sind (aus der décadence geboren und die décadence bestimmend, wie sehr auch im prachtvollen Sonntags-Aufputz der Moral). Wir verstehen das Alte und sind lange nicht stark genug zu einem Neuen.

Die Periode der drei großen Affekte: der Verachtung, des Mitleids, der Zerstörung.

Die Periode der Katastrophe: die Heraufkunft einer Lehre, welche die Menschen aussiebt ... welche die Schwachen zu Entschlüssen treibt und ebenso die Starken –

[56]


Einsicht, welche den »freien Geistern« fehlt: dieselbe Disziplin, welche eine starke Natur noch verstärkt und zu großen Unternehmungen befähigt, zerbricht und verkümmert die mittelmäßigen: – der Zweifel – la largeur de cœur – das Experiment – die Independenz.

[904]


Rolle des »Bewußtseins«. – Es ist wesentlich, daß man sich über die Rolle des »Bewußtseins« nicht vergreift: es ist unsere Relation mit der »Außenwelt«, welche es entwickelt hat. Dagegen die Direktion, resp. die Obhut und Vorsorglichkeit in Hinsicht auf das Zusammenspiel der leiblichen Funktionen tritt uns nicht ins Bewußtsein; ebenso wenig als die geistige Einmagazinierung: daß es dafür eine oberste Instanz gibt, darf man nicht bezweifeln: eine Art leitendes Komitee, wo die verschiedenen Hauptbegierden ihre Stimme und Macht geltend machen. »Lust«, »Unlust« sind Winke aus dieser Sphäre her: der Willensakt insgleichen: die Ideen insgleichen.

In summa: das, was bewußt wird, steht unter kausalen Beziehungen,[666] die uns ganz und gar vorenthalten sind – die Aufeinanderfolge von Gedanken, Gefühlen, Ideen im Bewußtsein drückt nichts darüber aus, daß diese Folge eine kausale Folge ist: es ist aber scheinbar so, im höchsten Grade. Auf diese Scheinbarkeit hin haben wir unsere ganze Vorstellung von Geist, Vernunft, Logik usw. gegründet (– das gibt es alles nicht: es sind fingierte Synthesen und Einheiten) und diese wieder in die Dinge, hinter die Dinge projiziert!

Gewöhnlich nimmt man das Bewußtsein selbst als Gesamt-Sensorium und oberste Instanz; indessen, es ist nur ein Mittel der Mitteilbarkeit: es ist im Verkehr entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrs- Interessen... »Verkehr« hier verstanden auch von den Einwirkungen der Außenwelt und den unsererseits dabei nötigen Reaktionen; ebenso wie von unseren Wirkungen nach außen. Es ist nicht die Leitung, sondern ein Organ der Leitung.

[524]


Die Mittel, vermöge deren eine stärkere Art sich er hält.

Sich ein Recht auf Ausnahme-Handlungen zugestehen; als Versuch der Selbstüberwindung und der Freiheit.

Sich in Zustände begeben, wo es nicht erlaubt ist, nicht Barbar zu sein.

Sich durch jede Art von Askese eine Übermacht und Gewißheit in Hinsicht auf seine Willensstärke verschaffen.

Sich nicht mitteilen; das Schweigen; die Vorsicht vor der Anmut. Gehorchen lernen, in der Weise, daß es eine Probe für die Selbst-Aufrechterhaltung abgibt. Kasuistik des Ehrenpunktes ins Feinste getrieben.

Nie schließen »was einem recht ist, ist dem andern billig« – sondern umgekehrt!

Die Vergeltung, das Zurückgeben-dürfen als Vorrecht behandeln, als Auszeichnung zugestehn.

Die Tugend der anderen nicht ambitionieren.

[921]


Aristokratismus. Die Herdentier-Ideale – jetzt gipfelnd als höchste Wertansetzung der »Sozietät«: Versuch, ihr einen kosmischen, ja metaphysischen Wert zu geben. – Gegen sie verteidige ich den Aristokratismus.[667]

Eine Gesellschaft, welche in sich jene Rücksicht und Delikatesse in bezug auf Freiheit bewahrt, muß sich als Ausnahme fühlen und sich gegenüber eine Macht haben, gegen welche sie sich abhebt, gegen welche sie feindselig ist und herabblickt.

Je mehr ich Recht abgebe und mich gleichstelle, um so mehr gerate ich unter die Herrschaft der Durchschnittlichsten, endlich der Zahlreichsten. Die Voraussetzung, welche eine aristokratische Gesellschaft in sich hat, um zwischen ihren Mitgliedern den hohen Grad von Freiheit zu erhalten, ist die extreme Spannung, welche aus dem Vorhandensein des entgegengesetzten Triebes bei allen Mitgliedern entspringt: des Willens zur Herrschaft...

Wenn ihr die starken Gegensätze und Rangverschiedenheiten wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe Gesinnung, das Gefühl des Für-sich-seins auch ab.

[936]


Zur wirklichen Psychologie der Freiheits- und Gleichheits-Sozietät. – Was nimmt ab?

Der Wille zur Selbstverantwortlichkeit, Zeichen des Niedergangs der Autonomie; die Wehr– und Waffentüchtigkeit, auch im Geistigsten: die Kraft zu kommandieren; der Sinn der Ehrfurcht, der Unterordnung, des Schweigen-könnens; die große Leidenschaft, die große Aufgabe, die Tragödie, die Heiterkeit.

[80]


Zur Kritik der großen Worte. – Ich bin voller Argwohn und Bosheit gegen das, was man »Ideal« nennt: hier liegt mein Pessimismus, erkannt zu haben, wie die »höheren Gefühle« eine Quelle des Unheils, das heißt der Verkleinerung und Werterniedrigung des Menschen sind.

Man täuscht sich jedesmal, wenn man einen »Fortschritt« von einem Ideal erwartet; der Sieg des Ideals war jedesmal bisher eine retrograde Bewegung.

Christentum, Revolution, Aufhebung der Sklaverei, gleiche Rechte, Philanthropie, Friedensliebe, Gerechtigkeit, Wahrheit: alle diese großen Worte haben nur Wert im Kampf, als Standarte; nicht als Realitäten, sondern als Prunkworte, für etwas ganz anderes (ja Gegensätzliches!).[668]

»Dinge, die eine Beschaffenheit an sich haben« – eine dogmatische Vorstellung, mit der man absolut brechen muß.

