[696] Die Juden machen den Versuch, sich durchzusetzen, nachdem ihnen zwei Kasten, die der Krieger und die der Ackerbauer, verlorengegangen sind;
sie sind in diesem Sinne die »Verschnittenen«: sie haben den Priester – und dann sofort den Tschandala...
Wie billig kommt es bei ihnen zu einem Bruch, zu einem Aufstand des Tschandala: der Ursprung des Christentums.
Damit, daß sie den Krieger nur als ihren Herrn kannten, brachten sie in ihre Religion die Feindschaft gegen den Vornehmen, gegen den Edlen, Stolzen, gegen die Macht, gegen die herrschenden Stände –: sie sind Entrüstungs-Pessimisten....
Damit schufen sie eine wichtige neue Position: der Priester an der Spitze der Tschandalas, – gegen die vornehmen Stände...
Das Christentum zog die letzte Konsequenz dieser Bewegung: auch im jüdischen Priestertum empfand es noch die Kaste, den Privilegierten, den Vornehmen – es strich den Priester aus –
Der Christ ist der Tschandala, der den Priester ablehnt ... der Tschandala, der sich selbst erlöst...
Deshalb ist die französische Revolution die Tochter und Fortsetzerin des Christentums... sie hat den Instinkt gegen die Kaste, gegen die Vornehmen, gegen die letzten Privilegien – –
[184]
Schwäche des Willens: das ist ein Gleichnis, das irreführen kann. Denn es gibt keinen Willen, und folglich weder einen starken, noch schwachen Willen. Die Vielheit und Disgregation der Antriebe, der Mangel an System unter ihnen resultiert als »schwacher Wille«; die Koordination derselben unter der Vorherrschaft eines einzelnen resultiert als »starker Wille«-im erstern Falle ist es das Oszillieren und der Mangel an Schwergewicht; im letztern die Präzision und Klarheit der Richtung.
[46]
[696]
Neue Rangordnung der Geister: nicht mehr die tragischen Naturen voran.
[992]
Weshalb alles Schauspielerei wird. – Dem modernen Menschen fehlt: der sichere Instinkt (Folge einer langen gleichartigen Tätigkeitsform einer Art Mensch); die Unfähigkeit, etwas Vollkommnes zu leisten, ist bloß die Folge davon – man kann als einzelner die Schule nie nachholen.
Das, was eine Moral, ein Gesetzbuch schafft: der tiefe Instinkt dafür, daß erst der Automatismus die Vollkommenheit möglich macht in Leben und Schaffen.
Aber jetzt haben wir den entgegengesetzten Punkt erreicht, ja, wir haben ihn erreichen gewollt – die extremste Bewußtheit, die Selbstdurchschauung des Menschen und der Geschichte – damit sind wir praktisch am fernsten von der Vollkommenheit in Sein, Tun und Wollen: unsere Begierde, unser Wille selbst zur Erkenntnis ist ein Symptom einer ungeheuren décadence. Wir streben nach dem Gegenteil von dem, was starke Rassen, starke Naturen wollen – das Begreifen ist ein Ende...
Daß Wissenschaft möglich ist in diesem Sinne, wie sie heute geübt wird, ist der Beweis dafür, daß alle elementaren Instinkte, Notwehr– und Schutz-Instinkte des Lebens nicht mehr fungieren. Wir sammeln nicht mehr, wir verschwenden die Kapitalien der Vorfahren, auch noch in der Art, wie wir erkennen –.
[68]
Ich wollte, man finge damit an, sich selbst zu achten: alles andere folgt daraus. Freilich hört man eben damit für die andern auf: denn das gerade verzeihen sie am letzten. »Wie? Ein Mensch, der sich selbst achtet?« –
Das ist etwas anderes als der blinde Trieb, sich selbst zu lieben: Nichts ist gewöhnlicher, in der Liebe der Geschlechter wie in der Zweiheit, welche »Ich« genannt wird, als Verachtung gegen das, was man liebt – der Fatalismus in der Liebe.
[919]
Die Zeiten, wo man mit Lohn und Strafe den Menschen lenkt, haben eine niedere, noch primitive Art Mensch im Auge: das ist wie bei Kindern...[697]
Inmitten unsrer späten Kultur ist die Fatalität und die Degenereszenz etwas, das vollkommen den Sinn von Lohn und Strafe aufhebt ... Es setzt junge, starke, kräftige Rassen voraus, dieses wirkliche Bestimmen der Handlung durch Lohn- und Straf-Aussicht. In alten Rassen sind die Impulse so unwiderstehlich, daß eine bloße Vorstellung ganz ohnmächtig ist; – nicht Widerstand leisten können, wo ein Reiz gegeben ist, sondern ihm folgen müssen: diese extreme Irritabilität der décadents macht solche Straf- und Besserungs-Systeme vollkommen sinnlos.
Der Begriff »Besserung« ruht auf der Voraussetzung eines normalen und starken Menschen, dessen Einzel-Handlung irgendwie wieder ausgeglichen werden soll, um ihn nicht für die Gemeinde zu verlieren, um ihn nicht als Feind zu haben.
[737]
Man redet heute viel von dem semitischen Geist des Neuen Testaments: aber was man so nennt, ist bloß priesterlich – und im arischen Gesetzbuch reinster Rasse, im Manu, ist diese Art »Semitismus«, d. h. Priester-Geist, schlimmer als irgendwo.
Die Entwicklung des jüdischen Priesterstaates ist nicht original: sie haben das Schema in Babylon kennen gelernt: das Schema ist arisch. Wenn dasselbe später wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Blutes, in Europa dominierte, so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen Kasten-Ordnung aus.
Der Mohammedanismus hat wiederum vom Christentum gelernt: die Benutzung des »Jenseits« als Straf-Organ.
Das Schema eines unveränderlichen Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze – dieses älteste große Kultur-Produkt Asiens im Gebiete der Organisation – muß natürlich in jeder Beziehung zum Nachdenken und Nachmachen aufgefordert haben. – Noch Plato: aber vor allen die Ägypter.
[143]
Grundsatz: nur Einzelne fühlen sich verantwortlich. Die Vielheiten sind erfunden, um Dinge zu tun, zu denen der Einzelne nicht den Mut hat. Eben deshalb sind alle Gemeinwesen, Gesellschaften hundertmal[698] aufrichtiger und belehrender über das Wesen des Menschen als das Individuum, welches zu schwach ist, um den Mut zu seinen Begierden zu haben...
Der ganze »Altruismus« ergibt sich als Privatmann-Klugheit: die Gesellschaften sind nicht »altruistisch« gegeneinander... Das Gebot der Nächstenliebe ist noch niemals zu einem Gebot der Nachbar- Liebe erweitert worden. Vielmehr gilt da noch, was bei Manu steht: »Alle uns angrenzenden Reiche, ebenso deren Verbündete, müssen wir als uns feindlich denken. Aus demselben Grunde hinwiederum müssen uns deren Nachbarn als uns freundlich gesinnt gelten.«
Das Studium der Gesellschaft ist deshalb so unschätzbar, weil der Mensch als Gesellschaft viel naiver ist als der Mensch als »Einheit«. Die »Gesellschaft« hat die Tugend nie anders angesehen als als Mittel der Stärke, der Macht, der Ordnung.
Wie einfältig und würdig sagt es Manu: »Aus eigner Kraft würde die Tugend sich schwerlich behaupten können. Im Grunde ist es nur die Furcht vor Strafe, was die Menschen in Schranken hält und jeden im ruhigen Besitz des Seinen läßt.«
[716]
»Lohn und Strafe.« – Das lebt miteinander, das verfällt miteinander. Heute will man nicht belohnt sein, man will niemanden anerkennen, der straft... Man hat den Kriegsfuß hergestellt: man will etwas, man hat Gegner dabei, man erreicht es vielleicht am vernünftigsten, wenn man sich verträgt – wenn man einen Vertrag macht.
Eine moderne Gesellschaft, bei der jeder einzelne seinen »Vertrag« gemacht hat – der Verbrecher ist ein Vertragsbrüchiger... Das wäre ein klarer Begriff. Aber dann könnte man nicht Anarchisten und prinzipielle Gegner einer Gesellschaftsform innerhalb derselben dulden...
[739]
Der Priester will durchsetzen, daß er als höchster Typus des Menschen gilt, daß er herrscht, – auch noch über die, welche die Macht in den Händen haben, daß er unverletzlich ist, unangreifbar –, daß er die stärkste Macht in der Gemeinde ist, absolut nicht zu ersetzen und zu unterschätzen.
Mittel: er allein ist der Wissende; er allein ist der Tugendhafte; er allein hat die höchste Herrschaft über sich; er allein ist in einem gewissen Sinne[699] Gott und geht zurück in die Gottheit; er allein ist die Zwischenperson zwischen Gott und den andern; die Gottheit straft jeden Nachteil, jeden Gedanken wider einen Priester gerichtet.
Mittel: die Wahrheit existiert. Es gibt nur eine Form, sie zu erlangen: Priester werden. Alles, was gut ist, in der Ordnung, in der Natur, in dem Herkommen, geht auf die Weisheit der Priester zurück. Das Heilige Buch ist ihr Werk. Die ganze Natur ist nur eine Ausführung der Satzungen darin. Es gibt keine andere Quelle des Guten als den Priester. Alle andere Art von Vortrefflichkeit ist rangverschieden von der des Priesters, z. B. die des Kriegers.
Konsequenz: wenn der Priester der höchste Typus sein soll, so muß die Gradation zu seinen Tugenden die Wertgradation der Menschen ausmachen. Das Studium, die Entsinnlichung, das Nicht-Aktive, das Impassible, Affektlose, das Feierliche; – Gegensatz: die tiefste Gattung Mensch.
Der Priester hat eine Art Moral gelehrt: um selbst als höchster Typus empfunden zu werden. Er konzipiert einen Gegensatz-Typus: den Tschandala. Diesen mit allen Mitteln verächtlich zu machen, gibt die Folie ab für die Kasten-Ordnung. – Die extreme Angst des Priesters vor der Sinnlichkeit ist zugleich bedingt durch die Einsicht, daß hier die Kasten-Ordnung (das heißt die Ordnung überhaupt) am schlimmsten bedroht ist... Jede »freiere Tendenz« in puncto puncti wirft die Ehegesetzgebung über den Haufen –
[139]
Es gehört zum Begriff des Lebendigen, daß es wachsen muß – daß es seine Macht erweitern und folglich fremde Kräfte in sich hineinnehmen muß. Man redet, unter der Benebelung durch die Moral-Narkose, von einem Recht des Individuums, sich zu verteidigen; im gleichen Sinne dürfte man auch von seinem Rechte anzugreifen reden: denn beides – und das zweite noch mehr als das erste – sind Nezessitäten für jedes Lebendige – der aggressive und der defensive Egoismus sind nicht Sache der Wahl oder gar des »freien Willens«, sondern die Fatalität des Lebens selbst.
Hierbei gilt es gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen Körper, eine aufwärtsstrebende »Gesellschaft« ins Auge faßt. Das Recht zur Strafe (oder die gesellschaftliche Selbstverteidigung) ist im Grunde nur durch einen Mißbrauch zum Worte »Recht« gelangt:[700] ein Recht wird durch Verträge erworben – aber das Sich-wehren und Sich-verteidigen ruht nicht auf der Basis eines Vertrags. Wenigstens dürfte ein Volk mit ebensoviel gutem Sinn sein Eroberungsbedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waffen, sei es durch Handel, Verkehr und Kolonisation, als Recht bezeichnen – Wachstums-Recht etwa. Eine Gesellschaft, die, endgültig und ihrem Instinkt nach, den Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie und Krämerregiment... In den meisten Fällen freilich sind die Friedensversicherungen bloße Betäubungsmittel.
[728]
Im alten Strafrecht war ein religiöser Begriff mächtig: der der sühnenden Kraft der Strafe. Die Strafe reinigt: in der modernen Welt befleckt sie. Die Strafe ist eine Abzahlung: man ist wirklich das los, für was man so viel hat leiden wollen. Gesetzt, daß an diese Kraft der Strafe geglaubt wird, so gibt es hinterdrein eine Erleichterung und ein Aufatmen, das wirklich einer neuen Gesundheit, einer Wiederherstellung nahekommt. Man hat nicht nur seinen Frieden wieder mit der Gesellschaft gemacht, man ist vor sich selbst auch wieder achtungswürdig geworden – »rein«... Heute isoliert die Strafe noch mehr als das Vergehen; das Verhängnis hinter einem Vergehen ist dergestalt gewachsen, daß es unheilbar geworden ist. Man kommt als Feind der Gesellschaft aus der Strafe heraus. Von jetzt abgibt es einen Feind mehr.
Das jus talionis kann diktiert sein durch den Geist der Vergeltung (d. h. durch eine Art Mäßigung des Rache-Instinktes); aber bei Manu z. B. ist es das Bedürfnis, ein Äquivalent zu haben, um zu sühnen, um religiös wieder »frei« zu sein.
[742]
Wie eine ja-sagende arische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Manus. (Die Vergöttlichung des Machtgefühls im Brahmanen: interessant, daß es in der Krieger-Kaste entstanden und erst übergegangen ist auf die Priester.)
[145a]
Der Philosoph gegen die Rivalen, z. B. gegen die Wissenschaft: da wird er Skeptiker; da behält er sich eine Form der Erkenntnis vor, die er dem wissenschaftlichen Menschen abstreitet; da geht er mit dem Priester Hand in Hand, um nicht den Verdacht des Atheismus,[701] Materialismus zu erregen; er betrachtet einen Angriff auf sich als einen Angriff auf die Moral, die Tugend, die Religion, die Ordnung – er weiß seine Gegner als »Verführer« und »Unterminierer« in Verruf zu bringen: da geht er mit der Macht Hand in Hand.
Der Philosoph im Kampf mit andern Philosophen: – er sucht sie dahin zu drängen, als Anarchisten, Ungläubige, Gegner der Autorität zu erscheinen. In summa: soweit er kämpft, kämpft er ganz wie ein Priester, wie eine Priesterschaft.
[447]
Der Philosoph als Weiter-Entwicklung des priesterlichen Typus: – hat dessen Erbschaft im Leibe; – ist, selbst noch als Rivale, genötigt, um dasselbe mit denselben Mitteln zu ringen wie der Priester seiner Zeit; – er aspiriert zur höchsten Autorität.
Was gibt Autorität, wenn man nicht die physische Macht in den Händen hat (keine Heere, keine Waffen überhaupt...)? Wie gewinnt man namentlich die Autorität über die, welche die physische Gewalt und die Autorität besitzen? (Sie konkurrieren mit der Ehrfurcht vor dem Fürsten, vor dem siegreichen Eroberer, dem weisen Staatsmann.)
Nur indem sie den Glauben erwecken, eine höhere stärkere Gewalt in den Händen zu haben – Gott –. Es ist nichts stark genug: man hat die Vermittlung und die Dienste der Priester nötig. Sie stellen sich als unentbehrlich dazwischen: sie haben als Existenzbedingung nötig: 1. daß an die absolute Überlegenheit ihres Gottes, daß an ihren Gott geglaubt wird, 2. daß es keine andern, keine direkten Zugänge zu Gott gibt. Die zweite Forderung allein schafft den Begriff der »Heterodoxie«; die erste den des »Ungläubigen« (d. h. der an einen andern Gott glaubt–).
[140]
Was ist denn am Philosophen rückständig? – Daß er seine Qualitäten als notwendige und einzige Qualitäten lehrt, um zum »höchsten Gut« zu gelangen (z. B. Dialektik, wie Plato). Daß er alle Arten Mensch gradatim aufsteigen läßt zu seinem Typus als dem höchsten. Daß er geringschätzt, was sonst geschätzt wird, – daß er eine Kluft aufreißt zwischen den obersten priesterlichen Werten und den weltlichen. Daß er weiß, was wahr ist, was Gott ist, was das Ziel ist, was der Weg ist... Der typische Philosoph ist hier absolut Dogmatiker; – wenn er Skepsis nötig hat, so ist es, um von seiner Hauptsache dogmatisch reden zu dürfen.
[446]
[702] Die neue Welt-Konzeption. – Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehn – sie erhält sich in beidem... Sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.
Die Hypothese einer geschaffenen Welt soll uns nicht einen Augenblick bekümmern. Der Begriff »schaffen« ist heute vollkommen undefinierbar, unvollziehbar; bloß ein Wort noch, rudimentär aus Zeiten des Aberglaubens; mit einem Wort erklärt man nichts. Der letzte Versuch, eine Welt, die anfängt, zu konzipieren, ist neuerdings mehrfach mit Hilfe einer logischen Prozedur gemacht worden – zumeist, wie zu erraten ist, aus einer theologischen Hinterabsicht.
Man hat neuerdings mehrfach in dem Begriff »Zeit- Unendlichkeit der Welt nach hinten« (regressus in infinitum) einen Widerspruch finden wollen: man hat ihn selbst gefunden, um den Preis freilich, dabei den Kopf mit dem Schwanz zu verwechseln. Nichts kann mich hindern, von diesem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen »ich werde nie dabei an ein Ende kommen«: wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus. Erst wenn ich den Fehler machen wollte – ich werde mich hüten, es zu tun –, diesen korrekten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines endlichen progressus bis jetzt, erst wenn ich die Richtung (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent setzte, würde ich den Kopf – diesen Augenblick – als Schwanz zu fassen bekommen: das bleibe Ihnen überlassen, mein Herr Dühring!...
Ich bin auf diesen Gedanken bei früheren Denkern gestoßen: jedesmal war er durch andre Hintergedanken bestimmt (– meistens theologische, zugunsten des creator spiritus). Wenn die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, Nichts werden könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand erreichen könnte, oder wenn sie überhaupt irgendein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn das Werden in das Sein oder ins Nichts münden könnte), so müßte dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt... Das ist unsre einzige Gewißheit, die wir in den Händen halten, um als[703] Korrektiv gegen eine große Menge an sich möglicher Welt-Hypothesen zu dienen. Kann z. B. der Mechanismus der Konsequenz eines Finalzustandes nicht entgehen, welche William Thomson ihm gezogen hat, so ist damit der Mechanismus widerlegt.
Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftzentren gedacht werden darf – und jede andre Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich unbrauchbar –, so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Kombinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Kombination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch: sie würde unendliche Male erreicht sein. Und da zwischen jeder Kombination und ihrer nächsten Wiederkehr alle überhaupt noch möglichen Kombinationen abgelaufen sein müßten und jede dieser Kombinationen die ganze Folge der Kombinationen in derselben Reihe bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt als Kreislauf, der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt. – Diese Konzeption ist nicht ohne weiteres eine mechanistische: denn wäre sie das, so würde sie nicht eine unendliche Wiederkehr identischer Fälle bedingen, sondern einen Finalzustand. Weil die Welt ihn nicht erreicht hat, muß der Mechanismus uns als unvollkommne und nur vorläufige Hypothese gelten.
[1066]
Es gibt nichts Unveränderliches in der Chemie: das ist nur Schein, ein bloßes Schulvorurteil. Wir haben das Unveränderliche eingeschleppt, immer noch aus der Metaphysik, meine Herren Physiker. Es ist ganz naiv von der Oberfläche abgelesen, zu behaupten, daß der Diamant, der Graphit und die Kohle identisch sind. Warum? Bloß weil man keinen Substanz-Verlust durch die Waage konstatieren kann! Nun gut, damit haben sie noch etwas gemein; aber die Molekül-Arbeit bei der Verwandlung, die wir nicht sehen und wägen können, macht eben aus dem einen Stoff etwas andres – mit spezifisch anderen Eigenschaften.