[559]


Die »wachsende Autonomie des Individuums«: davon reden diese Pariser Philosophen, wie Fouillée: sie sollten doch nur die race moutonnière ansehen, die sie selber sind. Macht doch die Augen auf, ihr Herren Zukunfts-Soziologen! Das Individuum ist stark geworden unter umgekehrten Bedingungen: ihr beschreibt die äußerste Schwächung und Verkümmerung des Menschen, ihr wollt sie selbst und braucht den ganzen Lügenapparat des alten Ideals dazu! ihr seid derart, daß ihr eure Herdentier-Bedürfnisse wirklich als Ideal empfindet!

Der vollkommene Mangel an psychologischer Rechtschaffenheit!

[782]


Die Herkunft des Ideals. Untersuchung des Bodens, auf dem es wächst.

A. Von den »ästhetischen« Zuständen ausgehen, wo die Welt voller, runder, vollkommener gesehen wird –: das heidnische Ideal: darin die Selbstbejahung vorherrschend (man gibt ab –). Der höchste Typus: das klassische Ideal – als Ausdruck eines Wohlgeratenseins aller Hauptinstinkte. Darin wieder der höchste Stil: der große Stil. Ausdruck des »Willens zur Macht« selbst. Der am meisten gefürchtete Instinkt wagt sich zu bekennen.

B. Von Zuständen ausgehen, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die »Vergeistigung« und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen einnimmt, wo am meisten das Brutale, Tierisch-Direkte, Nächste vermieden wird (– man rechnet ab, man wählt –): der »Weise«, »der Engel«, priesterlich = jungfräulich = unwissend, physiologische Charakteristik solcher Idealisten –: das anämische Ideal. Unter Umständen kann es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen (: so sieht Goethe in Spinoza seinen »Heiligen«).

C. Von Zuständen ausgehen, wo wir die Welt absurder, schlechter, ärmer, täuschender empfinden, als daß wir in ihr noch das Ideal vermuten oder wünschen (– man negiert, man vernichtet –): die Projektion des Ideals in das Wider-Natürliche, Wider-Tatsächliche, Wider-Logische; der Zustand dessen, der so urteilt (– die »Verarmung« der[669] Welt als Folge des Leidens: man nimmt, man gibt nicht mehr –): das widernatürliche Ideal.

(Das christliche Ideal ist ein Zwischengebilde zwischen dem zweiten und dritten, bald mit dieser, bald mit jener Gestalt überwiegend.)

Die drei Ideale: A. Entweder eine Verstärkung des Lebens (– heidnisch), oder B. eine Verdünnung des Lebens (– anämisch), oder C. eine Verleugnung des Lebens (– widernatürlich). Die »Vergöttlichung« gefühlt: in der höchsten Fülle – in der zartesten Auswahl – in der Verachtung und Zerstörung des Lebens.

[341]


Der Nihilismus ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das »Umsonst!«, und nicht nur der Glaube, daß alles wert ist zugrunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet zugrunde... Das ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nötigung, logisch zu sein... Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei dem Nein »des Urteils« stehen zu bleiben: – das Nein der Tat kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundiert die Ver-Nichtsung durch die Hand.

[24]


Gegen John Stuart Mill. – Ich perhorresziere seine Gemeinheit, welche sagt »was dem einen recht ist, ist dem andern billig«; »was du nicht willst usw., das füg auch keinem andern zu«; welche den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen will, so daß jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint für etwas, das uns erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten Sinne: hier wird die Äquivalenz der Werte von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir; hier ist der persönlichste Wert einer Handlung einfach annulliert (das, was durch nichts ausgeglichen und bezahlt werden kann –). Die »Gegenseitigkeit« ist eine große Gemeinheit; gerade daß etwas, das ich tue, nicht von einem andern getan werden dürfte und könnte, daß es keinen Ausgleich geben darf (– außer in der ausgewähltesten Sphäre der »meines-gleichen«, inter pares –), daß man in einem tieferen Sinne nie zurückgibt, weil man etwas Einmaliges ist und nur Einmaliges tut – diese Grundüberzeugung enthält die Ursache der aristokratischen Absonderung von der Menge, weil die Menge an »Gleichheit« und folglich Ausgleichbarkeit und »Gegenseitigkeit« glaubt.

[926]
[670]

Wenn wir »Enttäuschte« sind, so sind wir es nicht in Hinsicht auf das Leben: sondern, daß uns über die »Wünschbarkeiten« aller Art die Augen aufgegangen sind. Wir sehen mit einem spöttischen Ingrimm dem zu, was »Ideal« heißt: wir verachten uns nur darum, nicht zu jeder Stunde jene absurde Regung niederhalten zu können, welche »Idealismus« heißt. Die Verwöhnung ist stärker als der Ingrimm des Enttäuschten.

[16]


Ein Mensch, wie er sein soll: das klingt uns so abgeschmackt wie: »ein Baum, wie er sein soll«.

[332]


Man erkennt die Überlegenheit des griechischen Menschen, des Renaissance-Menschen an – aber man möchte ihn ohne seine Ursachen und Bedingungen haben.

[882]


Es ist der Gipfel der psychologischen Verlogenheit des Menschen, sich ein Wesen als Anfang und »An-sich« nach seinem Winkel- Maßstab des ihm gerade gut, weise, mächtig, wertvoll Erscheinenden herauszurechnen – und dabei die ganze Ursächlichkeit, vermöge deren überhaupt irgendwelche Güte, irgendwelche Weisheit, irgendwelche Macht besteht und Wert hat, wegzudenken. Kurz, Elemente der spätesten und bedingtesten Herkunft als nicht entstanden, sondern als »an sich« zu setzen und womöglich gar als Ursache alles Entstehens überhaupt... Gehen wir von der Erfahrung aus, von jedem Falle, wo ein Mensch sich bedeutend über das Maß des Menschlichen erhoben hat, so sehen wir, daß jeder hohe Grad von Macht Freiheit von Gut und Böse ebenso wie von »Wahr« und »Falsch« in sich schließt und dem, was Güte will, keine Rechnung gönnen kann: wir begreifen dasselbe noch einmal für jeden hohen Grad von Weisheit – die Güte ist in ihr ebenso aufgehoben als die Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Tugend und andere Volks-Velleitäten der Wertung. Endlich jeder hohe Grad von Güte selbst: ist es nicht ersichtlich, daß er bereits eine geistige Myopie und Unfeinheit voraussetzt? insgleichen die Unfähigkeit, zwischen wahr und falsch, zwischen nützlich und schädlich auf eine größere Entfernung hin zu unterscheiden? gar nicht davon zu reden, daß ein hoher Grad von Macht in den Händen der höchsten[671] Güte die unheilvollsten Folgen (»die Abschaffung des Übels«) mit sich bringen würde? – In der Tat, man sehe nur an, was der »Gott der Liebe« seinen Gläubigen für Tendenzen eingibt: sie ruinieren die Menschheit zugunsten des »Guten«. – In praxi hat sich derselbe Gott angesichts der wirklichen Beschaffenheit der Welt als Gott der höchsten Kurzsichtigkeit, Teufelei und Ohnmacht erwiesen: woraus sich ergibt, wieviel Wert seine Konzeption hat.

An sich hat ja Wissen und Weisheit keinen Wert; ebenso wenig als Güte: man muß immer erst noch das Ziel haben, von wo aus diese Eigenschaften Wert oder Unwert erhalten, – es könnte ein Ziel geben, von wo aus ein extremes Wissen einen hohen Unwert darstellte (etwa wenn die extreme Täuschung eine der Voraussetzungen der Steigerung des Lebens wäre; insgleichen wenn die Güte etwa die Sprungfedern der großen Begierde zu lähmen und zu entmutigen vermöchte)...

Unser menschliches Leben gegeben, wie es ist, so hat alle »Wahrheit«, alle »Güte«, alle »Heiligkeit«, alle »Göttlichkeit« im christlichen Stile bis jetzt sich als große Gefahr erwiesen, – noch jetzt ist die Menschheit in Gefahr, an einer lebenswidrigen Idealität zugrunde zu gehn.

[244]


Daß zwischen Subjekt und Objekt eine Art adäquater Relation stattfinde; daß das Objekt etwas sei, das von innen gesehn Subjekt wäre, ist eine gutmütige Erfindung, die, wie ich denke, ihre Zeit gehabt hat. Das Maß dessen, was uns überhaupt bewußt wird, ist ja ganz und gar abhängig von der groben Nützlichkeit des Bewußtwerdens: wie erlaubte uns diese Winkelperspektive des Bewußtseins irgendwie über »Subjekt« und »Objekt« Aussagen, mit denen die Realität berührt würde!–

[474]


Man kann die unterste und ursprünglichste Tätigkeit im Protoplasma nicht aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten, denn es nimmt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem, es »erhält sich« damit nicht, sondern zerfällt... Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-nicht-erhalten-wollen zu erklären: »Hunger« ist schon eine Ausdeutung, nach ungleich komplizierteren Organismen (– Hunger ist eine spezialisierte[672] und spätere Form des Triebes, ein Ausdruck der Arbeitsteilung, im Dienst eines darüber waltenden höheren Triebes).

[651]


Es gibt solche, die danach suchen, wo etwas unmoralisch ist. Wenn sie urteilen: »das ist unrecht«, so glauben sie, man müsse es abschaffen und ändern. Umgekehrt habe ich nirgends Ruhe, solange ich bei einer Sache noch nicht über ihre Unmoralität im klaren bin. Habe ich diese heraus, so ist mein Gleichgewicht wieder hergestellt.

[309]


Mein Schlußsatz ist: daß der wirkliche Mensch einen viel höheren Wert darstellt als der »wünschbare« Mensch irgendeines bisherigen Ideals: daß alle »Wünschbarkeiten« in Hinsicht auf den Menschen absurde und gefährliche Ausschweifungen waren, mit denen eine einzelne Art von Mensch ihre Erhaltungs- und Wachstums-Bedingungen über der Menschheit als Gesetz aufhängen möchte; daß jede zur Herrschaft gebrachte »Wünschbarkeit« solchen Ursprungs bis jetzt den Wert des Menschen, seine Kraft, seine Zukunftsgewißheit herabgedrückt hat; daß die Armseligkeit und Winkel-Intellektualität des Menschen sich am meisten bloßstellt, auch heute noch, wenn er wünscht; daß die Fähigkeit des Menschen, Werte anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt war, um dem tatsächlichen, nicht bloß »wünschbaren« Werte des Menschen gerecht zu werden; daß das Ideal bis jetzt die eigentlich welt- und menschverleumdende Kraft, der Gifthauch über der Realität, die große Verführung zum Nichts war...

[390]


Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt, – der wirkliche Vorgang der inneren »Wahrnehmung«, die Kausalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen – und vielleicht eine reine Einbildung. Diese »scheinbare innere Welt« ist mit ganz denselben Formen und Prozeduren behandelt, wie die »äußere« Welt. Wir stoßen nie auf »Tatsachen«: Lust und Unlust sind späte und abgeleitete Intellekt-Phänomene...

Die »Ursächlichkeit« entschlüpft uns; zwischen Gedanken ein unmittelbares ursächliches Band anzunehmen, wie es die Logik tut – das[673] ist Folge der allergröbsten und plumpsten Beobachtung. Zwischen zwei Gedanken spielen noch alle möglichen Affekte ihr Spiel: aber die Bewegungen sind zu rasch, deshalb verkennen wir sie, leugnen wir sie...

»Denken«, wie es die Erkenntnistheoretiker ansetzen, kommt gar nicht vor: das ist eine ganz willkürliche Fiktion, erreicht durch Heraushebung eines Elementes aus dem Prozeß und Subtraktion aller übrigen, eine künstliche Zurechtmachung zum Zwecke der Verständlichung...

Der »Geist«, etwas, das denkt: womöglich gar »der Geist absolut, rein, pur« – diese Konzeption ist eine abgeleitete zweite Folge der falschen Selbstbeobachtung, welche an »Denken« glaubt: hier ist erst ein Akt imaginiert, der gar nicht vorkommt, »das Denken«, und zweitens ein Subjekt-Substrat imaginiert, in dem jeder Akt dieses Denkens und sonst nichts anderes seinen Ursprung hat: das heißt sowohl das Tun, als der Täter sind fingiert.

[477]


In einer Welt, die wesentlich falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit eine widernatürliche Tendenz: eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderen höheren Potenz von Falschheit. Damit eine Welt des Wahren, Seienden fingiert werden konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (eingerechnet, daß ein solcher sich »wahrhaftig« glaubt).