[623]
Die Physiker glauben an eine »wahre Welt« auf ihre Art: eine feste, für alle Wesen gleiche Atom-Systematisation in notwendigen Bewegungen[704] – so daß für sie die »scheinbare Welt« sich reduziert auf die jedem Wesen nach seiner Art zugängliche Seite des allgemeinen und allgemein notwendigen Seins (zugänglich und auch noch zurechtgemacht – »subjektiv« ge macht). Aber damit verirren sie sich. Das Atom, das sie ansetzen, ist erschlossen nach der Logik jenes Bewußtseins-Perspektivismus – ist somit auch selbst eine subjektive Fiktion. Dieses Weltbild, das sie entwerfen, ist durchaus nicht wesensverschieden von dem Subjektiv-Weltbild: es ist nur mit weitergedachten Sinnen konstruiert, aber durchaus mit unsern Sinnen... Und zuletzt haben sie in der Konstellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den notwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftzentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet... Sie haben vergessen, diese Perspektiven-setzende Kraft in das »wahre Sein« einzurechnen – in der Schulsprache geredet: das Subjekt-sein. Sie meinen, dies sei »entwickelt«, hinzugekommen; – aber noch der Chemiker braucht es: es ist ja das Spezifisch-Sein, das bestimmt So-und-so-Agieren und -Reagieren, je nachdem.
Der Perspektivismus ist nur eine komplexe Form der Spezifität. Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper danach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (– sein Wille zur Macht:) und alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen andrer Körper und endet, sich mit denen zu arrangieren (»vereinigen«), welche ihm verwandt genug sind: – so konspirieren sie dann zusammen zur Macht. Und der Prozeß geht weiter...
[636]
Die scheinbare Welt, d. h. eine Welt, nach Werten angesehn; geordnet, ausgewählt nach Werten, d. h. in diesem Falle nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Macht- Steigerung einer bestimmten Gattung von Animal.
Das Perspektivische also gibt den Charakter der »Scheinbarkeit« ab! Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnet! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet!
Jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d. h. seine ganz bestimmte Wertung, seine Aktions-Art, seine Widerstands-Art.[705] Die »scheinbare Welt« reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Zentrum.
Nun gibt es gar keine andre Art Aktion: und die »Welt« ist nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktionen. Die Realität besteht exakt in dieser Partikular-Aktion und -Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze...
Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein zu reden...
Die spezifische Art zu reagieren ist die einzige Art des Reagierens: wir wissen nicht, wie viele und was für Arten es alles gibt.
Aber es gibt kein »anderes«, kein »wahres«, kein wesentliches Sein – damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt sein...
Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduziert sich auf den Gegensatz »Welt« und »Nichts« –
[567]
Daß der Wert einer Handlung von dem abhängen soll, was ihr im Bewußtsein vorausging – wie falsch ist das! – Und man hat die Moralität danach bemessen, selbst die Kriminalität...
Der Wert einer Handlung muß nach ihren Folgen bemessen werden – sagen die Utilitarier –: sie nach ihrer Herkunft zu messen, impliziert eine Unmöglichkeit, nämlich diese zu wissen.
Aber weiß man die Folgen? Fünf Schritt weit vielleicht. Wer kann sagen, was eine Handlung anregt, aufregt, wider sich erregt? Als Stimulans? Als Zündfunke vielleicht für einen Explosivstoff? ... Die Utilitarier sind naiv... Und zuletzt müßten wir erst wissen, was nützlich ist: auch hier geht ihr Blick nur fünf Schritt weit... Sie haben keinen Begriff von der großen Ökonomie, die des Übels nicht zu entraten weiß.
Man weiß die Herkunft nicht, man weiß die Folgen nicht – hat folglich eine Handlung überhaupt einen Wert ?
Bleibt die Handlung selbst: ihre Begleiterscheinungen im Bewußtsein, das Ja und das Nein, das ihrer Ausführung folgt: liegt der Wert einer Handlung in den subjektiven Begleiterscheinungen? (– das hieße den Wert der Musik nach dem Vergnügen oder Mißvergnügen abmessen, das sie uns macht ... das sie ihrem Komponisten macht...). Sichtlich begleiten sie Wertgefühle, ein Macht-, ein Zwang-, ein[706] Ohnmachtsgefühl z. B., die Freiheit, die Leichtigkeit, – anders gefragt: könnte man den Wert einer Handlung auf physiologische Werte reduzieren: ob sie ein Ausdruck des vollständigen oder gehemmten Lebens ist ? – Es mag sein, daß sich ihr biologischer Wert darin ausdrückt...
Wenn also die Handlung weder nach ihrer Herkunft, noch nach ihren Folgen, noch nach ihren Begleiterscheinungen abwertbar ist, so ist ihr Wert x, unbekannt...
[291]
Unsre heiligsten Überzeugungen, unser Unwandelbares in Hinsicht auf oberste Werte sind Urteile unsrer Muskeln.
[314]
Warum die Schwachen siegen. In summa: die Kranken und Schwachen haben mehr Mitgefühl, sind »menschlicher« –: die Kranken und Schwachen haben mehr Geist, sind wechselnder, vielfacher, unterhaltender – boshafter: die Kranken allein haben die Bosheit erfunden. (Eine krankhafte Frühreife häufig bei Rhachitischen, Skrophulosen und Tuberkulosen –.) Esprit: Eigentum später Rassen: Juden, Franzosen, Chinesen. (Die Antisemiten vergeben es den Juden nicht, daß die Juden »Geist« haben – und Geld. Die Antisemiten – ein Name der »Schlechtweggekommenen«.)
Die Kranken und Schwachen haben die Faszination für sich gehabt: sie sind interessanter als die Gesunden: der Narr und der Heilige – die zwei interessantesten Arten Mensch ... in enger Verwandtschaft das »Genie«. Die großen »Abenteurer und Verbrecher« und alle Menschen, die gesündesten voran, sind gewisse Zeiten ihres Lebens krank – die großen Gemütsbewegungen, die Leidenschaft der Macht, die Liebe, die Rache sind von tiefen Störungen begleitet. Und was die décadence betrifft, so stellt sie jeder Mensch, der nicht zu früh stirbt, in jedem Sinne beinahe dar, – er kennt also auch die Instinkte, welche zu ihr gehören, aus Erfahrung – für die Hälfte fast jedes Menschenlebens ist der Mensch décadent.
Endlich: das Weib! Die eine Hälfte der Mensch heit ist schwach, typisch-krank, wechselnd, unbeständig – das Weib braucht die Stärke, um sich an sie zu klammern, und eine Religion der Schwäche, welche es als göttlich verherrlicht, schwach zu sein, zu lieben, demütig zu sein –:[707] oder besser, es macht die Starken schwach – es herrscht, wenn es gelingt, die Starken zu überwältigen. Das Weib hat immer mit den Typen der décadence, den Priestern, zusammen konspiriert gegen die »Mächtigen«, die »Starken«, die Männer –. Das Weib bringt die Kinder beiseite für den Kultus der Pietät, des Mitleids, der Liebe – die Mutter repräsentiert den Altruismus überzeugend.
Endlich: die zunehmende Zivilisation, die zugleich notwendig auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Neurotisch-Psychiatrischen und des Kriminalistischen mit sich bringt. Eine Zwischen-Spezies entsteht, der Artist, von der Kriminalität der Tat durch Willensschwäche und soziale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend: diese spezifische Kulturpflanze, der moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem Romancier, der für seine Art, zu sein, das sehr uneigentliche Wort »Naturalismus« handhabt... Die Irren, die Verbrecher und die »Naturalisten« nehmen zu: Zeichen einer wachsenden und jäh vorwärts eilenden Kultur – d. h. der Ausschuß, der Abfall, die Auswurfstoffe gewinnen Importanz, – das Abwärts hält Schritt.
Endlich: der soziale Mischmasch, Folge der Revolution, der Herstellung gleicher Rechte, des Aberglaubens an »gleiche Menschen«. Dabei mischen sich die Träger der Niedergangs-Instinkte (des Ressentiments, der Unzufriedenheit, des Zerstörer-Triebes, des Anarchismus und Nihilismus), eingerechnet der Sklaven-Instinkte, der Feigheits-, Schlauheits- und Kanaillen-Instinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles Blut aller Stände hinein: zwei, drei Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr zu erkennen – alles ist verpöbelt. Hieraus resultiert ein Gesamtinstinkt gegen die Auswahl, gegen das Privilegium jeder Art, von einer Macht und Sicherheit, Härte, Grausamkeit der Praxis, daß in der Tat sich alsbald selbst die Privilegierten unterwerfen – was noch Macht festhalten will, schmeichelt dem Pöbel, arbeitet mit dem Pöbel, muß den Pöbel auf seiner Seite haben –, die »Genies« voran: sie werden Herolde der Gefühle, mit denen man Massen begeistert – die Note des Mitleids, der Ehrfurcht selbst vor allem, was leidend, niedrig, verachtet, verfolgt gelebt hat, klingt über alle andern Noten weg (Typen: Victor Hugo und Richard Wagner).[708] – Die Heraufkunft des Pöbels bedeutet noch einmal die Heraufkunft der alten Werte.
Bei einer solchen extremen Bewegung in Hinsicht auf Tempo und Mittel, wie sie unsre Zivilisation darstellt, verlegt sich das Schwergewicht der Menschen: der Menschen, auf die es am meisten ankommt, die es gleichsam auf sich haben, die ganze große Gefahr einer solchen krankhaften Bewegung zu kompensieren – es werden die Verzögerer par excellence, die Langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden, die Relativ-Dauerhaften inmitten dieses ungeheuren Wechselns und Mischens von Elementen sein. Das Schwergewicht fällt unter solchen Umständen notwendig den Mediokren zu: gegen die Herrschaft des Pöbels und der Exzentrischen (beide meist verbündet) konsolidiert sich die Mediokrität, als die Bürgschaft und Trägerin der Zukunft. Daraus erwächst für die Ausnahme-Menschen ein neuer Gegner – oder aber eine neue Verführung. Gesetzt, daß sie sich nicht dem Pöbel anpassen und dem Instinkte der »Enterbten« zu Gefallen Lieder singen, werden sie nötig haben, »mittelmäßig« und »gediegen« zu sein. Sie wissen: die mediocritas ist auch aurea – sie allein sogar verfügt über Geld und Gold (– über alles, was glänzt...) ... Und noch einmal gewinnt die alte Tugend, und überhaupt die ganze verlebte Welt des Ideals eine begabte Fürsprecherschaft... Resultat: die Mediokrität bekommt Geist, Witz, Genie – sie wird unterhaltend, sie verführt.
Resultat. – Eine hohe Kultur kann nur stehen auf einem breiten Boden, auf einer stark und gesund konsolidierten Mittelmäßigkeit. In ihrem Dienste und von ihr bedient arbeitet die Wissenschaft – und selbst die Kunst. Die Wissenschaft kann es sich nicht besser wünschen: sie gehört als solche zu einer mittleren Art Mensch – sie ist deplaziert unter Ausnahmen –, sie hat nichts Aristokratisches und noch weniger etwas Anarchistisches in ihren Instinkten. – Die Macht der Mitte wird sodann aufrecht gehalten durch den Handel, vor allem den Geldhandel: der Instinkt der Großfinanziers geht gegen alles Extreme – die Juden sind deshalb einstweilen die konservierendste Macht in unserm so bedrohten und unsicheren Europa. Sie können weder Revolutionen brauchen, noch Sozialismus, noch Militarismus: wenn sie Macht haben wollen und brauchen, auch über die revolutionäre Partei, so ist[709] dies nur eine Folge des Vorhergesagten und nicht im Widerspruch dazu. Sie haben nötig, gegen andere extreme Richtungen gelegentlich Furcht zu erregen – dadurch, daß sie zeigen, was alles in ihrer Hand steht. Aber ihr Instinkt selbst ist unwandelbar konservativ – und »mittelmäßig«... Sie wissen überall, wo es Macht gibt, mächtig zu sein: aber die Ausnützung ihrer Macht geht immer in einer Richtung. Das Ehren-Wort für mittelmäßig ist bekanntlich das Wort »liberal«.
Besinnung. – Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werte antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse des Lebens, zur Aufrechterhaltung des Typus »Mensch« selbst durch diese Methodik der Überherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen –: im andern Falle existierte der Mensch nicht mehr? – Problem – – –
Die Steigerung des Typus verhängnisvoll für die Erhaltung der Art? Warum? –
Es zeigen die Erfahrungen der Geschichte: die starken Rassen dezimieren sich gegenseitig: durch Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; die starken Affekte: die Vergeudung – (es wird Kraft nicht mehr kapitalisiert, es entsteht die geistige Störung durch die übertriebene Spannung); ihre Existenz ist kostspielig, kurz – sie reiben sich untereinander auf –; es treten Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein: alle großen Zeiten werden bezahlt... Die Starken sind hinterdrein schwächer, willenloser, absurder, als die durchschnittlich-Schwachen.
Es sind verschwenderische Rassen. Die »Dauer« an sich hätte ja keinen Wert: man möchte wohl eine kürzere, aber wertreichere Existenz der Gattung vorziehen. – Es bliebe übrig, zu beweisen, daß selbst so ein reicherer Wertertrag erzielt würde als im Fall der kürzeren Existenz; d. h. der Mensch als Aufsummierung von Kraft gewinnt ein viel höheres Quantum von Herrschaft über die Dinge, wenn es so geht, wie es geht... Wir stehen vor einem Problem der Ökonomie – – –
[864]
Der Mensch kannte sich nicht physiologisch, die ganze Kette der Jahrtausende entlang: er kennt sich auch heute noch nicht. Zu wissen z. B., daß man ein Nervensystem habe (– aber keine »Seele« –), bleibt immer noch das Vorrecht der Unterrichtetsten. Aber der Mensch begnügt[710] sich nicht, hier nicht zu wissen. Man muß sehr human sein, um zu sagen, »ich weiß das nicht«, um sich Ignoranzen zu gönnen.
Gesetzt, er leidet oder er ist in guter Laune, so zweifelt er nicht, den Grund dafür zu finden, wenn er nur sucht. Also sucht er ihn... In Wahrheit kann er den Grund nicht finden, weil er nicht einmal argwöhnt, wo er zu suchen hätte... Was geschieht? ... Er nimmt eine Folge seines Zustandes als dessen Ursache, z. B. ein Werk in guter Laune unternommen (im Grunde unternommen, weil schon die gute Laune den Mut dazu gab) gerät: ecco, das Werk ist der Grund, zur guten Laune... Tatsächlich war wiederum das Gelingen bedingt durch dasselbe, was die gute Laune bedingte – durch die glückliche Koordination der physiologischen Kräfte und Systeme.
Er befindet sich schlecht: und folglich wird er mit einer Sorge, einem Skrupel, einer Selbstkritik nicht fertig... In Wahrheit glaubt der Mensch, sein schlechter Zustand sei die Folge seines Skrupels, seiner »Sünde«, seiner »Selbstkritik«...
Aber der Zustand der Wiederherstellung, oft nach einer tiefen Erschöpfung und Prostration, kehrt zurück. »Wie ist das möglich, daß ich so frei, so erlöst bin? Das ist ein Wunder; das kann nur Gott mir getan haben.« – Schluß: »er hat mir meine Sünde vergeben«...
Daraus ergibt sich eine Praktik: um Sündengefühle anzuregen, um Zerknirschungen vorzubereiten, hat man den Körper in einen krankhaften und nervösen Zustand zu bringen. Die Methodik dafür ist bekannt. Wie billig, argwöhnt man nicht die kausale Logik der Tatsache: man hat eine religiöse Deutung für die Kasteiung des Fleisches, sie erscheint als Zweck an sich, während sie sich nur als Mittel ergibt, um jene krankhafte Indigestion der Reue möglich zu machen (die »idée fixe« der Sünde, die Hypnotisierung der Henne durch den Strich »Sünde«).
Die Mißhandlung des Leibes erzeugt den Boden für die Reihe der »Schuldgefühle«, d. h. ein allgemeines Leiden, das erklärt sein will...
Andrerseits ergibt sich ebenso die Methodik der »Erlösung«: man hat jede Ausschweifung des Gefühls durch Gebete, Bewegungen, Gebärden, Schwüre herausgefordert – die Erschöpfung folgt, oft jäh, oft unter epileptischer Form. Und – hinter dem Zustand tiefer Somnolenz kommt der Schein der Genesung –, religiös geredet: »Erlösung.«
[229]
[711]
Wie eine ja-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Mohammeds, das Alte Testament in den älteren Teilen. (Der Mohammedanismus, als eine Religion für Männer, hat eine tiefe Verachtung für die Sentimentalität und Verlogenheit des Christentums ... einer Weibs-Religion, als welche er sie fühlt –.)
Wie eine nein-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der unterdrückten Klasse, aussieht: das Neue Testament (– nach indisch-arischen Begriffen: eine Tschandala-Religion).
[145b]
Der ganze christliche Buß- und Erlösungs-training kann aufgefaßt werden als eine willkürlich erzeugte folie circulaire: wie billig nur in bereits prädestinierten, nämlich morbid angelegten Individuen erzeugbar.
[232]
Der Mensch sucht nicht die Lust und vermeidet nicht die Unlust: man versteht, welchem berühmten Vorurteile ich hiermit widerspreche. Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße Begleiterscheinung – was der Mensch will, was jeder kleinste Teil eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus von Macht. Im Streben danach folgt sowohl Lust als Unlust; aus jenem Willen heraussucht er nach Widerstand, braucht er etwas, das sich entgegenstellt... Die Unlust, als Hemmung seines Willens zur Macht, ist also ein normales Faktum, das normale Ingrediens jedes organischen Geschehens; der Mensch weicht ihr nicht aus, er hat sie vielmehr fortwährend nötig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus.
Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung: das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, das ihm widersteht – nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben: – das, was man »Ernährung« nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden.
Die Unlust hat also so wenig notwendig eine Verminderung unsres Machtgefühls zur Folge, daß, in durchschnittlichen Fällen, sie gerade als Reiz auf dieses Machtgefühl wirkt – das Hemmnis ist der stimulus dieses Willens zur Macht.
[702] [712]
Man hat die Unlust verwechselt mit einer Art der Unlust, mit der der Erschöpfung: letztere stellt in der Tat eine tiefe Verminderung und Herabstimmung des Willens zur Macht, eine meßbare Einbuße an Kraft dar. Das will sagen: es gibt a) Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht und b) Unlust nach einer Vergeudung von Macht; im erstern Fall ein stimulus, im letztern die Folge einer übermäßigen Reizung... Die Unfähigkeit zum Widerstand ist der letzteren Unlust zu eigen: die Herausforderung des Widerstehenden gehört zur ersteren ... Die Lust, welche im Zustand der Erschöpfung allein noch empfunden wird, ist das Einschlafen; die Lust im andern Falle ist der Sieg...
Die große Verwechslung der Psychologen bestand darin, daß sie diese beiden Lustarten – die des Einschlafens und die des Sieges – nicht auseinanderhielten. Die Erschöpften wollen Ruhe, Gliederausstrecken, Frieden, Stille – es ist das Glück der nihilistischen Religionen und Philosophien; die Reichen und Lebendigen wollen Sieg, überwundene Gegner, Überströmen des Machtgefühls über weitere Bereiche als bisher. Alle gesunden Funktionen des Organismus haben dies Bedürfnis – und der ganze Organismus ist ein solcher nach Wachstum von Machtgefühlen ringender Komplex von Systemen – – –
[703]
Es ist nicht möglich, den Hunger als primum mobile zu nehmen, ebenso wenig als die Selbsterhaltung. Der Hunger als Folge der Unterernährung aufgefaßt, heißt: der Hunger als Folge eines nicht mehr Herr werdenden Willens zur Macht. Es handelt sich durchaus nicht um eine Wiederherstellung eines Verlustes – erst spät, infolge Arbeitsteilung, nachdem der Wille zur Macht ganz andre Wege zu seiner Befriedigung einschlagen lernte, wird das Aneignungsbedürfnis des Organismus reduziert auf den Hunger, auf das Wiederersatzbedürfnis des Verlorenen.
[652]
Der Schmerz ist etwas anderes als die Lust, – ich will sagen, er ist nicht deren Gegenteil.
Wenn das Wesen der »Lust« zutreffend bezeichnet worden ist als ein Plus-Gefühl von Macht (somit als ein Differenz-Gefühl, das die Vergleichung voraussetzt), so ist damit das Wesen der »Unlust« noch[713] nicht definiert. Die falschen Gegensätze, an die das Volk und folglich die Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den Gang der Wahrheit gewesen. Es gibt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlust-Reize: damit wird ein sehr schnelles Anwachsen des Machtgefühls, des Lustgefühls erreicht. Dies ist der Fall z. B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des Koitus: wir sehen dergestalt die Unlust als Ingrediens der Lust tätig. Es scheint, eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird – dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesamtgefühl von überschüssiger, überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht.