Einfach, durchsichtig, mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte, Vorhang, Form: ein Mensch derart konzipiert eine Welt des Seins als »Gott« nach seinem Bilde.

Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein: es muß der Vorteil in jedem Sinne auf seiten des Wahrhaftigen sein. – Lüge, Tücke, Verstellung müssen Erstaunen erregen...

[543]


»Wollen« ist nicht »begehren«, streben, verlangen: davon hebt es sich ab durch den Affekt des Kommandos.

Es gibt kein »Wollen«, sondern nur ein Etwas-Wollen: man muß nicht das Ziel auslösen aus dem Zustand – wie es die Erkenntnistheoretiker tun. »Wollen«, wie sie es verstehn, kommt so wenig vor wie »Denken«: ist eine reine Fiktion.[674]

Daß etwas befohlen wird gehört zum Wollen (– damit ist natürlich nicht gesagt, daß der Wille »effektuiert« wird).

Jener allgemeine Spannungszustand, vermöge dessen eine Kraft nach Auslösung trachtet, – ist kein »Wollen«.

[668]


Ein Philosoph erholt sich anders und mit anderem: er erholt sich z. B. im Nihilismus. Der Glaube, daß es gar keine Wahrheit gibt, der Nihilisten-Glaube, ist ein großes Gliederstrecken für einen, der als Kriegsmann der Erkenntnis unablässig mit lauter häßlichen Wahrheiten im Kampfe liegt. Denn die Wahrheit ist häßlich.

[598]


Wie kommt es, daß die Grundglaubensartikel in der Psychologie allesamt die ärgsten Verdrehungen und Falschmünzereien sind? »Der Mensch strebt nach Glück« z. B. – was ist daran wahr? Um zu verstehn, was »Leben« ist, welche Art Streben und Spannung Leben ist, muß die Formel so gut von Baum und Pflanze, als vom Tier gelten. »Wonach strebt die Pflanze?« – aber hier haben wir bereits eine falsche Einheit erdichtet, die es nicht gibt: die Tatsache eines millionenfachen Wachstums mit eigenen und halbeigenen Initiativen ist versteckt und verleugnet, wenn wir eine plumpe Einheit »Pflanze« voranstellen. Daß die letzten kleinsten »Individuen« nicht in dem Sinn eines »metaphysischen Individuums« und Atoms verständlich sind, daß ihre Machtsphäre fortwährend sich verschiebt – das ist zuallererst sichtbar: aber strebt ein jedes von ihnen, wenn es sich dergestalt verändert, nach Glück? – Aber alles Sich-ausbreiten, Einverleiben, Wachsen ist ein Anstreben gegen Widerstehendes; Bewegung ist essentiell etwas mit Unlustzuständen Verbundenes: es muß das, was hier treibt, jedenfalls etwas anderes wollen, wenn es dergestalt die Unlust will und fortwährend aufsucht. – Worum kämpfen die Bäume eines Urwaldes miteinander? Um »Glück«? – Um Macht!...

Der Mensch, Herr über die Naturgewalten geworden, Herr über seine eigne Wildheit und Zügellosigkeit (die Begierden haben folgen, haben nützlich sein gelernt) – der Mensch, im Vergleich zu einem Vor-Menschen, stellt ein ungeheures Quantum Macht dar, – nicht ein Plus von »Glück«! Wie kann man behaupten, daß er nach Glück gestrebt habe?...

[704]
[675]

Der höhere Mensch unterscheidet sich von dem niederen in Hinsicht auf die Furchtlosigkeit und die Herausforderung des Unglücks: es ist ein Zeichen von Rückgang, wenn eudämonistische Wertmaße als oberste zu gelten anfangen (– physiologische Ermüdung, Willens- Verarmung–). Das Christentum mit seiner Perspektive auf »Seligkeit« ist eine typische Denkweise für eine leidende und verarmte Gattung Mensch. Eine volle Kraft will schaffen, leiden, untergehn: ihr ist das christliche Mucker-Heil eine schlechte Musik und hieratische Gebärden ein Verdruß.

[222]


Daß man endlich die menschlichen Werte wieder hübsch in die Ecke zurücksetze, in der sie allein ein Recht haben: als Eckensteher-Werte. Es sind schon viele Tierarten verschwunden; gesetzt, daß auch der Mensch verschwände, so würde nichts in der Welt fehlen. Man muß Philosoph genug sein, um auch dies Nichts zu bewundern (– Nil admirari).

[302]


Ist man über das »Warum?« seines Lebens mit sich im reinen, so gibt man dessen »Wie?« leichten Kaufs dahin. Es ist selbst schon ein Zeichen von Unglauben an Warum, an Zweck und Sinn, ein Mangel an Willen, wenn der Wert von Lust und Unlust in den Vordergrund tritt und hedonistisch-pessimistische Lehren Gehör finden; und Entsagung, Resignation, Tugend, »Objektivität« können zum mindesten schon Zeichen davon sein, daß es an der Hauptsache zu mangeln beginnt.

[790]


Hinfall der kosmologischen Werte

A.

Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens, wenn wir einen »Sinn« in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut verliert. Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des »Umsonst«, die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen... Jener Sinn könnte gewesen sein: die »Erfüllung« eines sittlichen höchsten Kanons[676] in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehen auf einen allgemeinen Nichts-Zustand – ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht werden soll: – und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht wird... Also die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze »Entwicklung« betreffen (– der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens).

Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisierung in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: so daß in der Gesamtvorstellung einer höchsten Herrschafts- und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (– ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit allem zu versöhnen...). Eine Art Einheit, irgendeine Form des »Monismus«: und infolge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit... »Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des einzelnen«... aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Wert verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich wertvolles Ganzes wirkt: d. h. er hat ein solches Ganzes konzipiert, um an seinen Wert glauben zu können.

Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Wertes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurteilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen[677] diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, – welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten – aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will...

– Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit« der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden... Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«, mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt wertlos aus...


B.

Gesetzt, wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns wertlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei Kategorien stammt, – versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwertet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerten.

– Resultat: Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen.

– Schluß-Resultat: Alle Werte, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwertet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen – alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivität des Menschen: sich selbst als Sinn und Wertmaß der Dinge anzusetzen.

[12]
[678]

Die obersten Werte, in deren Dienst der Mensch leben sollte, namentlich wenn sie sehr schwer und kostspielig über ihn verfügten, – diese sozialen Werte hat man zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung, wie als ob sie Kommandos Gottes wären, als »Realität«, als »wahre« Welt, als Hoffnung und zukünftige Welt über dem Menschen aufgebaut. Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werte klar wird, scheint uns das All damit entwertet, »sinnlos« geworden, – aber das ist nur ein Zwischenzustand.

[7]


Der philosophische Nihilist ist der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte nicht? Aber woher nimmt man diesen »Sinn«, dieses Maß? – Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf ein solches ödes, nutzloses Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt. Eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität als Philosophen. Es läuft auf die absurde Wertung hinaus: der Charakter des Daseins müßte dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders es zurecht bestehen soll...

Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können: es bliebe übrig zu fragen, ob wir den »Sinn«, »Zweck« überhaupt sehen könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegenteils für uns unlösbar ist. –

[36]


Wert alles Abwertens. – Meine Forderung ist, daß man den Täter wieder in das Tun hineinnimmt, nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert hat; daß man das Etwas-tun, das »Ziel«, die »Absicht«, daß man den »Zweck« wieder in das Tun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert hat.

Alle »Zwecke«, »Ziele«, »Sinne« sind nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des einen Willens, der allem Geschehen inhäriert: des Willens zur Macht. Zwecke-, Ziele-, Absichten-haben, Wollen überhaupt, ist so viel wie Stärker-werden-wollen, Wachsen-wollen – und dazu auch die Mittel wollen.

Der allgemeinste und unterste Instinkt in allem Tun und Wollen ist[679] eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben, weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind...

Alle Wertschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste dieses einen Willens: das Wertschätzen selbst ist nur dieser Wille zur Macht.

Eine Kritik des Seins aus irgendeinem dieser Werte heraus ist etwas Widersinniges und Mißverständliches. Gesetzt selbst, daß sich darin ein Untergangsprozeß einleitet, so steht dieser Prozeß noch im Dienste dieses Willens.

Das Sein selbst abschätzen! Aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch! – und indem wir nein sagen, tun wir immer noch, was wir sind.

Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehn; und sodann noch zu erraten suchen, was sich eigentlich damit begibt. Es ist symptomatisch.

[675]


Jener Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint umgekehrt alles viel zu viel wert zu sein, als daß es so flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für jegliches: dürfte man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen? – Mein Trost ist, daß alles, was war, ewig ist – das Meer spült es wieder her.

[1065]


All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigentum und Erzeugnis des Menschen: als seine schönste Apologie. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Liebe, als Macht: o über seine königliche Freigebigkeit, mit der er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen! Das war bisher seine größte Selbstlosigkeit, daß er bewunderte und anbetete und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der das geschaffen hat, was er bewunderte. –

[134a: Kritik der Religion]


Wie viel Vorteil opfert der Mensch, wie wenig »eigennützig« ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben – und wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt![680]

Man will nicht sein »Glück«; man muß Engländer sein, um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen Vorteil sucht. Unsre Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen –, ihre aufgestaute Kraft sucht die Widerstände.

[930]


In der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb eines Organismus ist der uns bewußt werdende Teil ein bloßes Mittel: und das bißchen »Tugend«, »Selbstlosigkeit« und ähnliche Fiktionen werden auf eine vollkommen radikale Weise vom übrigen Gesamtgeschehen aus Lügen gestraft. Wir tun gut, unseren Organismus in seiner vollkommenen Unmoralität zu studieren...

Die animalischen Funktionen sind ja prinzipiell millionenfach wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseins-Höhen: letztere sind ein Überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen. Das ganze bewußte Leben, der Geist samt der Seele, samt dem Herzen, samt der Güte, samt der Tugend: in wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster Vervollkommnung der Mittel (Ernährungs-, Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktionen: vor allem der Lebenssteigerung.

Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man »Leib« und »Fleisch« nannte: der Rest ist ein kleines Zubehör. Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen, und so, daß der Faden immer mächtiger wird – das ist die Aufgabe.

Aber nun sehe man, wie Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich sich verschwören, diese prinzipielle Aufgabe zu verkehren: wie als ob sie die Ziele wären!... Die Entartung des Lebens ist wesentlich bedingt durch die außerordentliche Irrtumsfähigkeit des Bewußtseins: es wird am wenigsten durch Instinkte in Zaum gehalten und vergreift sich deshalb am längsten und gründlichsten.

Nach den angenehmen oder unangenehmen Gefühlen dieses Bewußtseins abmessen, ob das Dasein Wert hat: kann man sich eine tollere Ausschweifung der Eitelkeit denken? Es ist ja nur ein Mittel: – und angenehme oder unangenehme Gefühle sind ja auch nur Mittel!

Woran mißt sich objektiv der Wert? Allein an dem Quantum gesteigerter und organisierter Macht.

[674]
[681]

Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist notwendig in jeder Aktion ein Ingrediens von Unlust. Nur wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens und stärkt den Willen zur Macht!

[694]


Nicht die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust (: gegen diese oberflächlichste Theorie will ich besonders kämpfen, – die absurde psychologische Falschmünzerei der nächsten Dinge –), sondern daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht. Das Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne den Gegner und Widerstand noch nicht satt genug ist. – »Der Glückliche«: Herdenideal.

[696]


Die normale Unbefriedigung unsrer Triebe, z. B. des Hungers, des Geschlechtstriebs, des Bewegungstriebs, enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes; sie wirkt vielmehr agazierend auf das Lebensgefühl, wie jeder Rhythmus von kleinen, schmerzhaften Reizen es stärkt, was auch die Pessimisten uns vorreden mögen. Diese Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist das große Stimulans des Lebens.

(Man könnte vielleicht die Lust überhaupt bezeichnen als einen Rhythmus kleiner Unlustreize.)