Die Umkehrung, eine Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene Lustreize, fehlt: Lust und Schmerz sind eben nichts Umgekehrtes.
Der Schmerz ist ein intellektueller Vorgang, in dem entschieden ein Urteil laut wird, – das Urteil »schädlich«, in dem sich lange Erfahrung aufsummiert hat. An sich gibt es keinen Schmerz. Es ist nicht die Verwundung, die wehtut; es ist die Erfahrung, von welchen schlimmen Folgen eine Verwundung für den Gesamt-Organismus sein kann, welche in Gestalt jener tiefen Erschütterung redet, die Unlust heißt (bei schädigenden Einflüssen, welche der älteren Menschheit unbekannt geblieben sind, z. B. von seiten neu kombinierter giftiger Chemikalien, fehlt auch die Aussage des Schmerzes, – und wir sind verloren).
Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische immer die lange Erschütterung, das Nachzittern eines schreckenerregenden Schocks im zerebralen Herde des Nervensystems – man leidet eigentlich nicht an der Ursache des Schmerzes (irgendeiner Verletzung z. B.), sondern an der langen Gleichgewichtsstörung, welche infolge jenes Schocks eintritt. Der Schmerz ist eine Krankheit der zerebralen Nervenherde, – die Lust ist durchaus keine Krankheit.
Daß der Schmerz die Ursache ist zu Gegenbewegungen, hat zwar den Augenschein und sogar das Philosophen-Vorurteil für sich; aber in plötzlichen Fällen kommt, wenn man genau beobachtet, die Gegenbewegung ersichtlich früher als die Schmerzempfindung. Es stünde schlimm um mich, wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis[714] das Faktum an die Glocke des Bewußtseins schlüge und ein Wink, was zu tun ist, zurücktelegraphiert würde. Vielmehr unterscheide ich so deutlich als möglich, daß erst die Gegenbewegung des Fußes, um den Fall zu verhüten, folgt und dann, in einer meßbaren Zeitdistanz, eine Art schmerzhafter Welle plötzlich im vordern Kopfe fühlbar wird. Man reagiert also nicht auf den Schmerz. Der Schmerz wird nachher projiziert in die verwundete Stelle – aber das Wesen dieses Lokal-Schmerzes ist trotzdem nicht der Ausdruck der Art der Lokal-Verwundung; er ist ein bloßes Ortszeichen, dessen Stärke und Tonart der Verwundung gemäß ist, welche die Nerven-Zentren davon empfangen haben. Daß infolge jenes Schocks die Muskelkraft des Organismus meßbar heruntergeht, gibt durchaus noch keinen Anhalt dafür, das Wesen des Schmerzes in einer Verminderung des Machtgefühls zu suchen.
Man reagiert, nochmals gesagt, nicht auf den Schmerz: die Unlust ist keine »Ursache« von Handlungen. Der Schmerz selbst ist eine Reaktion, die Gegenbewegung ist eine andre und frühere Reaktion – beide nehmen von verschiedenen Stellen ihren Ausgangspunkt...
[699]
Der Schlaf als Folge jeder Erschöpfung, die Erschöpfung als Folge jeder übermäßigen Reizung...
Das Bedürfnis nach Schlaf, die Vergöttlichung und Adoration selbst des Begriffes »Schlaf« in allen pessimistischen Religionen und Philosophien –
Die Erschöpfung ist in diesem Fall eine Rassen-Erschöpfung; der Schlaf, psychologisch genommen, nur ein Gleichnis eines viel tieferen und längeren Ruhenmüssens... In praxi ist der Tod, der hier unter dem Bilde seines Bruders, des Schlafes, so verführerisch wirkt...
[231]
Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle, die mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein.
Die physiologischen Zustände, welche im Künstler gleichsam zur »Person« gezüchtet sind und die an sich in irgendwelchem Grade dem Menschen überhaupt anhaften:[715]
1. der Rausch: das erhöhte Machtgefühl; die innere Nötigung, aus den Dingen einen Reflex der eignen Fülle und Vollkommenheit zu machen;
2. die extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine ganz andre Zeichensprache verstehn – und schaffen, – dieselbe, die mit manchen Nervenkrankheiten verbunden erscheint –; die extreme Beweglichkeit, aus der eine extreme Mitteilsamkeit wird; das Redenwollen alles dessen, was Zeichen zu geben weiß –; ein Bedürfnis, sich gleichsam loszuwerden durch Zeichen und Gebärden; Fähigkeit, von sich durch hundert Sprachmittel zu reden – ein explosiver Zustand. Man muß sich diesen Zustand zunächst als Zwang und Drang denken, durch alle Art Muskelarbeit und Beweglichkeit die Exuberanz der inneren Spannung loszuwerden: sodann als unfreiwillige Koordination dieser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern, Gedanken, Begierden), – als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems unter dem Impuls von innen wirkender starker Reize –; Unfähigkeit, die Reaktion zu verhindern; der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt. Jede innere Bewegung (Gefühl, Gedanke, Affekt) ist begleitet von Vaskular- Veränderungen und folglich von Veränderungen der Farbe, der Temperatur, der Sekretion. Die suggestive Kraft der Musik, ihre »suggestion mentale«; –
3. das Nachmachen-müssen: eine extreme Irritabilität, bei der sich ein gegebenes Vorbild kontagiös mitteilt – ein Zustand wird nach Zeichen schon erraten und dargestellt... Ein Bild, innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder –, eine gewisse Willens-Aushängung ... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach außen hin – das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt.
Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch- Empfänglichen): letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im Geben, – dergestalt, daß ein Antagonismus dieser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswert ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik – vom Künstler verlangen daß er sich die Optik des Zuhörers (Kritikers) einübe, heißt verlangen, daß er sich und seine schöpferische Kraft verarme... Es ist hier wie bei der Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler, der gibt, nicht verlangen, daß er Weib wird – daß er »empfängt«.[716]
Unsre Ästhetik war insofern bisher eine Weibs-Äs thetik, als nur die Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen »was ist schön«? formuliert haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler... Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein notwendiger Fehler: denn der Künstler, der anfinge, sich zu begreifen, würde sich damit vergreifen, – er hat nicht zurückzusehen, er hat überhaupt nicht zu sehen, er hat zu geben. – Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu sein – andernfalls ist er halb und halb, ist er »modern«.
[811]
Unsre Religion, Moral und Philosophie sind décadence-Formen des Menschen.
– Die Gegenbewegung: die Kunst.
[794]
Die Verführungen, die von diesem Begriff ausgehen, sind dreierlei Art:
Der Begriff »die unbekannte Welt« insinuiert uns diese Welt als »bekannt« (als langweilig –);
der Begriff »die andre Welt« insinuiert, als ob die Welt anders sein[717] könnte, – hebt die Notwendigkeit und das Fatum auf (– unnütz, sich zu ergeben, sich anzupassen –);
der Begriff »die wahre Welt« insinuiert diese Welt als eine unwahrhaftige, betrügerische, unredliche, unechte, unwesentliche – und folglich auch nicht unserm Nutzen zugetane Welt (– unratsam, sich ihr anzupassen; besser: ihr widerstreben).
Wir entziehen uns also in dreierlei Weise »dieser« Welt:
In summa: wir sind auf eine dreifache Weise revoltiert: wir haben ein x zur Kritik der »bekannten Welt« gemacht.
Erster Schritt der Besonnenheit: zu begreifen, inwiefern wir verführt sind – nämlich es könnte an sich exakt umgekehrt sein;
In summa: die Welt x könnte in jedem Sinne langweiliger, unmenschlicher und unwürdiger sein als diese Welt.
Es stünde anders, wenn behauptet würde, es gebe x Welten, d. h. jede mögliche Welt noch außer dieser. Aber das ist nie behauptet worden...
Problem: warum die Vorstellung von der andern Welt immer zum Nachteil, resp. zur Kritik »dieser« Welt ausgefallen ist – worauf das weist? –
Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgange des Lebens ist, denkt das Anders-sein immer als Niedriger-, Wertloser-sein; es betrachtet die fremde, die unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde... Ein Volk würde nicht zugeben, daß ein anderes Volk das »wahre Volk« wäre...
Schon daß ein solches Unterscheiden möglich ist – daß man diese Welt für die »scheinbare« und jene für die »wahre« nimmt, ist symptomatisch.
Die Entstehungsherde der Vorstellung »andre Welt«: der Philosoph, der eine Vernunft-Welt erfindet, wo die Vernunft und die logischen Funktionen adäquat sind – daher stammt die »wahre« Welt;
der religiöse Mensch, der eine »göttliche Welt« erfindet – daher stammt die »entnatürlichte, widernatürliche« Welt;
der moralische Mensch, der eine »freie Welt« fingiert – daher stammt die »gute, vollkommene, gerechte, heilige« Welt.
Das Gemeinsame der drei Entstehungsherde: der psychologische Fehlgriff, die physiologischen Verwechslungen.
Die »andre Welt«, wie sie tatsächlich in der Geschichte erscheint, mit welchen Prädikaten abgezeichnet? Mit den Stigmaten des philosophischen, des religiösen, des moralischen Vorurteils.
Die »andre Welt«, wie sie aus diesen Tatsachen erhellt, als ein [719] Synonym des Nicht-seins, des Nicht-lebens, des Nicht-leben-wollens...
Gesamteinsicht: der Instinkt der Lebensmüdigkeit, und nicht der des Lebens, hat die »andre Welt« geschaffen.
Konsequenz: Philosophie, Religion und Moral sind Symptome der décadence.
[586]
Ich unterscheide den Mut vor Personen, den Mut vor Sachen und den Mut vor dem Papier. Letzterer war z. B. der Mut David Straußens. Ich unterscheide nochmals den Mut vor Zeugen und den Mut ohne Zeugen: der Mut eines Christen, eines Gottgläubigen überhaupt kann niemals Mut ohne Zeugen sein – er ist damit allein schon degradiert. Ich unterscheide endlich den Mut aus Temperament und den Mut aus Furcht vor der Furcht: ein Einzelfall der letzten Spezies ist der moralische Mut. Hierzu kommt noch der Mut aus Verzweiflung.
Wagner hatte diesen Mut. Seine Lage hinsichtlich der Musik war im Grunde verzweifelt. Ihm fehlte beides, was zum guten Musiker befähigt: Natur und Kultur, die Vorbestimmung für Musik und die Zucht und Schulung zur Musik. Er hatte Mut: er schuf aus diesem Mangel ein Prinzip – er erfand sich eine Gattung Musik. Die »dramatische Musik«, wie er sie erfand, ist die Musik, welche er machen konnte – ihr Begriff sind die Grenzen Wagners.
Und man hat ihn mißverstanden! – Hat man ihn mißverstanden? ... Fünf Sechstel der modernen Künstler sind in seinem Falle. Wagner ist ihr Retter: fünf Sechstel sind übrigens die »geringste Zahl«. Jedesmal, wo die Natur sich unerbittlich gezeigt hat und wo andrerseits die Kultur ein Zufall, eine Tentative, ein Dilettantismus blieb, wendet sich jetzt der Künstler mit Instinkt, was sage ich? mit Begeisterung an Wagner: »halb zog er ihn, halb sank er hin«, wie der Dichter sagt.
[841]
Die religiöse Moral. – Der Affekt, die große Begierde, die Leidenschaften der Macht, der Liebe, der Rache, des Besitzes –: die Moralisten wollen sie auslöschen, herausreißen, die Seele von ihnen »reinigen«.
Die Logik ist: die Begierden richten oft großes Unheil an, – folglich sind sie böse, verwerflich. Der Mensch muß los von ihnen kommen: eher kann er nicht ein guter Mensch sein...[720]
Das ist dieselbe Logik wie: »ärgert dich ein Glied, so reiße es aus«. In dem besonderen Fall, wie es jene gefährliche »Unschuld vom Lande«, der Stifter des Christentums, seinen Jüngern zur Praxis empfahl, im Fall der geschlechtlichen Irritabilität, folgt leider dies nicht nur, daß ein Glied fehlt, sondern daß der Charakter des Menschen entmannt ist... Und das gleiche gilt von dem Moralisten-Wahnsinn, welcher, statt der Bändigung, die Exstirpation der Leidenschaften verlangt. Ihr Schluß ist immer: erst der entmannte Mensch ist der gute Mensch.
Die großen Kraftquellen, jene oft so gefährlich und überwältigend hervorströmenden Wildwasser der Seele, statt ihre Macht in Dienst zu nehmen und zu ökonomisieren, will diese kurzsichtigste und verderblichste Denkweise, die Moral-Denkweise, versiegen machen.
[383]
Die christlichen Moral-Quacksalber. – Mitleid und Verachtung folgen sich in schnellem Wechsel, und mitunter bin ich empört, wie beim Anblick eines schnöden Verbrechens. Hier ist der Irrtum zur Pflicht gemacht – zur Tugend –, der Fehlgriff ist Handgriff geworden, der Zerstörer-Instinkt systematisiert als »Erlösung«; hier wird aus jeder Operation eine Verletzung, eine Ausschneidung selbst von Organen, deren Energie die Voraussetzung jeder Wiederkehr der Gesundheit ist. Und bestenfalls wird nicht geheilt, sondern nur eine Symptomen-Reihe des Übels in eine andere eingetauscht... Und dieser gefährliche Unsinn, das System der Schändung und Verschneidung des Lebens gilt als heilig, als unantastbar; in seinem Dienste leben, Werkzeug dieser Heilkunst sein, Priester sein hebt heraus, macht ehrwürdig, macht heilig und unantastbar selbst. Nur die Gottheit kann die Urheberin dieser höchsten Heilkunst sein: nur als Offenbarung ist die Erlösung begreiflich, als Akt der Gnade, als unverdientestes Geschenk, das der Kreatur gemacht ist.
Erster Satz: die Gesundheit der Seele wird als Krankheit angesehen, mißtrauisch...
Zweiter Satz: die Voraussetzungen für ein starkes und blühendes Leben, die starken Begehrungen und Leidenschaften, gelten als Einwände gegen ein starkes und blühendes Leben.
Dritter Satz: Alles, woher dem Menschen Gefahr droht, alles, was[721] über ihn Herr werden und ihn zugrunde richten kann, ist böse, ist verwerflich – ist mit der Wurzel aus seiner Seele auszureißen.
Vierter Satz: der Mensch, ungefährlich gemacht, gegen sich und andre, schwach, niedergeworfen in Demut und Bescheidenheit, seiner Schwäche bewußt, der »Sünder«, – das ist der wünschbarste Typus, der, welchen man mit einiger Chirurgie der Seele auch herstellen kann...
[248]
Ich sehe durchaus nicht ab, wie einer es wiedergutmachen kann, der versäumt hat, zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein solcher kennt sich nicht; er geht durchs Leben, ohne gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verrät sich bei jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, diese harte Schule nachzuholen: jahrelanges Siechtum vielleicht, das die äußerste Willenskraft und Selbstgenugsamkeit herausfordert; oder eine plötzlich hereinbrechende Notlage, zugleich noch für Weib und Kind, welche eine Tätigkeit erzwingt, die den erschlafften Fasern wieder Energie gibt und dem Willen zum Leben die Zähigkeit zurückgewinnt. Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen eine harte Disziplin zur rechten Zeit, d. h. in jenem Alter noch, wo es stolz macht, viel von sich verlangt zu sehn. Denn dies unterscheidet die harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst, als normal verlangt wird; daß das Lob selten ist, daß die Indulgenz fehlt; daß der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt vom Leiblichsten wie vom Geistigsten: es wäre verhängnisvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig: und näher besehn, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder auf eine stolze Weise gehorchen; in Reih und Glied stehen, aber fähig jederzeit, auch zu führen; die Gefahr dem Behagen vorziehn; das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwaage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen mehr feind sein als dem Bösen. – Was lernt man in einer harten Schule? Gehorchen und Befehlen.
[912]
[722]
Ein gewisser Grad von Glaube genügt uns heute als Einwand gegen das Geglaubte. – noch mehr als Fragezeichen an der geistigen Gesundheit des Gläubigen.
[456]
Wenn wir uns, aus dem Instinkte der Gemeinschaft heraus, Vorschriften machen und gewisse Handlungen verbieten, so verbieten wir, wie es Vernunft hat, nicht eine Art zu »sein«, nicht eine »Gesinnung«, sondern nur eine gewisse Richtung und Nutzanwendung dieses »Seins«, dieser »Gesinnung«. Aber da kommt der Ideologe der Tugend, der Moralist, seines Wegs und sagt: »Gott siehet das Herz an! Was liegt daran, daß ihr euch bestimmter Handlungen enthaltet: ihr seid darum nicht besser!« Antwort: mein Herr Langohr und Tugendsam, wir wollen durchaus nicht besser sein, wir sind sehr zufrieden mit uns, wir wollen uns nur nicht untereinander Schaden tun, – und deshalb verbieten wir gewisse Handlungen in einer gewissen Rücksicht, nämlich auf uns, während wir dieselben Handlungen, vorausgesetzt, daß sie sich auf Gegner des Gemeinwesens – auf Sie zum Beispiel – beziehen, nicht genug zu ehren wissen. Wir erziehen unsere Kinder auf sie hin; wir züchten sie groß... Wären wir von jenem »gottwohlgefälligen« Radikalismus, den Ihr heiliger Aberwitz anempfiehlt, wären wir Mondkälber genug, mit jenen Handlungen ihre Quelle, das »Herz«, die »Gesinnung« zu verurteilen, so hieße das unser Dasein verurteilen und mit ihm seine oberste Voraussetzung – eine Gesinnung, ein Herz, eine Leidenschaft, die wir mit den höchsten Ehren ehren. Wir verhüten durch unsre Dekrete, daß diese Gesinnung auf eine unzweckmäßige Weise ausbricht und sich Wege sucht, – wir sind klug, wenn wir uns solche Gesetze geben, wir sind damit auch sittlich... Argwöhnen Sie nicht, von ferne wenigstens, welche Opfer es uns kostet, wie viel Zähmung, Selbstüberwindung, Härte gegen uns dazu not tut? Wir sind vehement in unsern Begierden, es gibt Augenblicke, wo wir uns auffressen möchten... Aber der »Gemeinsinn« wird über uns Herr: bemerken Sie doch, das ist beinahe eine Definition der Sittlichkeit.
[281]
Der »gute Mensch« als Tyrann. – Die Menschheit hat immer denselben Fehler wiederholt: daß sie aus einem Mittel zum Leben einen [723] Maßstab des Lebens gemacht hat; daß sie – statt in der höchsten Steigerung des Lebens selbst, im Problem des Wachstums und der Erschöpfung, das Maß zu finden – die Mittel zu einem ganz bestimmten Leben zum Ausschluß aller anderen Formen des Lebens, kurz zur Kritik und Selektion des Lebens benutzt hat. D. h. der Mensch liebt endlich die Mittel um ihrer selbst willen und vergißt sie als Mittel: so daß sie jetzt als Ziele ihm ins Bewußtsein treten, als Maßstäbe von Zielen... d. h. eine bestimmte Spezies Mensch behandelt ihre Existenzbedingungen als gesetzlich aufzuerlegende Bedingungen, als »Wahrheit«, »Gut«, »Vollkommen«: sie tyrannisiert... Es ist eine Form des Glaubens, des Instinkts, daß eine Art Mensch nicht die Bedingtheit ihrer eignen Art, ihre Relativität im Vergleich zu anderen einsieht Wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer Art Mensch (Volk, Rasse), wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht und nicht mehr daran denkt, Herr sein zu wollen –
[354]
»Sinne«, »Leidenschaften». – Die Furcht vor den Sinnen, vor den Begierden, vor den Leidenschaften, wenn sie so weit geht, dieselben zu widerraten, ist ein Symptom bereits von Schwäche: die extremen Mittel kennzeichnen immer anormale Zustände. Was hier fehlt, resp. angebröckelt ist, das ist die Kraft zur Hemmung eines Impulses: wenn man den Instinkt hat, nachgeben zu müssen, d. h. reagieren zu müssen, dann tut man gut, den Gelegenheiten (»Verführungen«) aus dem Wege zu gehn.
Ein »Anreiz der Sinne« ist nur insofern eine Verführung, als es sich um Wesen handelt, deren System zu leicht beweglich und bestimmbar ist: im entgegengesetzten Falle, bei großer Schwerfälligkeit und Härte des Systems, sind starke Reize nötig, um die Funktionen in Gang zu bringen.
Die Ausschweifung ist uns ein Einwand nur gegen den, der zu ihr kein Recht hat; und fast alle Leidenschaften sind in schlechten Ruf derentwegen gebracht, die nicht stark genug sind, sie zu ihrem Nutzen zu wenden –.
Man muß sich darüber verstehn, daß gegen Leidenschaft eingewendet werden kann, was gegen Krank heit einzuwenden ist: trotzdem – wir dürften der Krankheit nicht entbehren, und noch weniger der Leidenschaften.[724] Wir brauchen das Anormale, wir geben dem Leben einen ungeheuren Schock durch diese großen Krankheiten.
Im einzelnen ist zu unterscheiden:
1. die dominierende Leidenschaft, welche sogar die supremste Form der Gesundheit überhaupt mit sich bringt: hier ist die Koordination der innern Systeme und ihr Arbeiten in einem Dienste am besten erreicht – aber das ist beinahe die Definition der Gesundheit!
2. das Gegeneinander der Leidenschaften, die Zweiheit, Dreiheit, Vielheit der »Seelen in einer Brust«: sehr ungesund, innerer Ruin, auseinanderlösend, einen inneren Zwiespalt und Anarchismus verratend und steigernd –: es sei denn, daß eine Leidenschaft endlich Herr wird.
Rückkehr der Gesundheit –
3. das Nebeneinander, ohne ein Gegeneinander und Füreinander zu sein: oft periodisch, und dann, sobald es eine Ordnung gefunden hat, auch gesund. Die interessantesten Menschen gehören hierher, die Chamäleons; sie sind nicht im Widerspruch mit sich, sie sind glücklich und sicher, aber sie haben keine Entwicklung – ihre Zustände liegen nebeneinander, wenn sie auch siebenmal getrennt sind. Sie wechseln, sie werden nicht.
[778]
Gegen Reue und ihre rein psychologische Behandlung. – Mit einem Erlebnis nicht fertig werden ist bereits ein Zeichen von décadence. Dieses Wieder-Aufreißen alter Wunden, das Sich-Wälzen in Selbstverachtung und Zerknirschung ist eine Krankheit mehr, aus der nimmermehr das »Heil der Seele«, sondern immer nur eine neue Krankheitsform derselben entstehen kann...
Diese »Erlösungs-Zustände« im Christen sind bloße Wechsel eines und desselben krankhaften Zustandes, – Auslegungen der epileptischen Krise unter einer bestimmten Formel, welche nicht die Wissenschaft, sondern der religiöse Wahn gibt.
Man ist auf eine krankhafte Manier gut, wenn man krank ist... Wir rechnen jetzt den größten Teil des psychologischen Apparates, mit dem das Christentum gearbeitet hat, unter die Formen der Hysterie und der Epilepsoidis.
Die ganze Praxis der seelischen Wiederherstellung muß auf eine physiologische Grundlage zurückgestellt werden: der »Gewissensbiß«[725] als solcher ist ein Hindernis der Genesung, – man muß alles aufzuwiegen suchen durch neue Handlungen, um möglichst schnell dem Siechtum der Selbsttortur zu entgehn... Man sollte die rein psychologische Praktik der Kirche und der Sekten als gesundheitsgefährlich in Verruf bringen... Man heilt einen Kranken nicht durch Gebete und Beschwörungen böser Geister: die Zustände der »Ruhe«, die unter solchen Einwirkungen eintreten, sind fern davon, im psychologischen Sinne Vertrauen zu erwecken...
Man ist gesund, wenn man sich über seinen Ernst und Eifer lustig macht, mit dem irgendeine Einzelheit unsres Lebens dergestalt uns hypnotisiert hat, wenn man beim Gewissensbiß etwas fühlt wie beim Biß eines Hundes wider einen Stein, – wenn man sich seiner Reue schämt. –
Die bisherige Praxis, die rein psychologische und religiöse, war nur auf eine Veränderung der Symptome aus: sie hielt einen Menschen für wiederhergestellt, wenn er vor dem Kreuze sich erniedrigte und Schwüre tat, ein guter Mensch zu sein... Aber ein Verbrecher, der mit einem gewissen düstern Ernst sein Schicksal festhält und nicht seine Tat hinterdrein verleumdet, hat mehr Gesundheit der Seele... Die Verbrecher, mit denen Dostojewskij zusammen im Zuchthause lebte, waren samt und sonders ungebrochene Naturen, – sind sie nicht hundertmal mehr wert als ein »gebrochener« Christ?
(– Ich empfehle die Behandlung des Gewissensbisses mit der Mitchell-Kur – –)
[233]
Die Verirrung der Philosophie ruht darauf, daß man, statt in der Logik und den Vernunftkategorien Mittel zu sehen zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken (also, »prinzipiell«, zu einer nützlichen Fälschung), man in ihnen das Kriterium der Wahrheit, resp. der Realität zu haben glaubte. Das »Kriterium der Wahrheit« war in der Tat bloß die biologische Nützlichkeit eines solchen Systems prinzipieller Fälschung: und da eine Gattung Tier nichts Wichtigeres kennt, als sich zu erhalten, so dürfte man in der Tat hier von »Wahrheit« reden. Die Naivität war nur die, die anthropozentrische Idiosynkrasie als Maß der Dinge, als Richtschnur über »real« und »unreal« zu nehmen: kurz, eine Bedingtheit zu verabsolutieren. Und siehe[726] da, jetzt fiel mit einem Mal die Welt auseinander in eine »wahre« Welt und eine »scheinbare«: und genau die Welt, in der der Mensch zu wohnen und sich einzurichten seine Vernunft erfunden hatte, genau dieselbe wurde ihm diskreditiert. Statt die Formen als Handhabe zu benutzen, sich die Welt handlich und berechenbar zu machen, kam der Wahnsinn der Philosophen dahinter, daß in diesen Kategorien der Begriff jener Welt gegeben ist, dem die andere Welt, die, in der man lebt, nicht entspricht... Die Mittel wurden mißverstanden als Wertmaß, selbst als Verurteilung der Absicht...
Die Absicht war, sich auf eine nützliche Weise zu täuschen: die Mittel dazu die Erfindung von Formeln und Zeichen, mit deren Hilfe man die verwirrende Vielheit auf ein zweckmäßiges und handliches Schema reduzierte.
Aber wehe! jetzt brachte man eine Moral-Kategorie ins Spiel: kein Wesen will sich täuschen, kein Wesen darf täuschen, – folglich gibt es nur einen Willen zur Wahrheit. Was ist »Wahrheit«?
Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung und kein Ende.
Das ist der größte Irrtum, der begangen worden ist, das eigentliche Verhängnis des Irrtums auf Erden: man glaubte ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, – während man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge Weise die Realität mißzuverstehn...
Und siehe da: jetzt wurde die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen, die ihre Realität ausmachen, Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg. Und nun war das ganze Verhängnis da:
1. Wie kommt man los von der falschen, der bloß scheinbaren Welt? (– es war die wirkliche, die einzige);
2. wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren Welt? (Begriff des vollkommnen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen, deutlicher, als Widerspruch zum Leben...)
Die ganze Richtung der Werte war auf Verleumdung des Lebens aus; man schuf eine Verwechslung des Ideal-Dogmatismus mit der Erkenntnis[727] überhaupt: so daß die Gegenpartei immer nun auch die Wissenschaft perhorreszierte.
Der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt versperrt: einmal durch den Glauben an die »wahre« Welt, und dann durch die Gegner dieses Glaubens. Die Naturwissenschaft, Psychologie war 1. in ihren Objekten verurteilt, 2. um ihre Unschuld gebracht...
In der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend etwas verurteilen und wegdenken, alles wegdenken und verurteilen. Das Wort »das sollte nicht sein«, »das hätte nicht sein sollen« ist eine Farce... Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinne schädllich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstriert es ja besser!
– Wir sehen, wie die Moral a) die ganze Weltauffassung vergiftet, b) den Weg zur Erkenntnis, zur Wissenschaft abschneidet, c) alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt (indem sie deren Wurzeln als unmoralisch empfinden lehrt).
Wir sehen ein furchtbares Werkzeug der décadence vor uns arbeiten, das sich mit den heiligsten Namen und Gebärden aufrecht hält.
[584]
Man muß den Phänomenalismus nicht an der falschen Stelle suchen: nichts ist phänomenaler, (oder deutlicher:) nichts ist so sehr Täuschung, als diese innere Welt, die wir mit dem berühmten »inneren Sinn« beobachten.
Wir haben den Willen als Ursache geglaubt, bis zu dem Maße, daß wir nach unserer Personal-Erfahrung überhaupt eine Ursache in das Geschehen hineingelegt haben (d. h. Absicht als Ursache von Geschehen –).
Wir glauben, daß Gedanke und Gedanke, wie sie in uns nacheinander folgen, in irgendeiner kausalen Verkettung stehn: der Logiker insonderheit, der tatsächlich von lauter Fällen redet, die niemals in der Wirklichkeit vorkommen, hat sich an das Vorurteil gewöhnt, daß Gedanken Gedanken verursachen –.
Wir glauben – und selbst unsre Philosophen glauben es noch –, daß Lust und Schmerz Ursache sind von Reaktionen, daß es der Sinn von Lust und Schmerz ist, Anlaß zu Reaktionen zu geben. Man hat[728] Lust und das Vermeiden der Unlust geradezu jahrtausendelang als Motive für jedes Handeln aufgestellt. Mit einiger Besinnung dürfen wir zugeben, daß alles so verlaufen würde, nach genau derselben Verkettung der Ursachen und Wirkungen, wenn diese Zustände »Lust und Schmerz« fehlten: und man täuscht sich einfach, zu behaupten, daß sie irgend etwas verursachen: – es sind Begleiterscheinungen mit einer ganz andern Finalität, als der, Reaktionen hervorzurufen; es sind bereits Wirkungen innerhalb des eingeleiteten Prozesses der Reaktion.
In summa: alles, was bewußt wird, ist eine Enderscheinung, ein Schluß – und verursacht nichts; alles Nacheinander im Bewußtsein ist vollkommen atomistisch –. Und wir haben die Welt versucht zu verstehn in der umgekehrten Auffassung, – als ob nichts wirke und real sei als Denken, Fühlen, Wollen!...
[478]
Nicht »erkennen«, sondern schematisieren, – dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserm praktischen Bedürfnis genugtut.
In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfnis maßgebend gewesen: das Bedürfnis, nicht zu »erkennen«, sondern zu subsumieren, zu schematisieren, zum Zweck der Verständigung, der Berechnung... (Das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen, – derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!) Hier hat nicht eine präexistente »Idee« gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleichgemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden... Die Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend Ansätze gibt, mißrät das Leben, – es wird Unübersichtlich –, zu ungleich –.
Die Kategorien sind »Wahrheiten« nur in dem Sinne, als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingende »Wahrheit« ist. (An sich geredet: da niemand die Notwendigkeit, daß es gerade Menschen gibt, aufrechterhalten wird, ist die Vernunft, so wie der Euklidische Raum, eine bloße Idiosynkrasie bestimmter Tierarten, und eine neben vielen anderen...)
Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen zu können, ist[729] eine biologische Nötigung: der Instinkt der Nützlichkeit, so zu schließen wie wir schließen, steckt uns im Leibe, wir sind beinahe dieser Instinkt... Welche Naivität aber, daraus einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine »Wahrheit an sich« besäßen!... Das Nicht-widersprechen-können beweist ein Unvermögen, nicht eine »Wahrheit«.
[515]
Die Sophisten sind nichts weiter als Realisten: sie formulieren die allen gang und gäben Werte und Praktiken zum Rang der Werte, – sie haben den Mut, den alle starken Geister haben, um ihre Unmoralität zu wissen...
Glaubt man vielleicht, daß diese kleinen griechischen Freistädte, welche sich vor Wut und Eifersucht gern aufgefressen hätten, von menschenfreundlichen und rechtschaffenen Prinzipien geleitet wurden? Macht man vielleicht dem Thukydides einen Vorwurf aus seiner Rede, die er den athenischen Gesandten in den Mund legt, als sie mit den Meliern über Untergang oder Unterwerfung verhandeln?
Inmitten dieser entsetzlichen Spannung von Tugend zu reden war nur vollendeten Tartüffs möglich – oder Abseits-Gestellten, Einsiedlern, Flüchtlingen und Auswanderern aus der Realität... Alles Leute, die negierten, um selber leben zu können –
Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und Plato die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie Juden oder ich weiß nicht was –. Die Taktik Grotes zur Verteidigung der Sophisten ist falsch: er will sie zu Ehrenmännern und Moral-Standarten erheben – aber ihre Ehre war, keinen Schwindel mit großen Worten und Tugenden zu treiben...
[429]
Parmenides hat gesagt »man denkt das nicht, was nicht ist«; – wir sind am andern Ende und sagen »was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein«.
[539]
Die allgemeine Täuschung und Täuscherei im Gebiete der sogenannten moralischen Besserung. – Wir glauben nicht daran, daß ein Mensch ein anderer wird, wenn er es nicht schon ist: d. h. wenn er nicht, wie es oft genug vorkommt, eine Vielheit von Personen, mindestens von Ansätzen zu Personen, ist. In diesem Falle erreicht man,[730] daß eine andre Rolle in den Vordergrund tritt, daß »der alte Mensch« zurückgeschoben wird... Der Anblick ist verändert, nicht das Wesen ... Daß jemand aufhört, gewisse Handlungen zu tun, ist ein bloßes fatum brutum, das die verschiedenste Deutung zuläßt. Selbst das ist nicht immer damit erreicht, daß es die Gewöhnung an ein gewisses Tun aufhebt, den letzten Grund dazu nimmt. Wer aus Fatum und Fähigkeit Verbrecher ist, verlernt nichts, sondern lernt immer hinzu: und eine lange Entbehrung wirkt sogar als Tonikum auf sein Talent... Für die Gesellschaft freilich hat gerade das allein ein Inte resse, daß jemand gewisse Handlungen nicht mehr tut: sie nimmt ihn zu diesem Zwecke aus den Bedingungen heraus, wo er gewisse Handlungen tun kann: das ist jedenfalls weiser, als das Unmögliche versuchen, nämlich die Fatalität seines So-und-So-seins zu brechen. Die Kirche – und sie hat nichts getan, als die antike Philosophie hierin abzulösen und zu beerben –, von einem andern Wertmaße ausgehend und eine »Seele«, das »Heil« einer Seele retten wollend, glaubt einmal an die sühnende Kraft der Strafe und sodann an die auslöschende Kraft der Vergebung: beides sind Täuschungen des religiösen Vorurteils, – die Strafe sühnt nicht, die Vergebung löscht nicht aus, Getanes wird nicht ungetan gemacht. Damit, daß jemand etwas vergißt, ist bei weitem nicht erwiesen, daß etwas nicht mehr ist... Eine Tat zieht ihre Konsequenzen, im Menschen und außer dem Menschen, gleichgültig ob sie als bestraft, »gesühnt«, »vergeben« und »ausgelöscht« gilt, gleichgültig ob die Kirche inzwischen ihren Täter selbst zu einem Heiligen avanciert hat. Die Kirche glaubt an Dinge, die es nicht gibt, an »Seelen«; sie glaubt an Wirkungen, die es nicht gibt, an göttliche Wirkungen; sie glaubt an Zustände, die es nicht gibt, an Sünde, an Erlösung, an das Heil der Seele: sie bleibt überall bei der Oberfläche stehn, bei Zeichen, Gebärden, Worten, denen sie eine arbiträre Auslegung gibt. Sie hat eine zu Ende gedachte Methodik der psychologischen Falschmünzerei.
[394]
Nichts ist fehlerhafter, als aus psychischen und physischen Phänomenen die zwei Gesichter, die zwei Offenbarungen einer und derselben Substanz zu machen. Damit erklärt man nichts: der Begriff »Substanz« ist vollkommen unbrauchbar, wenn man erklären will.[731] Das Bewußtsein, in zweiter Rolle, fast indifferent, überflüssig, bestimmt vielleicht zu verschwinden und einem vollkommenen Automatismus Platz zu machen –
Wenn wir nur die inneren Phänomene beobachten, so sind wir vergleichbar den Taubstummen, die aus der Bewegung der Lippen die Worte erraten, die sie nicht hören. Wir schließen aus den Erscheinungen des inneren Sinns auf unsichtbare und andere Phänomene, welche wir wahrnehmen würden, wenn unsre Beobachtungsmittel zureichend wären.
Für diese innere Welt gehn uns alle feineren Organe ab, so daß wir eine tausendfache Komplexität noch als Einheit empfinden, so daß wir eine Kausalität hineinerfinden, wo jeder Grund der Bewegung und Veränderung uns unsichtbar bleibt, – die Aufeinanderfolge von Gedanken, von Gefühlen ist ja nur das Sichtbarwerden derselben im Bewußtsein. Daß diese Reihenfolge irgend etwas mit einer Kausal- Verkettung zu tun habe, ist völlig unglaubwürdig: das Bewußtsein liefert uns nie ein Beispiel von Ursache und Wirkung.
[523]
Wo es eine gewisse Einheit in der Gruppierung gibt, hat man immer den Geist als Ursache dieser Koordination gesetzt: wozu jeder Grund fehlt. Warum sollte die Idee eines komplexen Faktums eine der Bedingungen dieses Faktums sein? oder warum müßte einem komplexen Faktum die Vorstellung als Ursache davon präzedieren? –
Wir werden uns hüten, die Zweckmäßigkeit durch den Geist zu erklären: es fehlt jeder Grund, dem Geist die Eigentümlichkeit, zu organisieren und zu systematisieren, zuzuschreiben. Das Nervensystem hat ein viel ausgedehnteres Reich: die Bewußtseinswelt ist hinzugefügt. Im Gesamtprozeß der Adaptation und Systematisation spielt das Bewußtsein keine Rolle.
[526]
Der Kampf gegen Sokrates, Plato, die sämtlichen sokratischen Schulen geht von dem tiefen Instinkt aus, daß man den Menschen nicht besser macht, wenn man ihm die Tugend als beweisbar, als gründefordernd darstellt... Zuletzt ist es die mesquine Tatsache, daß der agonale Instinkt alle diese gebornen Dialektiker dazu zwang, ihre Personal-Fähigkeit als oberste Eigenschaft zu verherrlichen und alles übrige[732] Gute als bedingt durch sie darzustellen. Der antiwissenschaftliche Geist dieser ganzen »Philosophie«: sie will recht behalten.
[441]
Die ungeheuren Fehlgriffe:
Folgerungen:
jeder Fortschritt liegt in dem Fortschritt zum Bewußtwerden; jeder Rückschritt im Unbewußtwerden; (– das Unbewußtwerden galt als Verfallensein an die Begierden und Sinne – als Vertierung...)
man nähert sich der Realität, dem »wahren Sein« durch Dialektik;
man entfernt sich von ihm durch Instinkte, Sinne, Mechanismus...
den Menschen in Geist auflösen, hieße ihn zu Gott machen: Geist, Wille, Güte – eins;
alles Gute muß aus der Geistigkeit stammen, muß Bewußtseins-Tatsache sein;
der Fortschritt zum Besseren kann nur ein Fortschritt im Bewuß-werden sein.
[529]
Theorie und Praxis. – Verhängnisvolle Unterscheidung, wie als ob es einen eignen Erkenntnistrieb gebe, der, ohne Rücksicht auf Fragen des Nutzens und Schadens, blindlings auf die Wahrheit losgehe: und dann, davon abgetrennt, die ganze Welt der praktischen Interessen...[733]
Dagegen suche ich zu zeigen, welche Instinkte hinter all diesen reinen Theoretikern tätig gewesen sind – wie sie allesamt fatalistisch im Bann ihrer Instinkte auf etwas losgingen, das für sie »Wahrheit« war, für sie und nur für sie. Der Kampf der Systeme, samt dem der erkenntnistheoretischen Skrupel, ist ein Kampf ganz bestimmter Instinkte (Formen der Vitalität, des Niedergangs, der Stände, der Rassen usw.).