[697]


Wo der Gesichtspunkt »Wert« unzulässig: –

Daß im »Prozeß des Ganzen« die Arbeit der Menschheit nicht in Betracht kommt, weil es einen Gesamtprozeß (diesen als System gedacht –) gar nicht gibt;

daß es kein »Ganzes« gibt; daß alle Abwertung des menschlichen Daseins, der menschlichen Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden kann, das gar nicht existiert;

daß die »Notwendigkeit«, die »Ursächlichkeit«, »Zweckmäßigkeit« nützliche Scheinbarkeiten sind;

daß nicht »Vermehrung des Bewußtseins« das Ziel ist, sondern Steigerung der Macht: in welche Steigerung die Nützlichkeit des[682] Bewußtseins eingerechnet ist; ebenso verhält es sich mit Lust und Unlust;

daß man nicht die Mittel zum obersten Wertmaß nimmt (also nicht Zustände des Bewußtseins, wie Lust und Schmerz, wenn das Bewußt-werden selbst nur ein Mittel ist –);

daß die Welt durchaus kein Organismus ist, sondern das Chaos: daß die Entwicklung der »Geistigkeit« nur Mittel zur relativen Dauer der Organisation ist;

daß alle »Wünschbarkeit« keinen Sinn hat in bezug auf den Gesamtcharakter des Seins.

[711]


»Unlust« und »Lust« sind die denkbar dümmsten Ausdrucksmittel von Urteilen: womit natürlich nicht gesagt ist, daß die Urteile, welche hier auf diese Art laut werden, dumm sein müßten. Das Weglassen aller Begründung und Logizität, ein Ja oder Nein in der Reduktion auf ein leidenschaftliches Haben-wollen oder Wegstoßen, eine imperativische Abkürzung, deren Nützlichkeit unverkennbar ist: das ist Lust und Unlust. Ihr Ursprung ist in der Zentral-Sphäre des Intellekts; ihre Voraussetzung ist ein unendlich beschleunigtes Wahrnehmen, Ordnen, Subsumieren, Nachrechnen, Folgern: Lust und Unlust sind immer Schlußphänomene, keine »Ursachen«.

Die Entscheidung darüber, was Unlust und Lust erregen soll, ist vom Grade der Macht abhängig: dasselbe, was in Hinsicht auf ein geringes Quantum Macht als Gefahr und Nötigung zu schnellster Abwehr erscheint, kann bei einem Bewußtsein größerer Machtfülle eine wollüstige Reizung, ein Lustgefühl als Folge haben.

Alle Lust- und Unlustgefühle setzen bereits ein Messen nach Gesamt-Nützlichkeit, Gesamt-Schädlichkeit voraus: also eine Sphäre, wo das Wollen eines Ziels (Zustandes) und ein Auswählen der Mittel dazu stattfindet. Lust und Unlust sind niemals »ursprüngliche Tatsachen«.

Lust- und Unlustgefühle sind Willens-Reaktionen (Affekte), in denen das intellektuelle Zentrum den Wert gewisser eingetretener Veränderungen zum Gesamtwert fixiert, zugleich als Einleitung von Gegenaktionen.

[669]


[683] Vom Wert des »Werdens«. – Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie und wissenschaftliche Hypothese (z. B. der Mechanismus), in der ein solcher notwendig wird, ist durch jenes Grundfaktum widerlegt.

Ich suche ein Weltkonzeption, welche dieser Tatsache gerecht wird. Das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen: das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwertbar: was auf eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden. Die »Notwendigkeit« nicht in Gestalt einer übergreifenden, beherrschenden Gesamtgewalt, oder eines ersten Motors; noch weniger als notwendig, um etwas Wertvolles zu bedingen. Dazu ist nötig, ein Gesamtbewußtsein des Werdens, einen »Gott«, zu leugnen, um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen: »Gott« ist nutzlos, wenn er nicht etwas will, und andrerseits ist damit eine Summierung von Unlust und Unlogik gesetzt, welche den Gesamtwert des »Werdens« erniedrigen würde: glücklicherweise fehlt gerade eine solche summierende Macht (– ein leidender und überschauender Gott, ein »Gesamtsensorium« und »Allgeist« wäre der größte Einwand gegen das Sein).

Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zu lassen – weil dann das Werden seinen Wert verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint.

Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen können (müssen);

insgleichen: wie alle Werturteile, welche auf der Hypothese ruhen, daß es Seiendes gebe, entwertet sind.

Damit aber erkennt man, daß diese Hypothese des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist (– die »bessere Welt«, die »wahre Welt«, die »jenseitige Welt«, das »Ding an sich«).

  • 1. Das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein »Sein«.

  • 2. Das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt ein Schein.

  • [684] 3. Das Werden ist wertgleich in jedem Augenblick: die Summe seines Wertes bleibt sich gleich; anders ausgedrückt: es hat gar keinen Wert, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre und in bezug worauf das Wort »Wert« Sinn hätte. Der Gesamtwert der Welt ist unabwertbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus unter die komischen Dinge.

[708]


Der Gesichtspunkt des »Werts« ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens.

Es gibt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist »das Seiende« erst von uns hineingelegt (aus praktischen, nützlichen, perspektivischen Gründen).

»Herrschaftsgebilde«; die Sphäre des Beherrschenden fortwährend wachsend oder unter der Gunst und Ungunst der Umstände (der Ernährung –) periodisch abnehmend, zunehmend.

»Wert« ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Zentren (»Vielheiten« jedenfalls; aber die »Einheit« ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden).

Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das »Werden« auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung, beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von »Dingen« usw. zu setzen. Relativ dürfen wir von Atomen und Monaden reden: und gewiß ist, daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist... Es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.

[715]


»Die Summe der Unlust überwiegt die Summe der Lust: folglich wäre das Nichtsein der Welt besser, als deren Sein« – »Die Welt ist etwas, das vernünftigerweise nicht wäre, weil sie dem empfindenden Subjekt mehr Unlust als Lust verursacht« – dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus!

Lust und Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werturteile zweiten Ranges, die sich erst ableiten von einem regierenden Wert – ein in Form des Gefühls redendes »nützlich«, »schädlich« und folglich absolut flüchtig und abhängig. Denn bei jedem »nützlich«,[685] »schädlich« sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen. Ich verachte diesen Pessimismus der Sensibilität: er ist selbst ein Zeichen tiefer Verarmung an Leben.

[701]


Sich selbst nicht zu erkennen: Klugheit des Idealisten. Der Idealist: ein Wesen, welches Gründe hat, über sich dunkel zu bleiben, und das klug genug ist, sich auch über diese Gründe noch dunkel zu bleiben.