Der sogenannte Erkenntnistrieb ist zurückzuführen auf einen Aneignungs– und Überwältigungstrieb: diesem Triebe folgend haben sich die Sinne, das Gedächtnis, die Instinkte usw. entwickelt. Die möglichst schnelle Reduktion der Phänomene, die Ökonomie, die Akkumulation des erworbenen Schatzes an Erkenntnis (d. h. angeeigneter und handlich gemachter Welt)...
Die Moral ist deshalb eine so kuriose Wissenschaft, weil sie im höchsten Grade praktisch ist: so daß die reine Erkenntnisposition, die wissenschaftliche Rechtschaffenheit sofort preisgegeben wird, sobald die Moral ihre Antworten fordert. Die Moral sagt: ich brauche manche Antworten – Gründe, Argumente; Skrupel mögen hinterdrein kommen, oder auch nicht –.
»Wie soll gehandelt werden?« – Denkt man nun nach, daß man mit einem souverän entwickelten Typus zu tun hat, von dem seit unzähligen Jahrtausenden »gehandelt« worden ist, und alles Instinkt, Zweckmäßigkeit, Automatismus, Fatalität geworden ist, so kommt einem die Dringlichkeit dieser Moral-Frage sogar ganz komisch vor.
»Wie soll gehandelt werden?« – Moral war immer ein Mißverständnis: tatsächlich wollte eine Art, die ein Fatum so und so zu handeln im Leibe hatte, sich rechtfertigen, indem sie ihre Norm als Universalnorm aufdekretieren wollte...
»Wie soll gehandelt werden?« ist keine Ursache, sondern eine Wirkung. Die Moral folgt, das Ideal kommt am Ende.
– Andrerseits verrät das Auftreten der moralischen Skrupel (anders ausgedrückt: das Bewußtwerden der Werte, nach denen man handelt) eine gewisse Krankhaftigkeit; starke Zeiten und Völker reflektieren nicht über ihr Recht, über Prinzipien zu handeln, über Instinkt und Vernunft. Das Bewußtwerden ist ein Zeichen davon, daß die eigentliche Moralität, d. h. Instinkt-Gewißheit des Handelns, zum Teufel geht... Die Moralisten sind, wie jedesmal, daß eine neue Bewußtseins-Welt[734] geschaffen wird, Zeichen einer Schädigung, Verarmung, Desorganisation. – Die Tief-Instinktiven haben eine Scheu vor dem Logisieren der Pflichten: unter ihnen findet man pyrrhonistische Gegner der Dialektik und der Erkennbarkeit überhaupt... Eine Tugend wird mit »um« widerlegt...
Thesis: das Auftreten der Moralisten gehört in die Zeiten, wo es zu Ende geht mit der Moralität.
Thesis: der Moralist ist ein Auflöser der moralischen Instinkte, so sehr er deren Wiederhersteller zu sein glaubt.
Thesis: das, was den Moralisten tatsächlich treibt, sind nicht moralische Instinkte, sondern die Instinkte der décadence, übersetzt in die Formeln der Moral (– er empfindet das Unsicherwerden der Instinkte als Korruption).
Thesis: die Instinkte der décadence, die durch die Moralisten über die Instinkt-Moral starker Rassen und Zeiten Herr werden wollen, sind
[423]
1. Der angeblich reine Erkenntnistrieb aller Philosophen ist kommandiert durch ihre Moral– »Wahrheiten«, – ist nur scheinbar unabhängig...
2. Die »Moralwahrheiten« »so soll gehandelt werden« sind bloße Bewußtseins-Formen eines müdewerdenden Instinkts »so und so wird bei uns gehandelt«. Das »Ideal« soll einen Instinkt wiederherstellen, stärken; es schmeichelt dem Menschen, gehorsam zu sein, wo er nur Automat ist.
[346]
Das ist außerordentlich. Wir finden von Anfang der griechischen Philosophie an einen Kampf gegen die Wissenschaft, mit den Mitteln einer Erkenntnistheorie, resp. Skepsis: und wozu? Immer zugunsten der Moral... (Der Haß gegen die Physiker und Ärzte.) Sokrates, Aristipp, die Megariker, die Zyniker, Epikur, Pyrrho – General-Ansturm[735] gegen die Erkenntnis zugunsten der Moral... (Haß auch gegen die Dialektik.) Es bleibt ein Problem: sie nähern sich der Sophistik, um die Wissenschaft loszuwerden. Andererseits sind die Physiker alle so weit unterjocht, um das Schema der Wahrheit, des wahren Seins in ihre Fundamente aufzunehmen: z. B. das Atom, die vier Elemente (Juxtaposition des Seienden, um die Vielheit und Veränderung zu erklären –). Verachtung gelehrt gegen die Objektivität des Interesses: Rückkehr zu dem praktischen Interesse, zur Personal- Nützlichkeit aller Erkenntnis...
Der Kampf gegen die Wissenschaft richtet sich gegen 1. deren Pathos (Objektivität), 2. deren Mittel (d. h. gegen deren Nützlichkeit), 3. deren Resultate (als kindisch).
Es ist derselbe Kampf, der später wieder von seiten der Kirche, im Namen der Frömmigkeit, geführt wird: sie erbt das ganze antike Rüstzeug zum Kampfe. Die Erkenntnistheorie spielt dabei dieselbe Rolle wie bei Kant, wie bei den Indern... Man will sich nicht darum zu bekümmern haben: man will freie Hand behalten für seinen »Weg«.
Wogegen wehren sie sich eigentlich? Gegen die Verbindlichkeit, gegen die Gesetzlichkeit, gegen die Nötigung Hand in Hand zu gehn –: ich glaube, man nennt das Freiheit...
Darin drückt sich die décadence aus: der Instinkt der Solidarität ist so entartet, daß die Solidarität als Tyrannei empfunden wird: sie wollen keine Autorität, keine Solidarität, keine Einordnung in Reih und Glied zu unedler Langsamkeit der Bewegung. Sie hassen das Schrittweise, das Tempo der Wissenschaft, sie hassen das Nicht-anlangen-wollen, den langen Atem, die Personal-Indifferenz des wissenschaftlichen Menschen.
[442]
Die Geschichte der Philosophie ist ein heimliches Wüten gegen die Voraussetzungen des Lebens, gegen die Wertgefühle des Lebens, gegen das Parteinehmen zugunsten des Lebens. Die Philosophen haben nie gezögert, eine Welt zu bejahen, vorausgesetzt, daß sie dieser Welt widerspricht, daß sie eine Handhabe abgibt, von dieser Welt schlecht zu reden. Es war bisher die große Schule der Verleumdung: und sie hat so sehr imponiert, daß heute noch unsere sich als Fürsprecherin des Lebens gebende Wissenschaft die Grundposition der Verleumdung [736] akzeptiert hat und diese Welt als scheinbar, diese Ursachenkette als bloß phänomenal handhabt. Was haßt da eigentlich?
Ich fürchte, es ist immer die Circe der Philosophen, die Moral, welche ihnen diesen Streich gespielt, zu allen Zeiten Verleumder sein zu müssen... Sie glaubten an die moralischen »Wahrheiten«, sie fanden da die obersten Werte, – was blieb ihnen übrig, als, je mehr sie das Dasein begriffen, um so mehr zu ihm nein zu sagen?... Denn dieses Dasein ist unmoralisch... Und dieses Leben ruht auf unmoralischen Voraussetzungen: und alle Moral verneint das Leben –.
– Schaffen wir die wahre Welt ab: und um dies zu können, haben wir die bisherigen obersten Werte abzuschaffen, die Moral... Es genügt nachzuweisen, daß auch die Moral unmoralisch ist, in dem Sinne, in welchem das Unmoralische bis jetzt verurteilt worden ist. Ist auf diese Weise die Tyrannei der bisherigen Werte gebrochen, haben wir die »wahre Welt« abgeschafft, so wird eine neue Ordnung der Werte von selbst folgen müssen.
Die scheinbare Welt und die erlogene Welt – ist der Gegensatz. Letztere hieß bisher die »wahre Welt«, die »Wahrheit«, »Gott«. Diese haben wir abzuschaffen.
Logik meiner Konzeption:
Gesamteinsicht: die bisherigen höchsten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.
[461b]
[737]
Welche Werte bisher obenauf waren.
Moral als oberster Wert, in allen Phasen der Philosophie (selbst bei den Skeptikern). Resultat: diese Welt taugt nichts, es muß eine »wahre Welt« geben.
Was bestimmt hier eigentlich den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? Der Instinkt der décadence, es sind die Erschöpften und Enterbten, die auf diese Weise Rache nehmen und die Herren machen...
Historischer Nachweis: die Philosophen immer décadents, immer im Dienst der nihilistischen Religionen.
Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Vorführung seines Systems der Mittel: absolute Unmoralität der Mittel.
Gesamteinsicht: die bisherigen obersten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.
1. Wie war das eigentlich möglich? Frage: warum unterlag das Leben, die physiologische Wohlgeratenheit überall? Warum gab es keine Philosophie des Ja, keine Religion des Ja?...
Die historischen Anzeichen solcher Bewegungen:
Die heidnische Religion. Dionysos gegen den »Gekreuzigten«.
Die Renaissance. Die Kunst.
2. Die Starken und die Schwachen: die Gesunden und die Kranken; die Ausnahme und die Regel. Es ist kein Zweifel, wer der Stärkere ist...
Gesamtaspekt der Geschichte: Ist der Mensch damit eine Ausnahme in der Geschichte des Lebens? – Einsprache gegen den Darwinismus. Die Mittel der Schwachen, um sich oben zu erhalten, sind Instinkte, sind »Menschlichkeit« geworden, sind »Institutionen«...
3. Nachweis dieser Herrschaft in unsern politischen Instinkten, in unsern sozialen Werturteilen, in unsern Künsten, in unsrer Wissenschaft.
Die Niedergangs-Instinkte sind Herr über die Aufgangs-Instinkte geworden... Der Wille zum Nichts ist Herr geworden über den Willen zum Leben!
– Ist das wahr? ist nicht vielleicht eine größere Garantie des Lebens, der Gattung in diesem Sieg der Schwachen und Mittleren? – ist es[738] vielleicht nur ein Mittel in der Gesamtbewegung des Lebens, eine Tempo-Verzögerung? eine Notwehr gegen etwas noch Schlimmeres?
– Gesetzt, die Starken wären Herr, in allem, und auch in den Wertschätzungen geworden: ziehen wir die Konsequenz, wie sie über Krankheit, Leiden, Opfer denken würden! Eine Selbstverachtung der Schwachen wäre die Folge: sie würden suchen, zu verschwinden und sich auszulöschen. Und wäre dies vielleicht wünschenswert? – und möchten wir eigentlich eine Welt, in der die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte?...
Wir haben zwei »Willen zur Macht« im Kampfe gesehn (im Spezialfall: wir hatten ein Prinzip, dem einen recht zu geben, der bisher unterlag, und dem, der bisher siegte, unrecht zu geben): wir haben die »wahre Welt« als eine »erlogene Welt« und die Moral als eine Form der Unmoralität erkannt. Wir sagen nicht: »der Stärkere hat unrecht«.
Wir haben begriffen, was bisher den obersten Wert bestimmt hat und warum es Herr geworden ist über die gegnerische Wertung –: es war numerisch stärker.
Reinigen wir jetzt die gegnerische Wertung von der Infektion und Halbheit, von der Entartung, in der sie uns allen bekannt ist.
Wiederherstellung der Natur: moralinfrei.
[401]
Warum die Philosophen Verleumder sind. – Die tückische und blinde Feindseligkeit der Philosophen gegen die Sinne – wie viel Pöbel und Biedermann ist in all diesem Haß!
Das Volk betrachtet einen Mißbrauch, von dem es schlechte Folgen fühlt, immer als Einwand gegen das, was mißbraucht worden ist: alle aufständischen Bewegungen gegen Prinzipien, sei es im Gebiete der Politik oder der Wirtschaft, argumentieren immer so, mit dem Hintergedanken, einen abusus als dem Prinzip notwendig und inhärent darzustellen.
Das ist eine jammervolle Geschichte: der Mensch sucht nach einem Prinzip, von wo aus er den Menschen verachten kann, – er erfindet eine Welt, um diese Welt verleumden und beschmutzen zu können: tatsächlich greift er jedesmal nach dem Nichts und konstruiert das Nichts[739] zum »Gott«, zur »Wahrheit« und jedenfalls zum Richter und Verurteiler dieses Seins...
Wenn man einen Beweis dafür haben will, wie tief und gründlich die eigentlich barbarischen Bedürfnisse des Menschen auch noch in seiner Zähmung und »Zivilisation« Befriedigung suchen, so sehe man die »Leitmotive« der ganzen Entwicklung der Philosophie an: – eine Art Rache an der Wirklichkeit, ein heimtückisches Zugrunderichten der Wertung, in der der Mensch lebt, eine unbefriedigte Seele, die die Zustände der Zähmung als Tortur empfindet und am krankhaften Aufdröseln aller Bande, die mit ihr verbinden, ihre Wollust hat.
[461a]
Anti-Darwin. – Die Domestikation des Menschen: welchen definitiven Wert kann sie haben? oder hat überhaupt eine Domestikation einen definitiven Wert? – Man hat Gründe, dies letztere zu leugnen.
Die Schule Darwins macht zwar große Anstrengung, uns zum Gegenteil zu überreden: sie will, daß die Wirkung der Domestikation tief, ja fundamental werden kann. Einstweilen halten wir am Alten fest: es hat sich nichts bisher bewiesen, als eine ganz oberflächliche Wirkung durch Domestikation – oder aber die Degenereszenz. Und alles, was der menschlichen Hand und Züchtung entschlüpft, kehrt fast sofort wieder in seinen Natur-Zustand zurück. Der Typus bleibt konstant: man kann nicht »dénaturer la nature«.
Man rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken; daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht...
Man teilt der natürlichen Selektion zugleich langsame und unendliche Metamorphosen zu: man will glauben, daß jeder Vorteil sich vererbt und sich in abfolgenden Geschlechtern immer stärker ausdrückt (während die Erblichkeit so kapriziös ist...); man betrachtet die glücklichen Anpassungen gewisser Wesen an sehr besondere Lebensbedingungen und man erklärt, daß sie durch den Einfluß des Milieus erlangt seien.[740]
Man findet aber Beispiele der unbewußten Selektion nirgendswo (ganz und gar nicht). Die disparatesten Individuen einigen sich, die extremen mischen sich in die Masse. Alles konkurriert, seinen Typus aufrechtzuerhalten; Wesen, die äußere Zeichen haben, die sie gegen gewisse Gefahren schützen, verlieren dieselben nicht, wenn sie unter Umstände kommen, wo sie ohne Gefahr leben... Wenn sie Orte bewohnen, wo das Kleid aufhört, sie zu verbergen, nähern sie sich keineswegs dem Milieu an.
Man hat die Auslese der Schönsten in einer Weise übertrieben, wie sie weit über den Schönheitstrieb unsrer eignen Rasse hinausgeht! Tatsächlich paart sich das Schönste mit sehr enterbten Kreaturen, das Größte mit dem Kleinsten. Fast immer sehen wir Männchen und Weibchen von jeder zufälligen Begegnung profitieren und sich ganz und gar nicht wählerisch zeigen. – Modifikation durch Klima und Nahrung: – aber in Wahrheit gleichgültig.
Es gibt keine Übergangsformen. –
Man behauptet die wachsende Entwicklung der Wesen. Es fehlt jedes Fundament. Jeder Typus hat seine Grenze: über diese hinaus gibt es keine Entwicklung. Bis dahin absolute Regelmäßigkeit.
Meine Gesamtansicht. – Erster Satz: der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben.
Zweiter Satz: der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem andern Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren... Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander. Die reichsten und komplexesten Formen – denn mehr besagt das Wort »höherer Typus« nicht – gehen leichter zugrunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Not oben: letztere haben eine kompromittierende Fruchtbarkeit für sich. – Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zugrunde. Sie sind jeder Art von décadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon décadents... Die kurze Dauer der Schönheit, des[741] Genies, des Cäsar ist sui generis: dergleichen vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes, kein »Glücksfall«... Das liegt an keinem besonderen Verhängnis und »bösen Willen« der Natur, sondern einfach am Begriff »höherer Typus«: der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Komplexität – eine größere Summe koordinierter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. Das »Genie« ist die sublimste Maschine, die es gibt – folglich die zerbrechlichste.
Dritter Satz: die Domestikation (die »Kultur«) des Menschen geht nicht tief... Wo sie tief geht, ist sie sofort die Degenereszenz (Typus: der Christ). Der »wilde« Mensch (oder, moralisch ausgedrückt: der böse Mensch) ist eine Rückkehr zur Natur – und, in gewissem Sinne, seine Wiederherstellung, seine Heilung von der »Kultur«...
[684]
Wissenschaftlichkeit: als Dressur oder als Instinkt. – Bei den griechischen Philosophen sehe ich einen Niedergang der Instinkte: sonst hätten sie nicht dermaßen fehlgreifen können, den bewußten Zustand als den wertvolleren anzusetzen. Die Intensität des Bewußtseins steht im umgekehrten Verhältnis zur Leichtigkeit und Schnelligkeit der zerebralen Übermittlung. Dort regierte die umgekehrte Meinung über den Instinkt: was immer das Zeichen geschwächter Instinkte ist.
Wir müssen in der Tat das vollkommene Leben dort suchen, wo es am wenigsten mehr bewußt wird (d. h. seine Logik, seine Gründe, seine Mittel und Absichten, seine Nützlichkeit sich vorführt). Die Rückkehr zur Tatsache des bon sens, des bon homme, der »kleinen Leute« aller Art. Einmagazinierte Rechtschaffenheit und Klugheit seit Geschlechtern, die sich niemals ihrer Prinzipien bewußt wird und selbst einen kleinen Schauder vor Prinzipien hat. Das Verlangen nach einer raisonnierenden Tugend ist nicht räsonabel... Ein Philosoph ist mit einem solchen Verlangen kompromittiert.
[439]
Reaktion der kleinen Leute: – Das höchste Gefühl der Macht gibt die Liebe. Zu begreifen, inwiefern hier nicht der Mensch überhaupt, sondern eine Art Mensch redet.
»Wir sind göttlich in der Liebe, wir werden ›Kinder Gottes‹, Gott liebt uns und will gar nichts von uns, als Liebe«; das heißt: alle Moral,[742] alles Gehorchen und Tun bringt nicht jenes Gefühl von Macht und Freiheit hervor, wie es die Liebe hervorbringt; – aus Liebe tut man nichts Schlimmes, man tut viel mehr, als man aus Gehorsam und Tugend täte.
Hier ist das Herdenglück, das Gemeinschafts-Gefühl im großen und kleinen, das lebendige Eins-Gefühl als Summe des Lebensgefühls empfunden. Das Helfen und Sorgen und Nützen erregt fortwährend das Gefühl der Macht; der sichtbare Erfolg, der Ausdruck der Freude unterstreicht das Gefühl der Macht; der Stolz fehlt nicht, als Gemeinde, als Wohnstätte Gottes, als »Auserwählte«.
Tatsächlich hat der Mensch nochmals eine Alteration der Persönlichkeit erlebt: diesmal nannte er sein Liebesgefühl Gott. Man muß ein Erwachen eines solchen Gefühls sich denken, eine Art Entzücken, eine fremde Rede, ein »Evangelium«, – diese Neuheit war es, welche ihm nicht erlaubte, sich die Liebe zuzurechnen –: er meinte, daß Gott vor ihm wandle und in ihm lebendig geworden sei. – »Gott kommt zu den Menschen«, der »Nächste« wird transfiguriert, in einen Gott (insofern an ihm das Gefühl der Liebe sich auslöst). Jesus ist der Nächste, so wie dieser zur Gottheit, zur Machtgefühl erregenden Ursache umgedacht wurde.
[176]
Warum alles auf Schauspielerei hinauskam. – Die rudimentäre Psychologie, welche nur die bewußten Momente des Menschen rechnete (als Ursachen), welche »Bewußtheit« als Attribut der Seele nahm, welche einen Willen (d. h. eine Absicht) hinter allem Tun suchte: sie hatte nur nötig, auf die Frage, erstens: Was will der Mensch? zu antworten:
Das Glück (man durfte nicht sagen »Macht«: das wäre unmoralisch gewesen); – folglich ist in allem Handeln des Menschen eine Absicht, mit ihm das Glück zu erreichen. Zweitens: wenn tatsächlich der Mensch das Glück nicht erreicht, woran liegt das? An den Fehlgriffen in bezug auf die Mittel. – Welches ist unfehlbar das Mittel zum Glück? Antwort: die Tugend. – Warum die Tugend? – Weil sie die höchste Vernünftigkeit ist und weil Vernünftigkeit den Fehler unmöglich macht, sich in den Mitteln zu vergreifen: als Vernunft ist die Tugend der Weg zum Glück. Die Dialektik ist das beständige Handwerk der Tugend, weil sie alle Trübung des Intellekts, alle Affekte ausschließt.[743]
Tatsächlich will der Mensch nicht das »Glück«. Lust ist ein Gefühl von Macht: wenn man die Affekte ausschließt, so schließt man die Zustände aus, die am höchsten das Gefühl der Macht, folglich Lust geben. Die höchste Vernünftigkeit ist ein kalter, klarer Zustand, der fern davon ist, jenes Gefühl von Glück zu geben, das der Rausch jeder Art mit sich bringt...
Die antiken Philosophen bekämpfen alles, was berauscht, – was die absolute Kälte und Neutralität des Bewußtseins beeinträchtigt... Sie waren konsequent, auf Grund ihrer falschen Voraussetzung: daß Bewußtsein der hohe, der oberste Zustand sei, die Voraussetzung der Vollkommenheit, – während das Gegenteil wahr ist – – –
Soweit gewollt wird, soweit gewußt wird, gibt es keine Vollkommenheit im Tun irgendwelcher Art. Die antiken Philosophen waren die größten Stümper der Praxis, weil sie sich theoretisch verurteilten, zur Stümperei... In praxi lief alles auf Schauspielerei hinaus: – und wer dahinter kam, Pyrrho z. B., urteilte wie jedermann, nämlich daß in der Güte und Rechtschaffenheit die »kleinen Leute« den Philosophen weit über sind.
Alle tieferen Naturen des Altertums haben Ekel an den Philosophen der Tugend gehabt: man sah Streithämmel und Schauspieler in ihnen (Urteil über Plato: seitens Epikurs, seitens Pyrrhos).
Resultat: In der Praxis des Lebens, in der Geduld, Güte und gegenseitigen Förderung sind ihnen die kleinen Leute über: – ungefähr das Urteil, wie es Dostojewskij oder Tolstoi für seine Muschiks in Anspruch nimmt: sie sind philosophischer in der Praxis, sie haben eine beherztere Art, mit dem Notwendigen fertig zu werden...
[434]
Ein andrer Weg, den Menschen aus seiner Erniedrigung zu ziehen, welche der Abgang der hohen und starken Zustände, wie als fremder Zustände, mit sich brachte, war die Verwandtschafts-Theorie. Diese hohen und starken Zustände konnten wenigstens als Einwirkungen unsrer Vorfahren ausgelegt werden, wir gehörten zueinander, solidarisch, wir wachsen in unsern eignen Augen, indem wir nach uns bekannter Norm handeln.
Versuch vornehmer Familien, die Religion mit ihrem Selbstgefühl auszugleichen. – Dasselbe tun die Dichter und Seher; sie fühlen sich[744] stolz, gewürdigt und auserwählt zu sein zu solchem Verkehre, – sie legen Wert darauf, als Individuen gar nicht in Betracht zu kommen, bloße Mundstücke zu sein (Homer).
Schrittweises Besitz-ergreifen von seinen hohen und stolzen Zuständen, Besitzergreifen von seinen Handlungen und Werken. Ehedem glaubte man sich zu ehren, wenn man für die höchsten Dinge, die man tat, sich nicht verantwortlich wußte, sondern – Gott. Die Unfreiheit des Willens galt als das, was einer Handlung einen höheren Wert verlieh: damals war ein Gott zu ihrem Urheber gemacht.
[137]
Moral als Versuch, den menschlichen Stolz herzustellen. – Die Theorie vom »freien Willen« ist antireligiös. Sie will dem Menschen ein Anrecht schaffen, sich für seine hohen Zustände und Handlungen als Ursache denken zu dürfen: sie ist eine Form des wachsenden Stolzgefühls.
Der Mensch fühlt seine Macht, sein »Glück«, wie man sagt: es muß »Wille« sein vor diesem Zustand – sonst gehört er ihm nicht an. Die Tugend ist der Versuch, ein Faktum von Wollen und Gewollt-haben als notwendiges Antezedens vor jedes hohe und starke Glücksgefühl zu setzen: – wenn regelmäßig der Wille zu gewissen Handlungen im Bewußtsein vorhanden ist, so darf ein Machtgefühl als dessen Wirkung ausgelegt werden. – Das ist eine bloße Optik der Psychologie:
immer unter der falschen Voraussetzung, daß uns nichts zugehört, was wir nicht als gewollt im Bewußtsein haben. Die ganze Verantwortlichkeitslehre hängt an dieser naiven Psychologie, daß nur der Wille Ursache ist und daß man wissen muß, gewollt zu haben, um sich als Ursache glauben zu dürfen.
– Kommt die Gegenbewegung: die der Moralphilosophen, immer noch unter dem gleichen Vorurteil, daß man nur für etwas verantwortlich ist, das man gewollt hat. Der Wert des Menschen als moralischer Wert angesetzt: folglich muß seine Moralität eine causa prima sein; folglich muß ein Prinzip im Menschen sein, ein »freier Wille« als causa prima. – Hier ist immer der Hintergedanke: wenn der Mensch nicht causa prima ist als Wille, so ist er unverantwortlich, – folglich gehört er gar nicht vor das moralische Forum, – die Tugend oder das Laster wären automatisch und machinal...
[745] In summa: damit der Mensch vor sich Achtung haben kann, muß er fähig sein, auch böse zu werden.
[288]
Die Schauspielerei als Folge der Moral des »freien Willens«. – Es ist ein Schritt in der Entwicklung des Machtgefühls selbst, seine hohen Zustände (seine Vollkommenheit) selber auch verursacht zu haben, – folglich, schloß man sofort, gewollt zu haben...
(Kritik: Alles vollkommne Tun ist gerade unbewußt und nicht mehr gewollt; das Bewußtsein drückt einen unvollkommnen und oft krankhaften Personalzustand aus. Die persönliche Vollkommenheit als bedingt durch Willen, als Bewußtheit, als Vernunft mit Dialektik, ist eine Karikatur, eine Art von Selbstwiderspruch... Der Grad von Bewußtheit macht ja die Vollkommenheit unmöglich... Form der Schauspielerei.)
[289]
Vom Ursprung der Religion. – In derselben Weise, in der jetzt noch der ungebildete Mensch daran glaubt, der Zorn sei die Ursache davon, daß er zürnt, der Geist davon, daß er denkt, die Seele davon, daß er fühlt, kurz, so wie auch jetzt noch unbedenklich eine Masse von psychologischen Entitäten angesetzt wird, welche Ursachen sein sollen:
so hat der Mensch auf einer noch naiveren Stufe eben dieselben Erscheinungen mit Hilfe von psychologischen Personal-Entitäten erklärt. Die Zustände, die ihm fremd, hinreißend, überwältigend schienen, legte er sich als Obsession und Verzauberung unter der Macht einer Person zurecht. (So führt der Christ, die heute am meisten naive und zurückgebildete Art Mensch, die Hoffnung, die Ruhe, das Gefühl der »Erlösung« auf ein psychologisches Inspirieren Gottes zurück: bei ihm, als einem wesentlich leidenden und beunruhigten Typus, erscheinen billigerweise die Glücks-, Ergebungs- und Ruhegefühle als das Fremde, als das der Erklärung Bedürftige.) Unter klugen, starken und lebensvollen Rassen erregt am meisten der Epileptische die Überzeugung, daß hier eine fremde Macht im Spiele ist; aber auch jede verwandte Unfreiheit, z. B. die des Begeisterten, des Dichters, des großen Verbrechers, der Passionen wie Liebe und Rache dient zur Erfindung von außermenschlichen Mächten. Man konkresziert einen Zustand in eine Person: und behauptet, dieser Zustand, wenn er an uns auftritt,[746] sei die Wirkung jener Person. Mit andern Worten: in der psychologischen Gottbildung wird ein Zustand, um Wirkung zu sein, als Ursache personifiziert.
Die psychologische Logik ist die: das Gefühl der Macht, wenn es plötzlich und überwältigend den Menschen überzieht – und das ist in allen großen Affekten der Fall –, erregt ihm einen Zweifel an seiner Person: er wagt sich nicht als Ursache dieses erstaunlichen Gefühls zu denken – und so setzt er eine stärkere Person, eine Gottheit für diesen Fall an.
In summa: der Ursprung der Religion liegt in den extremen Gefühlen der Macht, welche, als fremd, den Menschen überraschen: und dem Kranken gleich, der ein Glied zu schwer und seltsam fühlt und zum Schlusse kommt, daß ein anderer Mensch über ihm liege, legt sich der naive homo religiosus in mehrere Personen auseinander. Die Religion ist ein Fall der »altération de la personnalité«. Eine Art Furcht– und Schreckgefühl vor sich selbst... Aber ebenso ein außerordentliches Glücks– und Höhengefühl... Unter Kranken genügt das Gesundheitsgefühl, um an Gott, an die Nähe Gottes zu glauben.
[135]
Rudimentäre Psychologie des religiösen Menschen: – Alle Veränderungen sind Wirkungen; alle Wirkungen sind Willens-Wirkungen (– der Begriff »Natur«, »Naturgesetz« fehlt); zu allen Wirkungen gehört ein Täter. Rudimentäre Psychologie: man ist selber nur in dem Falle Ursache, wo man weiß, daß man gewollt hat.
Folge: die Zustände der Macht imputieren dem Menschen das Gefühl, nicht die Ursache zu sein, unverantwortlich dafür zu sein –: sie kommen, ohne gewollt zu sein: folglich sind wir nicht die Urheber –: der unfreie Wille (d. h. das Bewußtsein einer Veränderung mit uns, ohne daß wir sie gewollt haben) bedarf eines fremden Willens.
Konsequenz: der Mensch hat alle seine starken und erstaunlichen Momente nicht gewagt, sich zuzurechnen, – er hat sie als »passiv«, als »erlitten«, als Überwältigungen konzipiert –: die Religion ist eine Ausgeburt eines Zweifels an der Einheit der Person, eine altération der Persönlichkeit –: insofern alles Große und Starke vom Menschen als übermenschlich, als fremd konzipiert wurde, verkleinerte sich der Mensch, – er legte die zwei Seiten, eine sehr erbärmliche und schwache und[747] eine sehr starke und erstaunliche in zwei Sphären auseinander, hieß die erste »Mensch«, die zweite »Gott«.
Er hat das immer fortgesetzt; er hat, in der Periode der moralischen Idiosynkrasie seine hohen und sublimen Moral-Zustände nicht als »gewollt«, als »Werk« der Person ausgelegt. Auch der Christ legt seine Person in eine mesquine und schwache Fiktion, die er Mensch nennt, und eine andere, die er Gott (Erlöser, Heiland) nennt, auseinander –
Die Religion hat den Begriff »Mensch« erniedrigt; ihre extreme Konsequenz ist, daß alles Gute, Große, Wahre übermenschlich ist und nur durch eine Gnade geschenkt...
[136]
Anti-Darwin. – Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehn von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zugunsten der Stärkeren, Besser-Weg-gekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der unter-mittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist, neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins sich überall getäuscht hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wiedererkenne, gibt uns das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion zugunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statthat: die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, die Überzahl gegen sich haben. Mein Gesamtaspekt der Welt der Werte zeigt, daß in den obersten Werten, die über der Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektions-Typen, die Oberhand haben: vielmehr die Typen der décadence, – vielleicht gibt es nichts Interessanteres in der Welt, als dieses unerwünschte Schauspiel...
So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu beweisen gegen die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich/Belasteten. Will man die Realität zur Moral formulieren, so lautet diese Moral: die Mittleren[748] sind mehr wert, als die Ausnahmen; die décadence-Gebilde mehr als die Mittleren; der Wille zum Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben – und das Gesamtziel ist, nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt: »besser nicht sein, als sein.«
Gegen die Formulierung der Realität zur Moral empöre ich mich: deshalb perhorresziere ich das Christentum mit einem tödlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebärden schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts, der Tugend, der Göttlichkeit zu geben...
Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft auf den Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als ihn die Schule Darwins lehrt, – nämlich ich sehe überall die obenauf, die übrigbleibend, die das Leben, den Wert des Lebens kompromittieren.
– Der Irrtum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann man blind sein, um gerade hier falsch zu sehen?
Daß die Gattungen einen Fortschritt darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen stellen sie ein Niveau dar. Daß die höheren Organismen aus den niederen sich entwickelt hätten, ist durch keinen Fall bisher bezeugt. Ich sehe, daß die niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List im Übergewicht sind,
– ich sehe nicht, wie eine zufällige Veränderung einen Vorteil abgibt, zum mindesten nicht für eine so lange Zeit: diese wäre wieder ein neues Motiv, zu er klären, warum eine zufällige Veränderung derartig stark geworden ist.
Ich finde die »Grausamkeit der Natur«, von der man so viel redet, an einer andern Stelle: sie ist grausam gegen ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles.
In summa: das Wachstum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz ihrer Glückskinder, ihrer Starken vielleicht weniger garantiert, als durch die Präponderanz der mittleren und niederen Typen... In letzteren ist die große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die rasche Verwüstung, die schnelle Zahl-Verminderung.
[685]
Einheitskonzeption der Psychologie. – Wir sind gewöhnt daran, die Ausgestaltung einer ungeheuren Fülle von Formen verträglich zu halten mit einer Herkunft aus der Einheit.[749]
Meine Theorie wäre: – daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form ist, daß alle andern Affekte nur seine Ausgestaltungen sind;
daß es eine bedeutende Aufklärung gibt, an Stelle des individuellen »Glücks« (nach dem jedes Lebende streben soll) zu setzen Macht: »es strebt nach Macht, nach mehr in der Macht«; – Lust ist nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Be wußtheit – (– es strebt nicht nach Lust: sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht –);
daß alle treibende Kraft Wille zur Macht ist, daß es keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem gibt.
In unsrer Wissenschaft, wo der Begriff Ursache und Wirkung reduziert ist auf das Gleichungs-Verhältnis, mit dem Ehrgeiz, zu beweisen, daß auf jeder Seite dasselbe Quantum von Kraft ist, fehlt die treibende Kraft: wir betrachten nur Resultate, wir setzen sie als gleich in Hinsicht auf Inhalt an Kraft...
Es ist eine bloße Erfahrungssache, daß die Veränderung nicht aufhört: an sich haben wir nicht den geringsten Grund, zu verstehen, daß auf eine Veränderung eine andre folgen müsse. Im Gegenteil: ein erreichter Zustand schiene sich selbst erhalten zu müssen, wenn es nicht ein Vermögen in ihm gäbe, eben nicht sich erhalten zu wollen... Der Satz des Spinoza von der »Selbsterhaltung« müßte eigentlich der Veränderung einen Halt setzen: aber der Satz ist falsch, das Gegenteil ist wahr. Gerade an allem Lebendigen ist am deutlichsten zu zeigen, daß es alles tut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden...
[688]
Ist »Wille zur Macht« eine Art »Wille« oder identisch mit dem Begriff »Wille«? Heißt es so viel als begehren? oder kommandieren? Ist es der »Wille«, von dem Schopenhauer meint, er sei das »An sich der Dinge«?
Mein Satz ist: daß Wille der bisherigen Psychologie eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung ist, daß es diesen Willen gar nicht gibt, daß, statt die Ausgestaltung eines bestimmten Willens in viele Formen zu fassen, man den Charakter des Willens weggestrichen hat, indem man den Inhalt, das Wohin? heraussubtrahiert hat –: das ist im höchsten Grade bei Schopenhauer der Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er »Wille« nennt. Es handelt sich noch weniger um einen »Willen zum[750] Leben«: denn das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur Macht;
– es ist ganz willkürlich, zu behaupten, daß alles danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten.
[692]
Es gibt weder »Geist«, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um »Subjekt und Objekt«, sondern um eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen Richtigkeit, vor allem Regelmäßigkeit ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht...
Die Erkenntnis arbeitet als Werkzeug der Macht. So liegt es auf der Hand, daß sie wächst mit jedem Mehr von Macht...
Sinn der »Erkenntnis«: hier ist, wie bei »gut« oder »schön«, der Begriff streng und eng anthropozentrisch und biologisch zu nehmen. Damit eine bestimmte Art sich erhält und wächst in ihrer Macht, muß sie in ihrer Konzeption der Realität so viel Berechenbares und Gleich-bleibendes erfassen, daß daraufhin ein Schema ihres Verhaltens konstruiert werden kann. Die Nützlichkeit der Erhaltung – nicht irgendein abstrakt-theoretisches Bedürfnis, nicht betrogen zu werden – steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnisorgane..., sie entwickeln sich so, daß ihre Beobachtung genügt, uns zu erhalten. Anders: das Maß des Erkennen-wollens hängt ab von dem Maß des Wachsens des Willens zur Macht der Art: eine Art ergreift so viel Realität, um über sie Herr zu werden, um sie in Dienst zu nehmen.
[480]
Der mechanistische Begriff der »Bewegung« ist bereits eine Übersetzung des Original-Vorgangs in die Zeichensprache von Auge und Getast.
Der Begriff »Atom«, die Unterscheidung zwischen einem »Sitz der treibenden Kraft und ihr selber«, ist eine Zeichensprache aus unsrer logisch-psychischen Welt her.
Es steht nicht in unserm Belieben, unser Ausdrucksmittel zu verändern: es ist möglich, zu begreifen, inwiefern es bloße Semiotik ist. Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise ist unsinnig: es liegt im Wesen einer Sprache, eines Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken... Der Begriff »Wahrheit« ist widersinnig. Das ganze Reich[751] von »wahr – falsch« bezieht sich nur auf Relationen zwischen Wesen, nicht auf das »An sich«... Es gibt kein »Wesen an sich« (die Relationen konstituieren erst Wesen –), so wenig es eine »Erkenntnis an sich« geben kann.
[625]
Will man den erstaunlichsten Beweis dafür, wie weit die Transfigurationskraft des Rausches geht? – Die »Liebe« ist dieser Beweis:
Das, was Liebe heißt in allen Sprachen und Stummheiten der Welt. Der Rausch wird hier mit der Realität in einer Weise fertig, daß im Bewußtsein des Liebenden die Ursache ausgelöscht und etwas andres sich an ihrer Stelle zu finden scheint – ein Zittern und Aufglänzen aller Zauberspiegel der Circe... Hier macht Mensch und Tier keinen Unterschied; noch weniger Geist, Güte, Rechtschaffenheit. Man wird fein genarrt, wenn man fein ist; man wird grob genarrt, wenn man grob ist: aber die Liebe, und selbst die Liebe zu Gott, die Heiligen-Liebe »erlöster Seelen« bleibt in der Wurzel eins: ein Fieber, das Gründe hat sich zu transfigurieren, ein Rausch, der gut tut, über sich zu lügen... Und jedenfalls lügt man gut, wenn man liebt, vor sich und über sich: man scheint sich transfiguriert, stärker, reicher, vollkommener, man ist vollkommener... Wir finden hier die Kunst als organische Funktion: wir finden sie eingelegt in den engelhaftesten Instinkt »Liebe«: wir finden sie als größtes Stimulans des Lebens – Kunst somit als sublim zweckmäßig auch noch darin, daß sie lügt... Aber wir würden irren, bei ihrer Kraft, zu lügen, stehen zu bleiben: sie tut mehr, als bloß imaginieren: sie verschiebt selbst die Werte. Und nicht nur daß sie das Gefühl der Werte verschiebt: der Liebende ist mehr wert, ist stärker. Bei den Tieren treibt dieser Zustand neue Waffen, Pigmente, Farben und Formen heraus: vor allem neue Bewegungen, neue Rhythmen, neue Locktöne und Verführungen. Beim Menschen ist es nicht anders. Sein Gesamthaushalt ist reicher als je, mächtiger, ganzer als im Nichtliebenden. Der Liebende wird Verschwender: er ist reich genug dazu. Er wagt jetzt, wird Abenteurer, wird ein Esel an Großmut und Unschuld; er glaubt wieder an Gott, er glaubt an die Tugend, weil er an die Liebe glaubt: und andrerseits wachsen diesem Idioten des Glücks Flügel und neue Fähigkeiten, und selbst zur Kunst tut sich ihm die Tür auf. Rechnen wir aus der Lyrik in Ton und Wort die[752] Suggestion jenes intestinalen Fiebers ab: was bleibt von der Lyrik und Musik übrig? ... L'art pour l'art vielleicht: das virtuose Gequak kaltgestellter Frösche, die in ihrem Sumpfe desperieren... Den ganzen Rest schuf die Liebe...