[344]


Man soll es dem Christentum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal zugrunde gerichtet hat. Man soll nie aufhören, eben dies am Christentum zu bekämpfen, daß es den Willen dazu hat, gerade die stärksten und vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Man soll sich nie Frieden geben, solange dies eine noch nicht in Grund und Boden zerstört ist: das Ideal vom Menschen, welches vom Christentum erfunden worden ist, seine Forderungen an den Menschen, sein Nein und sein Ja in Hinsicht auf den Menschen. Der ganze absurde Rest von christlicher Fabel, Begriffs-Spinneweberei und Theologie geht uns nichts an; er könnte noch tausendmal absurder sein, und wir würden nicht einen Finger gegen ihn aufheben. Aber jenes Ideal bekämpfen wir, das mit seiner krankhaften Schönheit und Weibs- Verführung, mit seiner heimlichen Verleumder-Beredsamkeit allen Feigheiten und Eitelkeiten müdgewordner Seelen zuredet – und die Stärksten haben müde Stunden –, wie als ob alles das, was in solchen Zuständen am nützlichsten und wünschbarsten scheinen mag, Vertrauen, Arglosigkeit, Anspruchslosigkeit, Geduld, Liebe zu seinesgleichen, Ergebung, Hingebung an Gott, eine Art Abschirrung und Abdankung seines ganzen Ichs, auch an sich das Nützlichste und Wünschbarste sei; wie als ob die kleine bescheidene Mißgeburt von Seele, das tugendhafte Durchschnittstier und Herdenschaf Mensch nicht nur den Vorrang vor der stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren und darum hundertfachgefährdeteren Art Mensch habe, sondern geradezu für den Menschen überhaupt das Ideal, das Ziel, das Maß, die höchste Wünschbarkeit abgebe. Diese Aufrichtung eines Ideals war bis her die unheimlichste Versuchung, welcher der Mensch ausgesetzt war: denn mit ihm drohte den stärker geratenen Ausnahmen und Glücksfällen von Mensch, in denen der[686] Wille zur Macht und zum Wachstum des ganzen Typus Mensch einen Schritt vorwärts tut, der Untergang; mit seinen Werten sollte das Wachstum jener Mehr-Menschen an der Wurzel angegraben werden, welche um ihrer höheren Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben (ökonomisch ausgedrückt: Steigerung der Unternehmer-Kosten ebenso sehr wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens) in den Kauf nehmen. Was wir am Christentum bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Mut entmutigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnot verkehren will, daß es die vornehmen Instinkte giftig und krankzumachen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selber kehrt – bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zugrunde gehen: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes Beispiel Pascal abgibt.

[252]


Vom Ideal des Moralisten. – Dieser Traktat handelt von der großen Politik der Tugend. Wir haben ihn denen zum Nutzen bestimmt, welchen daran liegen muß, zu lernen, nicht wie man tugendhaft wird, sondern wie man tugendhaft macht – wie man die Tugend zur Herrschaft bringt. Ich will sogar beweisen, daß, um dies eine zu wollen – die Herrschaft der Tugend – man grundsätzlich das andere nicht wollen darf; eben damit verzichtet man darauf, tugendhaft zu werden. Dies Opfer ist groß: aber ein solches Ziel lohnt vielleicht solch ein Opfer. Und selbst noch größere!... Und einige von den berühmtesten Moralisten haben so viel riskiert. Von diesen nämlich wurde bereits die Wahrheit erkannt und vorweggenommen, welche mit diesem Traktat zum ersten Male gelehrt werden soll: daß man die Herrschaft der Tugend schlechterdings nur durch dieselben Mittel erreichen kann, mit denen man überhaupt eine Herrschaft erreicht, jedenfalls nicht durch die Tugend...

Dieser Traktat handelt, wie gesagt, von der Politik der Tugend: er setzt ein Ideal dieser Politik an, er beschreibt sie so, wie sie sein müßte, wenn etwas auf dieser Erde vollkommen sein könnte. Nun wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was der Typus der Vollkommenheit in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der Macchiavellismus, [687] pur, sans mélange, cru, vert, dans toute sa force, dans toute son âpreté ist übermenschlich, göttlich, transzendent, er wird von Menschen nie erreicht, höchstens gestreift. Auch in dieser engeren Art von Politik, in der Politik der Tugend, scheint das Ideal nie erreicht worden zu sein. Auch Plato hat es nur gestreift. Man entdeckt, gesetzt daß man Augen für versteckte Dinge hat, selbst noch an den unbefangensten und bewußtesten Moralisten (und das ist ja der Name für solche Politiker der Moral, für jede Art Begründer neuer Moral-Gewalten) Spuren davon, daß auch sie der menschlichen Schwäche ihren Tribut gezollt haben. Sie alle aspirierten, zum mindesten in ihrer Ermüdung, auch für sich selbst zur Tugend: erster und kapitaler Fehler eines Moralisten – als welcher Immoralist der Tat zu sein hat. Daß er gerade das nicht scheinen darf, ist eine andere Sache. Oder vielmehr, es ist nicht eine andere Sache: es gehört eine solche grundsätzliche Selbstverleugnung (moralisch ausgedrückt, Verstellung) mit hinein in den Kanon des Moralisten und seiner eigensten Pflichtenlehre: ohne sie wird er niemals zu seiner Art Vollkommenheit gelangen. Freiheit von der Moral, auch von der Wahrheit, um jenes Zieles willen, das jedes Opfer aufwiegt: um der Herrschaft der Moral willen – so lautet jener Kanon. Die Moralisten haben die Attitüde der Tugend nötig, auch die Attitüde der Wahrheit; ihr Fehler beginnt erst, wo sie der Tugend nachgeben, wo sie die Herrschaft über die Tugend verlieren, wo sie selbst moralisch werden, wahr werden. Ein großer Moralist ist, unter anderem, notwendig auch ein großer Schauspieler; seine Gefahr ist, daß seine Verstellung unversehens Natur wird, wie es sein Ideal ist, sein esse und sein operari auf eine göttliche Weise auseinanderzuhalten; alles, was er tut, muß er sub specie boni tun – ein hohes, fernes, anspruchsvolles Ideal! Ein göttliches Ideal! Und in der Tat geht die Rede, daß der Moralist damit kein geringeres Vorbild nachahmt, als Gott selbst: Gott, diesen größten Immoralisten der Tat, den es gibt, der aber nichtsdestoweniger zu bleiben versteht, was er ist, der gute Gott...

[304]


Mit der Tugend selbst gründet man nicht die Herrschaft der Tugend; mit der Tugend selbst verzichtet man auf Macht, verliert den Willen zur Macht.

[305]
[688]

Die »wahre Welt«, wie immer auch man sie bisher konzipiert hat – sie war immer die scheinbare Welt noch einmal.

[566]


Wenn der Charakter des Daseins falsch sein sollte – das wäre nämlich möglich –, was wäre dann die Wahrheit, alle unsere Wahrheit? ... Eine gewissenlose Umfälschung des Falschen? Eine höhere Potenz des Falschen?...

[542]


Daß man sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre aufs Spiel setzt, das ist die Folge des Übermutes und eines überströmenden, verschwenderischen Willens: nicht aus Menschenliebe, sondern weil jede große Gefahr unsre Neugierde in bezug auf das Maß unsrer Kraft, unsres Mutes herausfordert.

[949]


Aus dem Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften, die beständig in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert sich. Auch das ist »Pessimismus«... Eine Lehre, die einem solchen Zustand ein Ende macht, indem sie irgend etwas befiehlt: eine Umwertung der Werte, vermöge deren den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird, so daß sie in Blitzen und Taten explodieren – braucht durchaus keine Glückslehre zu sein: indem sie Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt sie Glück.

[1022]


Über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist; der Rest ist Feigheit.

[858]


Die Geschlechtlichkeit, die Herrschsucht, die Lust am Schein und am Betrügen, die große freudige Dankbarkeit für das Leben und seine typischen Zustände – das ist am heidnischen Kultus wesentlich und hat das gute Gewissen auf seiner Seite. – Die Unnatur (schon im griechischen Altertum) kämpft gegen das Heidnische an, als Moral, Dialektik.

[1047]
[689]

Ist man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das, was war, und das, was wird – man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts Seiendes gibt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als seine »Welt«.

[570]


Gesamt-Anblick des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzeß neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach – ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos. Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben? Eine solche mit klassischem Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Mut zur psychologischen Nacktheit (– die Vereinfachung ist eine Konsequenz des Willens zur Verstärkung; das Sichtbar-werdenlassen des Glücks, insgleichen der Nacktheit, eine Konsequenz des Willens zur Furchtbarkeit...). Um sich aus jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen – dazu bedarf es einer Nötigung: man muß die Wahl haben, entweder zugrunde zu gehn oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts? Offenbarwerden sie erst nach ungeheuren sozialistischen Krisen sichtbar werden und sich konsolidieren – es werden die Elemente sein, die der größten Härte gegen sich selber fähig sind, und den längsten Willen garantieren können.

[868]


Man kann das, was die Ursache dafür ist, daß es überhaupt Entwicklung gibt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als »werdend« verstehn wollen, noch weniger als geworden... Der »Wille zur Macht« kann nicht geworden sein.

[690]


Eine Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie alles so, wie es gehen sollte, auch wirklich geht: wie jede Art »Unvollkommenheit« und das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit gehört.

[1004]
[690]

Menschen, die Schicksale sind, die, indem sie sich tragen, Schicksale tragen, die ganze Art der heroischen Lastträger: o wie gerne möchten sie einmal von sich selber ausruhn! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken, um für Stunden wenigstens loszuwerden, was sie drückt! Und wie umsonst dürsten sie! ... Sie warten; sie sehen sich alles an, was vorübergeht: niemand kommt ihnen auch nur mit dem Tausendstel Leiden und Leidenschaft entgegen, niemand errät, inwiefern sie warten... Endlich, endlich lernen sie ihre erste Lebensklugheit – nicht mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre zweite: leutselig zu sein, bescheiden zu sein, von nun an jedermann zu ertragen, jederlei zu ertragen – kurz, noch ein wenig mehr zu ertragen, als sie bisher schon getragen haben.

[971]


Bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig: so wollt ihr den Menschen? den guten Menschen? Aber mich dünkt das nur der ideale Sklave, der Sklave der Zukunft.

[356]


Der ideale Sklave (der »gute Mensch«). – Wer sich nicht als »Zweck« ansetzen kann, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, der gibt der Moral der Entselbstung die Ehre – instinktiv. Zu ihr überredet ihn alles: seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Und auch der Glaube ist eine Entselbstung.

[358a]


Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler »Form« nennen, als Inhalt, als »die Sache selbst« empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem – unser Leben eingerechnet.

[818]


Die Kunst in der »Geburt der Tragödie«

I

Die Konzeption des Werks, auf welche man in dem Hintergrunde dieses Buches stößt, ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher bekannt gewordnen Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne[691] Sinn... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt. Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese »Wahrheit« zum Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben... Daß die Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins.

Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft – sie werden in diesem Buche nur als verschiedne Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hilfe wird ans Leben geglaubt. »Das Leben soll Vertrauen einflößen«: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr als alles andere Künstler sein. Und er ist es auch: Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft – alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der »Wahrheit«, zur Verneinung der »Wahrheit«. Das Vermögen selbst, dank dem er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen des Menschen par excellence – er hat es noch mit allem, was ist, gemein. Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht auch ein Stück Genie der Lüge sein!

Daß der Charakter des Daseins verkannt werde – tiefste und höchste Geheim-Absicht hinter allem, was Tugend, Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlertum ist. Vieles niemals sehn, vieles falsch sehn, vieles hinzusehn: o wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich für klug zu halten! Die Liebe, die Begeisterung, »Gott« – lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter Glaube an das Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrognen ward, wo er sich überlistet hat, wo er ans Leben glaubt: o wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken! Welches Gefühl von Macht! Wieviel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht!... Der Mensch ward wieder einmal Herr über den »Stoff« – Herr über die Wahrheit!... Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht...


II

Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.[692]

Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.

Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehen will, des Tragisch-Erkennenden.

Die Kunst als die Erlösung des Handelnden – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden.

Die Kunst als die Erlösung des Leidenden – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.


III

Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die »Wahrheit« gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Wertmaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektivierten Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, »metaphysischer« als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Schein – letzterer ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine Folgeerscheinung des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, d. h. zum Schaffen: im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet). Es wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins konzipiert, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.


IV

Dies Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinne, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das »göttlicher« ist als die Wahrheit: die Kunst. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neintun noch mehr als einem Neinsagen zum Leben ernstlicher das Wort reden, als der Verfasser dieses Buches. Nur weiß er – er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts anderes erlebt! – daß die Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit.[693]

In der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräche eingeladen wird, erscheint dies Glaubensbekenntnis, dies Artisten-Evangelium: »die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit...«

[853] [694]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 634-695.
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