[808]
Alle Kunst wirkt als Suggestion auf die Muskeln und Sinne, welche ursprünglich beim naiven künstlerischen Menschen tätig sind:
sie redet immer nur zu Künstlern – sie redet zu dieser Art von feiner Beweglichkeit des Leibes. Der Begriff »Laie« ist ein Fehlgriff. Der Taube ist keine Spezies des Guthörigen.
Alle Kunst wirkt tonisch, mehrt die Kraft, entzündet die Lust (d. h. das Gefühl der Kraft), regt alle die feineren Erinnerungen des Rausches an – es gibt ein eigenes Gedächtnis, das in solche Zustände hinunterkommt: eine ferne und flüchtige Welt von Sensationen kehrt da zurück.
Das Häßliche, d. h. der Widerspruch zur Kunst, das, was ausgeschlossen wird von der Kunst, ihr Nein: – jedesmal, wenn der Niedergang, die Verarmung an Leben, die Ohnmacht, die Auflösung, die Verwesung von fern nur angeregt wird, reagiert der ästhetische Mensch mit seinem Nein. Das Häßliche wirkt depressiv: es ist der Ausdruck einer Depression. Es nimmt Kraft, es verarmt, es drückt... Das Häßliche suggeriert Häßliches; man kann an seinen Gesundheitszuständen erproben, wie unterschiedlich das Schlechtbefinden auch die Fähigkeit der Phantasie des Häßlichen steigert. Die Auswahl wird anders, von Sachen, Interessen, Fragen. Es gibt einen dem Häßlichen nächstverwandten Zustand auch im Logischen – Schwere, Dumpfheit. Mechanisch fehlt dabei das Gleichgewicht: das Häßliche hinkt, das Häßliche stolpert – Gegensatz einer göttlichen Leichtfertigkeit des Tanzenden.
Der ästhetische Zustand hat einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mitteilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen – er ist die Quelle der Sprachen. Die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen so gut als die Gebärden- und Blicksprachen. Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Vermögen sind subtilisiert aus volleren[753] Vermögen. Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln.
Jede reife Kunst hat eine Fülle Konvention zur Grundlage: insofern sie Sprache ist. Die Konvention ist die Bedingung der großen Kunst, nicht deren Verhinderung... Jede Erhöhung des Lebens steigert die Mitteilungs-Kraft, insgleichen die Verständnis-Kraft des Menschen. Das Sich-hineinleben in andere Seelen ist ursprünglich nichts Moralisches, sondern eine physiologische Reizbarkeit der Suggestion: die »Sympathie« oder was man »Altruismus« nennt, sind bloße Ausgestaltungen jenes zur Geistigkeit gerechneten psychomotorischen Rapports (induction psycho-motrice meint Ch. Féré). Man teilt sich nie Gedanken mit: man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden.
[809]
Ich setze hier eine Reihe psychologischer Zustände als Zeichen vollen und blühenden Lebens hin, welche man heute gewohnt ist, als krankhaft zu beurteilen. Nun haben wir inzwischen verlernt, zwischen gesund und krank von einem Gegensatze zu reden: es handelt sich um Grade – meine Behauptung in diesem Falle ist, daß, was heute »gesund« genannt wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen Verhältnissen gesund wäre –, daß wir relativ krank sind... Der Künstler gehört zu einer noch stärkeren Rasse. Was uns schon schädlich, was bei uns krankhaft wäre, ist bei ihm Natur – – Aber man wendet uns ein, daß gerade die Verarmung der Maschine die extravagante Verständniskraft über jedwede Suggestion ermögliche:
Zeugnis unsre hysterischen Weiblein.
Die Überfülle an Säften und Kräften kann so gut Symptome der partiellen Unfreiheit, von Sinnes-Halluzinationen, von Suggestions-Raffinements mit sich bringen, wie eine Verarmung an Leben –, der Reiz ist anders bedingt, die Wirkung bleibt sich gleich... Vor allem ist die Nachwirkung nicht dieselbe; die extreme Erschlaffung aller morbiden Naturen nach ihren Nerven-Exzentrizitäten hat nichts mit den Zuständen des Künstlers gemein: der seine guten Zeiten nicht abzubüßen hat... Er ist reich genug dazu: er kann verschwenden, ohne arm zu werden.
Wie man heute »Genie« als eine Form der Neurose beurteilen dürfte,[754] so vielleicht auch die künstlerische Suggestiv-Kraft – und unsre Artisten sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!! Das aber spricht gegen »heute«, und nicht gegen die »Künstler«.
Die unkünstlerischen Zustände: die der Objektivität, der Spiegelung, des ausgehängten Willens... (das skandalöse Mißverständnis Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur Verneinung des Lebens nimmt)... Die unkünstlerischen Zustände: der Verarmenden, Abziehenden, Abblassenden, unter deren Blick das Leben leidet – der Christ.
[812]
Die Romantik: eine zweideutige Frage, wie alles Moderne.
Die ästhetischen Zustände zwiefach.
Die Vollen und Schenkenden im Gegensatz zu den Suchenden, Begehrenden.
[843]
Das Rauschgefühl, tatsächlich einem Mehr von Kraft entsprechend: am stärksten in der Paarungszeit der Geschlechter: neue Organe, neue Fertigkeiten, Farben, Formen; – die »Verschönerung« ist eine Folge der erhöhten Kraft. Verschönerung als Ausdruck eines siegreichen Willens, einer gesteigerten Koordination, einer Harmonisierung aller starken Begehrungen, eines unfehlbar perpendikulären Schwergewichts. Die logische und geometrische Vereinfachung ist eine Folge der Krafterhöhung: umgekehrt erhöht wieder das Wahrnehmen solcher Vereinfachung das Kraftgefühl... Spitze der Entwicklung: der große Stil.
Die Häßlichkeit bedeutet décadence eines Typus, Widerspruch und mangelnde Koordination der inneren Begehrungen – bedeutet einen Niedergang an organisierender Kraft, an »Willen«, psychologisch geredet.
Der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl... Die Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert: ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar; die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten; die Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten; die Divination, die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hilfe hin, auf jede Suggestion hin: die »intelligente« Sinnlichkeit-; die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln, als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto; die Stärke als[755] Lust am Beweis der Stärke, als Bravourstück, Abenteuer, Furchtlosigkeit, Gleichgültigkeit gegen Leben und Tod... Alle diese Höhen-Momente des Lebens regen sich gegenseitig an; die Bilder- und Vorstellungswelt des einen genügt, als Suggestion, für den andern: – dergestalt sind schließlich Zustände ineinander verwachsen, die vielleicht Grund hätten, sich fremd zu bleiben. Zum Beispiel: das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung (– zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich koordiniert. Was gefällt allen frommen Frauen, alten? jungen? Antwort: ein Heiliger mit schönen Beinen, noch jung, noch Idiot). Die Grausamkeit in der Tragödie und das Mitleid (– ebenfalls normal koordiniert...). Frühling, Tanz, Musik: – alles Wettbewerb der Geschlechter, – und auch noch jene Faustische »Unendlichkeit im Busen«.
Die Künstler, wenn sie etwas taugen, sind (auch leiblich) stark angelegt, überschüssig. Krafttiere, sensuell; ohne eine gewisse Überheizung des geschlechtlichen Systems ist kein Raffael zu denken... Musik machen ist auch noch eine Art Kindermachen; Keuschheit ist bloß die Ökonomie eines Künstlers – und jedenfalls hört auch bei Künstlern die Fruchtbarkeit mit der Zeugungskraft auf... Die Künstler sollen nichts so sehen, wie es ist, sondern voller, sondern einfacher, sondern stärker: dazu muß ihnen eine Art Jugend und Frühling, eine Art habitueller Rausch im Leben eigen sein.
[800]
Wie weit die Verderbnis der Psychologen durch die Moral-Idiosynkrasie geht: – niemand der alten Philosophen hat den Mut zur Theorie des »unfreien Willens« gehabt (d. h. zu einer die Moral negierenden Theorie); – niemand hat den Mut gehabt, das Typische der Lust, jeder Art Lust (»Glück«) zu definieren als Gefühl der Macht: denn die Lust an der Macht galt als unmoralisch; – niemand hat den Mut gehabt, die Tugend als eine Folge der Unmoralität (eines Machtwillens) im Dienste der Gattung (oder der Rasse oder der Polis) zu begreifen (denn der Machtwille galt als Unmoralität).
Es kommt in der ganzen Entwicklung der Moral keine Wahrheit vor: alle Begriffs-Elemente, mit denen gearbeitet wird, sind Fiktionen; alle Psychologica, an die man sich hält, sind Fälschungen; alle Formen der Logik, welche man in dies Reich der Lüge einschleppt, sind[756] Sophismen. Was die Moral-Philosophen selbst auszeichnet, das ist die vollkommene Absenz jeder Sauberkeit, jeder Selbstzucht des Intellekts: sie halten »schöne Gefühle« für Argumente: ihr »geschwellter Busen« dünkt ihnen der Blasebalg der Gottheit... Die Moral-Philosophie ist die skabröse Periode in der Geschichte des Geistes.
Das erste große Beispiel: unter dem Namen der Moral, als Patronat der Moral ein unerhörter Unfug ausgeübt, tatsächlich eine décadence in jeder Hinsicht. Man kann nicht streng genug darauf insistieren, daß die großen griechischen Philosophen die décadence jedweder griechischen Tüchtigkeit repräsentieren und kontagiös machen... Diese gänzlich abstrakt gemachte »Tugend« war die größte Verführung, sich selbst abstrakt zu machen: d. h. sich herauszulösen.
Der Augenblick ist sehr merkwürdig: die Sophisten streifen an die erste Kritik der Moral, die erste Einsicht über die Moral: – sie stellen die Mehrheit (die lokale Bedingtheit) der moralischen Werturteile nebeneinander; – sie geben zu verstehen, daß jede Moral sich dialektisch rechtfertigen lasse: d. h. sie erraten, wie alle Begründung einer Moral notwendig sophistisch sein muß – ein Satz, der hinterdrein im allergrößten Stil durch die antiken Philosophen von Plato an (bis Kant) bewiesen worden ist; – sie stellen die erste Wahrheit hin, daß eine »Moral an sich«, ein »Gutes an sich« nicht existiert, daß es Schwindel ist, von »Wahrheit« auf diesem Gebiete zu reden.
Wo war nur die intellektuelle Rechtschaffenheit damals?
Die griechische Kultur der Sophisten war aus allen griechischen Instinkten herausgewachsen; sie gehört zur Kultur der Perikleischen Zeit, so notwendig wie Plato nicht zu ihr gehört: sie hat ihre Vorgänger in Heraklit, in Demokrit, in den wissenschaftlichen Typen der alten Philosophie; sie hat in der hohen Kultur des Thukydides z. B. ihren Ausdruck. Und – sie hat schließlich recht bekommen: jeder Fortschritt der erkenntnistheoretischen und moralistischen Erkenntnis hat die Sophisten restituiert... Unsre heutige Denkweise ist in einem hohen Grade heraklitisch, demokritisch und protagoreisch... es genügte zu sagen, daß sie protagoreisch sei: weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit und Demokrit in sich zusammennahm.
(Plato: ein großer Cagliostro – man denke, wie ihn Epikur beurteilte; wie ihn Timon, der Freund Pyrrhos, beurteilte. – – Steht vielleicht die[757] Rechtschaffenheit Platos außer Zweifel? ... Aber wir wissen zum mindesten, daß er als absolute Wahrheit gelehrt wissen wollte, was nicht einmal bedingt ihm als Wahrheit galt: nämlich die Sonder- Existenz und Sonder-Unsterblichkeit der »Seelen«.)
[428]
Die große Vernunft in aller Erziehung zur Moral war immer, daß man hier die Sicherheit eines Instinkts zu erreichen suchte: so daß weder die gute Absicht noch die guten Mittel als solche erst ins Bewußtsein traten. So wie der Soldat exerziert, so sollte der Mensch handeln lernen. In der Tat gehört dieses Unbewußtsein zu jeder Art Vollkommenheit: selbst noch der Mathematiker handhabt seine Kombinationen unbewußt...
Was bedeutet nun die Reaktion des Sokrates, welcher die Dialektik als Weg zur Tugend anempfahl und sich darüber lustig machte, wenn die Moral sich nicht logisch zu rechtfertigen wußte? Aber eben das letztere gehört zu ihrer Güte – ohne Unbewußtheit taugt sie nichts!
Es bedeutet exakt die Auflösung der griechischen Instinkte, als man die Beweisbarkeit als Voraussetzung der persönlichen Tüchtigkeit in der Tugend voranstellte. Es sind selbst Typen der Auflösung, alle diese großen »Tugendhaften« und Wortemacher.
In praxi bedeutet es, daß die moralischen Urteile aus ihrer Bedingtheit, aus der sie gewachsen sind und in der allein sie Sinn haben, aus ihrem griechischen und griechisch-politischen Grund und Boden ausgerissen werden und, unter dem Anschein von Sublimierung, entnatürlicht werden. Die großen Begriffe »gut«, »gerecht« werden losgemacht von den Voraussetzungen, zu denen sie gehören, und als frei gewordne »Ideen« Gegenstände der Dialektik. Man sucht hinter ihnen eine Wahrheit, man nimmt sie als Entitäten oder als Zeichen von Entitäten: man erdichtet eine Welt, wo sie zu Hause sind, wo sie herkommen...
In summa: der Unfug ist auf seiner Spitze bereits bei Plato... Und nun hatte man nötig, auch den abstrakt-vollkommenen Menschen hinzuzuerfinden: – gut, gerecht, weise, Dialektiker – kurz, die Vogelscheuche des antiken Philosophen: eine Pflanze, aus jedem Boden losgelöst; eine Menschlichkeit ohne alle bestimmten regulierenden Instinkte; eine Tugend, die sich mit Gründen »beweist«. Das vollkommen absurde »Individuum« an sich! die Unnatur höchsten Ranges ...[758]
Kurz, die Entnatürlichung der Moralwerte hatte zur Konsequenz, einen entartenden Typus des Menschen zu schaffen – »den Guten«, »den Glücklichen«, »den Weisen«. – Sokrates ist ein Moment der tiefsten Perversität in der Geschichte der Werte.
[430]
Es würde uns Zweifel gegen einen Menschen machen, zu hören, daß er Gründe nötig hat, um anständig zu bleiben: gewiß ist, daß wir seinen Umgang meiden. Das Wörtchen »denn« kompromittiert in gewissen Fällen; man widerlegt sich mitunter sogar durch ein einziges »denn«. Hören wir nun des weiteren, daß ein solcher Aspirant der Tugend schlechte Gründe nötig hat, um respektabel zu bleiben, so gibt das noch keinen Grund ab, unsern Respekt vor ihm zu steigern. Aber er geht weiter, er kommt zu uns, er sagt uns ins Gesicht: »Sie stören meine Moralität mit Ihrem Unglauben, mein Herr Ungläubiger; solange Sie nicht an meine schlechten Gründe, will sagen an Gott, an ein strafendes Jenseits, an eine Freiheit des Willens glauben, verhindern Sie meine Tugend... Moral: man muß die Ungläubigen abschaffen: sie verhindern die Moralisierung der Massen«.
[313]
Alle diese Werte sind empirisch und bedingt. Aber der, der an sie glaubt, der sie verehrt, will eben diesen Charakter nicht anerkennen. Die Philosophen glauben allesamt an diese Werte, und eine Form ihrer Verehrung war die Bemühung, aus ihnen a priori-Wahrheiten zu machen. Fälschender Charakter der Verehrung...
Die Verehrung ist die hohe Probe der intellektuellen Rechtschaffenheit: aber es gibt in der ganzen Geschichte der Philosophie keine intellektuelle Rechtschaffenheit, – sondern die »Liebe zum Guten«...
Der absolute Mangel an Methode, um den Wert dieser Werte zu prüfen; zweitens: die Abneigung, diese Werte zu prüfen, überhaupt sie bedingt zu nehmen. – Bei den Moral-Werten kamen alle antiwissenschaftlichen Instinkte zusammen in Betracht, um hier die Wissenschaft auszuschließen«...
[460]
Formel des »Fortschritts«-Aberglaubens eines berühmten Physiologen der zerebralen Tätigkeit:[759]
»L'animal ne fait jamais de progrès comme espèce. L'homme seul fait de progrès comme espèce.«
Nein: –
[683]
Sokrates. – Dieser Umschlag des Geschmacks zugunsten der Dialektik ist ein großes Fragezeichen. Was geschah eigentlich? – Sokrates, der Roturier, der ihn durchsetzte, kam mit ihm über einen vornehmeren Geschmack, den Geschmack der Vornehmen, zum Sieg: – der Pöbel kam mit der Dialektik zum Sieg. Vor Sokrates lehnte man seitens aller guten Gesellschaft die dialektische Manier ab; man glaubte, daß sie bloßstellte; man warnte die Jugend vor ihr. Wozu diese Etalage von Gründen? Wozu eigentlich beweisen? Gegen andere hatte man die Autorität. Man befahl: das genügte. Unter sich, inter pares, hat man das Herkommen, auch eine Autorität: und, zuguterletzt, man »verstand sich«! Man fand gar keinen Platz für Dialektik. Auch mißtraute man solchem offnen Präsentieren seiner Argumente. Alle honnetten Dinge halten ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist etwas Unanständiges darin, alle fünf Finger zu zeigen. Was sich »beweisen« läßt, ist wenig wert. – Daß Dialektik Mißtrauen erregt, daß sie wenig überredet, das weiß übrigens der Instinkt der Redner aller Parteien. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt. Dialektik kann nur eine Notwehr sein. Man muß in der Not sein, man muß sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker, Reineke Fuchs war es, Sokrates war es. Man hat ein schonungsloses Werkzeug in der Hand. Man kann mit ihr tyrannisieren. Man stellt bloß, indem man siegt. Man überläßt seinem Opfer den Nachweis, kein Idiot zu sein. Man macht wütend und hilflos, während man selber kalte, triumphierende Vernünftigkeit bleibt – man depoten ziert die Intelligenz seines Gegners. – Die Ironie des Dialektikers ist eine Form der Pöbel-Rache: die Unterdrückten haben ihre Ferozität in den kalten Messerstichen des Syllogismus...
[431a]
Gefährliche Unterscheidung zwischen »theoretisch« und »praktisch« z. B. bei Kant, aber auch bei den Alten: – sie tun, als ob die reine Geistigkeit ihnen die Probleme der Erkenntnis und Metaphysik vorlege;[760] – sie tun, als ob, wie auch die Antwort der Theorie ausfalle, die Praxis nach eigenem Wertmaß zu beurteilen sei.
Gegen das erste richte ich meine Psychologie der Philosophen: ihr entfremdetster Kalkül und ihre »Geistigkeit« bleiben immer nur der letzte blasseste Abdruck einer physiologischen Tatsache; es fehlt absolut die Freiwilligkeit darin, alles ist Instinkt, alles ist von vornherein in bestimmte Bahnen gelenkt...
Gegen das zweite frage ich, ob wir eine andere Methode kennen, um gut zu handeln, als: gut zu denken; letzteres ist ein Handeln, und ersteres setzt Denken voraus. Haben wir ein Vermögen, den Wert einer Lebensweise anderswie zu beurteilen, als den Wert einer Theorie: durch Induktion, durch Vergleichung?... Die Naiven glauben, hier wären wir besser daran, hier wüßten wir, was »gut« ist, – die Philosophen reden's nach. Wir schließen, daß hier ein Glaube vorhanden ist, weiter nichts...
»Man muß handeln; folglich bedarf es einer Richtschnur« – sagten selbst die antiken Skeptiker. Die Dringlichkeit einer Entscheidung als Argument, irgend etwas hier für wahr zu halten!...
»Man muß nicht handeln« – sagten ihre konsequenteren Brüder, die Buddhisten, und ersannen eine Richtschnur, wie man sich losmache vom Handeln...
Sich einordnen, leben wie der »gemeine Mann« lebt, für recht und gut halten, was er für recht hält: das ist die Unterwerfung unter den Herdeninstinkt. Man muß seinen Mut und seine Strenge so weit treiben, eine solche Unterwerfung wie eine Scham zu empfinden. Nicht mit zweierlei Maß leben!... Nicht Theorie und Praxis trennen!...
[458]
Die Vorherrschaft der moralischen Werte. – Folgen dieser Vorherrschaft: die Verderbnis der Psychologie usw., das Verhängnis überall, das an ihr hängt. Was bedeutet diese Vorherrschaft? Worauf weist sie hin? –
Auf eine gewisse größere Dringlichkeit eines bestimmten Ja und Nein auf diesem Gebiete. Man hat alle Arten Imperative darauf verwendet, um die moralischen Werte als fest erscheinen zu lassen: sie sind am längsten kommandiert worden: – sie scheinen instinktiv, wie innere Kommandos. Es drücken sich Erhaltungsbedingungen der Sozietät darin aus, daß die moralischen Werte als undiskutierbar empfunden werden.[761] Die Praxis: das will heißen die Nützlichkeit, untereinander sich über die obersten Werte zu verstehen, hat hier eine Art Sanktion erlangt. Wir sehen alle Mittel angewendet, wodurch das Nachdenken und die Kritik auf diesem Gebiete lahmgelegt wird: – welche Attitüde nimmt noch Kant an! nicht zu reden von denen, welche es als unmoralisch ablehnen, hier zu »forschen« –
[271]
Die Moralwerte als Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.
[392]
Unsre Erkenntnis ist in dem Maße wissenschaftlich geworden, als sie Zahl und Maß anwenden kann. Der Versuch wäre zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche Ordnung der Werte einfach auf einer Zahl– und Maß-Skala der Kraft aufzubauen wäre... Alle sonstigen »Werte« sind Vorurteile, Naivitäten, Mißverständnisse. – Sie sind überall reduzierbar auf jene Zahl- und Maß-Skala der Kraft. Das Aufwärts in dieser Skala bedeutet jedes Wachsen an Wert: das Abwärts in dieser Skala bedeutet Verminderung des Wertes.
Hier hat man den Schein und das Vorurteil wider sich. (Die Moralwerte sind ja nur Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.)
[710]
Eine Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung erprobte, bewiesene Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum Bewußtsein, als dominierend... Und damit tritt die ganze Gruppe verwandter Werte und Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig, wahrhaft; es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft vergessen wird... Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist...
Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit den Kategorien der Vernunft: dieselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit... Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte – und wo man sie befahl, d. h. wo sie wirkten als befehlend... Von jetzt ab galten sie als a priori, als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar. Und doch drücken sie vielleicht nichts aus, als eine bestimmte Rassen- und Gattungs-Zweckmäßigkeit, – bloß ihre Nützlichkeit ist ihre »Wahrheit« –.
[514] [762]
Ich sehe mit Erstaunen, daß die Wissenschaft sich heute resigniert, auf die scheinbare Welt angewiesen zu sein: eine wahre Welt – sie mag sein, wie sie will –, gewiß haben wir kein Organ der Erkenntnis für sie.
Hier dürfen wir nun schon fragen: mit welchem Organ der Erkenntnis setzt man auch diesen Gegensatz nur an?...
Damit, daß eine Welt, die unsern Organen zugänglich ist, auch als abhängig von diesen Organen verstanden wird, damit, daß wir eine Welt als subjektiv bedingt verstehen, damit ist nicht ausgedrückt, daß eine objektive Welt überhaupt möglich ist. Wer zwingt uns, zu denken, daß die Subjektivität real, essentiell ist?
Das »An sich« ist sogar eine widersinnige Konzeption: eine »Beschaffenheit an sich« ist Unsinn: wir haben den Begriff »Sein«, »Ding« immer nur als Relationsbegriff...
Das Schlimme ist, daß mit dem alten Gegensatz »scheinbar« und »wahr« sich das korrelative Werturteil fortgepflanzt hat: »gering an Wert« und »absolut wertvoll«.
Die scheinbare Welt gilt uns nicht als eine »wertvolle« Welt; der Schein soll eine Instanz gegen den obersten Wert sein. Wertvoll an sich kann nur eine »wahre« Welt sein...
Vorurteil der Vorurteile! Erstens wäre an sich möglich, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge dermaßen den Voraussetzungen des Lebens schädlich wäre, entgegengesetzt wäre, daß eben der Schein not täte, um leben zu können... Dies ist ja der Fall in so vielen Lagen: z. B. in der Ehe.
Unsre empirische Welt wäre aus den Instinkten der Selbsterhaltung auch in ihren Erkenntnisgrenzen bedingt: wir hielten für wahr, für gut, für wertvoll, was der Erhaltung der Gattung frommt...
a) Wir haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre und eine scheinbare Welt scheiden dürften. (Es könnte eben bloß eine scheinbare Welt geben, aber nicht nur unsere scheinbare Welt.)
b) Die wahre Welt angenommen, so könnte sie immer noch die geringere an Wert für uns sein: gerade das Quantum Illusion möchte, in seinem Erhaltungswert für uns, höheren Ranges sein. (Es sei denn, daß der Schein an sich ein Verwerfungsurteil begründete?)[763]
c) Daß eine Korrelation bestehe zwischen den Graden der Werte und den Graden der Realität (so daß die obersten Werte auch die oberste Realität hätten), ist ein metaphysisches Postulat, von der Voraussetzung ausgehend, daß wir die Rangordnung der Werte kennen: nämlich daß diese Rangordnung eine moralische sei... Nur in dieser Voraussetzung ist die Wahrheit notwendig für die Definition alles Höchstwertigen.
Es ist von kardinaler Wichtigkeit, daß man die wahre Welt abschafft. Sie ist die große Anzweiflerin und Wertverminderung der Welt, die wir sind: sie war bisher unser gefährlichstes Attentat auf das Leben.
Krieg gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine wahre Welt fingiert hat. Zu diesen Voraussetzungen gehört, daß die moralischen Werte die obersten seien.
Die moralische Wertung als oberste wäre widerlegt, wenn sie bewiesen werden könnte als die Folge einer unmoralischen Wertung: als ein Spezialfall der realen Unmoralität: sie reduzierte sich damit selbst auf einen Anschein, und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr, den Schein zu verurteilen.
Der »Wille zur Wahrheit« wäre sodann psychologisch zu untersuchen: er ist keine moralische Gewalt, sondern eine Form des Willens zur Macht. Dies wäre damit zu beweisen, daß er sich aller unmoralischen Mittel bedient: die Metaphysiker voran –.
Wir sind heute vor die Prüfung der Behauptung gestellt, daß die moralischen Werte die obersten Werte seien. Die Methodik der Forschung ist erst erreicht, wenn alle moralischen Vorurteile überwunden sind: – sie stellt einen Sieg über die Moral dar...
[583]
Zur Hygiene der »Schwachen«. – Alles, was in der Schwäche getan wird, mißrät. Moral: nichts tun. Nur ist das Schlimme, daß gerade die Kraft, das Tun auszuhängen, nicht zu reagieren, am stärksten krank ist unter dem Einfluß der Schwäche: daß man nie schneller, nie blinder reagiert als dann, wenn man gar nicht reagieren sollte...
Die Stärke einer Natur zeigt sich im Abwarten und Aufschieben der Reaktion: eine gewisse adiaphoria ist ihr so zu eigen, wie der[764] Schwäche die Unfreiheit der Gegenbewegung, die Plötzlichkeit, Unhemmbarkeit der »Handlung«... Der Wille ist schwach: und das Rezept, um dumme Sachen zu verhüten, wäre, starken Willen zu haben und nichts zu tun – Contradictio. Eine Art Selbstzerstörung, der Instinkt der Erhaltung ist kompromittiert... Der Schwache schadet sich selber... Das ist der Typus der décadence...
Tatsächlich finden wir ein ungeheures Nachdenken über Praktiken, die Impassibilität zu provozieren. Der Instinkt ist insofern auf richtiger Spur, als nichts tun nützlicher ist, als etwas tun...
Alle Praktiken der Orden, der solitären Philosophen, der Fakirs sind von dem richtigen Wertmaße eingegeben, daß eine gewisse Art Mensch sich noch am meisten nützt, wenn sie sich so viel wie möglich hindert, zu handeln –
Erleichterungsmittel: der absolute Gehorsam, die machinale Tätigkeit, die Separation von Menschen und Dingen, welche ein sofortiges Entschließen und Handeln fordern würden.
[45]
Wenn Lust und Unlust sich auf das Gefühl der Macht beziehen, so müßte Leben ein Wachstum von Macht darstellen, so daß die Differenz des »Mehr« ins Bewußtsein träte... Ein Niveau von Macht festgehalten, würde sich die Lust nur an Verminderungen des Niveaus zu messen haben, an Unlustzuständen, – nicht an Lustzuständen... Der Wille zum Mehr liegt im Wesen der Lust: daß die Macht wächst, daß die Differenz ins Bewußtsein tritt.
Von einem gewissen Punkte an, bei der décadence, tritt die umgekehrte Differenz ins Bewußtsein, die Abnahme: das Gedächtnis der starken Augenblicke von ehedem drückt die gegenwärtigen Lustgefühle herab, – der Vergleich schwächt jetzt die Lust.
[695]
Die eigentlichen Philosophen der Griechen sind die vor Sokrates (– mit Sokrates verändert sich etwas). Das sind alles vornehme Personnagen, abseits sich stellend von Volk und Sitte, gereist, ernst bis zur Düsterkeit, mit langsamem Auge, den Staatsgeschäften und der Diplomatie nicht fremd. Sie nehmen den Weisen alle großen Konzeptionen der Dinge vorweg: sie stellen sie selber dar, sie bringen sich in System. Nichts gibt einen höheren Begriff vom griechischen Geist, als diese[765] plötzliche Fruchtbarkeit an Typen, als diese ungewollte Vollständigkeit in der Aufstellung der großen Möglichkeiten des philosophischen Ideals. – Ich sehe nur noch eine originale Figur in dem Kommenden: einen Spätling, aber notwendig den letzten – den Nihilisten Pyrrho: – er hat den Instinkt gegen alles das, was inzwischen obenauf gekommen war, die Sokratiker, Plato, den Artisten-Optimismus Heraklits. (Pyrrho greift über Protagoras zu Demokrit zurück...)
Die weise Müdigkeit: Pyrrho. Unter den Niedrigen leben, niedrig. Kein Stolz. Auf die gemeine Art leben; ehren und glauben, was alle glauben. Auf der Hut gegen Wissenschaft und Geist, auch alles, was bläht... Einfach: unbeschreiblich geduldig, unbekümmert, mild. apatheia, mehr noch prautês. Ein Buddhist für Griechenland, zwischen dem Tumult der Schulen aufgewachsen; spät gekommen; ermüdet; der Protest des Müden gegen den Eifer der Dialektiker; der Unglaube des Müden an die Wichtigkeit aller Dinge. Er hat Alexander gesehn, er hat die indischen Büßer gesehn. Auf solche Späte und Raffinierte wirkt alles Niedrige, alles Arme, alles Idiotische selbst verführerisch. Das narkotisiert: das macht ausstrecken (Pascal). Sie empfinden andrerseits, mitten im Gewimmel und verwechselt mit jedermann, ein wenig Wärme: sie haben Wärme nötig, diese Müden... Den Widerspruch überwinden; kein Wettkampf; kein Wille zur Auszeichnung: die griechischen Instinkte verneinen. (Pyrrho lebte mit seiner Schwester zusammen, die Hebamme war.) Die Weisheit verkleiden, daß sie nicht mehr auszeichnet; ihr einen Mantel von Armut und Lumpen geben; die niedrigsten Verrichtungen tun: auf den Markt gehn und Milchschweine verkaufen . . . Süßigkeit; Helle; Gleichgültigkeit; keine Tugenden, die Gebärden brauchen: sich auch in der Tugend gleichsetzen: letzte Selbstüberwindung, letzte Gleichgültigkeit.
Pyrrho, gleich Epikur, zwei Formen der griechischen décadence: verwandt im Haß gegen die Dialektik und gegen alle schauspielerischen Tugenden – beides zusammen hieß damals Philosophie –; absichtlich das, was sie lieben, niedrig achtend; die gewöhnlichen, selbst verachteten Namen dafür wählend; einen Zustand darstellend, wo man weder krank, noch gesund, noch lebendig, noch tot ist... Epikur naiver, idyllischer, dankbarer; Pyrrho gereister, verlebter, nihilistischer[766] ... Sein Leben war ein Protest gegen die große Identitätslehre (Glück = Tugend = Erkenntnis). Das rechte Leben fördert man nicht durch Wissenschaft: Weisheit macht nicht »weise«... Das rechte Leben will nicht Glück, sieht ab von Glück...
[437]
Kritik des Begriffs »Ursache«. – Wir haben absolut keine Erfahrung über eine Ursache; psychologisch nachgerechnet, kommt uns der ganze Begriff aus der subjektiven Überzeugung, daß wir Ursache sind, nämlich, daß der Arm sich bewegt... Aber das ist ein Irrtum. Wir unterscheiden uns, die Täter, vom Tun, und von diesem Schema machen wir überall Gebrauch, – wir suchen nach einem Täter zu jedem Geschehen. Was haben wir gemacht? Wir haben ein Gefühl von Kraft, Anspannung, Widerstand, ein Muskelgefühl, das schon der Beginn der Handlung ist, als Ursache mißverstanden, oder den Willen das und das zu tun, weil auf ihn die Aktion folgt, als Ursache verstanden.
»Ursache« kommt gar nicht vor: von einigen Fällen, wo sie uns gegeben schien und wo wir aus uns sie projiziert haben zum Verständnis des Geschehens, ist die Selbsttäuschung nachgewiesen. Unser »Verständnis eines Geschehens« bestand darin, daß wir ein Subjekt erfanden, welches verantwortlich wurde dafür, daß etwas geschah und wie es geschah. Wir haben unser Willens-Gefühl, unser »Freiheits«-Gefühl, unser Verantwortlichkeits-Gefühl und unsre Absicht zu einem Tun in den Begriff »Ursache« zusammengefaßt: causa efficiens und causa finalis ist in der Grundkonzeption eins.
Wir meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand aufgezeigt würde, dem sie bereits inhäriert. Tatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt... Umgekehrt sind wir außerstande, von irgendeinem Dinge vorauszusagen, was es »wirkt«. Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht – alles inhäriert der Konzeption »Ursache«. Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes »Ding« und »Ursubjekt«...
Endlich begreifen wir, daß Dinge – folglich auch Atome – nichts wirken: weil sie gar nicht da sind – daß der Begriff Kausalität vollkommen unbrauchbar ist. – Aus einer notwendigen Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Kausal-Verhältnis (– das hieße deren wirkende[767] Vermögen von 1 auf 2, auf 3, auf 4, auf 5 springen machen). Es gibt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den Muskel von seinen »Wirkungen« getrennt denke, so habe ich ihn negiert...
In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend. Causa ist ein Vermögen zu wirken, hinzuerfunden zum Geschehen...
Die Kausalitäts-Interpretation eine Täuschung... Ein »Ding« ist die Summe seiner Wirkungen, synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild. Tatsächlich hat die Wissenschaft den Begriff Kausalität seines Inhalts entleert und ihn übrigbehalten zu einer Gleichnisformel, bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist, auf welcher Seite Ursache oder Wirkung. Es wird behauptet, daß in zwei Komplex-Zuständen (Kraftkonstellationen) die Quanten Kraft gleich blieben.
Die Berechenbarkeit eines Geschehens liegt nicht darin, daß eine Regel befolgt wurde, oder einer Notwendigkeit gehorcht wurde, oder ein Gesetz von Kausalität von uns in jedes Geschehen projiziert wurde –: sie liegt in der Wiederkehr »identischer Fälle«.
Es gibt nicht, wie Kant meint, einen Kausalitäts-Sinn. Man wundert sich, man ist beunruhigt, man will etwas Bekanntes, woran man sich halten kann... Sobald im Neuen uns etwas Altes aufgezeigt wird, sind wir beruhigt. Der angebliche Kausalitäts-Instinkt ist nur die Furcht vor dem Ungewohnten und der Versuch, in ihm etwas Bekanntes zu entdecken, – ein Suchen nicht nach Ursachen, sondern nach Bekanntem.
[551]
»Der Wille zur Macht« wird in demokratischen Zeitaltern dermaßen gehaßt, daß deren ganze Psychologie auf seine Verkleinerung und Verleumdung gerichtet scheint. Der Typus des großen Ehrgeizigen: das soll Napoleon sein! Und Cäsar! und Alexander! – Als ob das nicht gerade die größten Verächter der Ehre wären!
Und Helvétius entwickelt uns, daß man nach Macht strebt, um die Genüsse zu haben, welche dem Mächtigen zu Gebote stehn – er versteht dieses Streben nach Macht als Willen zum Genuß! als Hedonismus!
[751]
Zwei aufeinanderfolgende Zustände, der eine »Ursache«, der andere »Wirkung« –: ist falsch. Der erste Zustand hat nichts zu bewirken, den zweiten hat nichts bewirkt.[768]
Es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neu-Arrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden. Der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes vom ersten (nicht dessen Wirkung): das Wesentliche ist, daß die im Kampf befindlichen Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen.
[633]
Sie verachteten den Leib: sie ließen ihn außer Rechnung: mehr noch, sie behandelten ihn wie einen Feind. Ihr Wahnwitz war, zu glauben, man könne eine »schöne Seele« in einer Mißgeburt von Kadaver herumtragen... Um das auch andern begreiflich zu machen, hatten sie nötig, den Begriff »schöne Seele« anders anzusetzen, den natürlichen Wert umzuwerten, bis endlich ein bleiches, krankhaftes, idiotisch-schwärmerisches Wesen als Vollkommenheit, als »englisch«, als Verklärung, als höherer Mensch empfunden wurde.
[226]
Kritik des Begriffes »wahre und scheinbare Welt«. – Von diesen ist die erste eine bloße Fiktion, aus lauter fingierten Dingen gebildet.
Die »Scheinbarkeit« gehört selbst zur Realität: sie ist eine Form ihres Seins; d. h. in einer Welt, wo es kein Sein gibt, muß durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden: ein Tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist, usw.
: »Scheinbarkeit« ist eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt, an der unsre praktischen Instinkte gearbeitet haben: sie ist für uns vollkommen wahr: nämlich wir leben, wir können in ihr leben: Beweis ihrer Wahrheit für uns...
: die Welt, abgesehen von unsrer Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsre Logik und psychologischen Vorurteile reduziert haben, existiert nicht als Welt »an sich«; sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt – und diese Summierungen sind in jedem Falle gänzlich inkongruent.
Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nötigung es wirkt oder widersteht.[769]
Unser Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine Konzeption gemacht, um in einer Welt leben zu können, um gerade genug zu perzipieren, daß wir noch es aushalten...
[568]
Zur Kritik des Philosophen. – Es ist ein Selbstbetrug der Philosophen und Moralisten, damit aus der décadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe ankämpfen. Das steht außerhalb ihres Willens: und, so wenig sie es anerkennen, später entdeckt man, wie sie zu den kräftigsten Förderern der décadence gehört haben.
Nehmen wir die Philosophen Griechenlands, z. B. Plato. Er löste die Instinkte ab von der Polis, vom Wettkampf, von der militärischen Tüchtigkeit, von der Kunst und Schönheit, von den Mysterien, von dem Glauben an Tradition und Großväter... Er war der Verführer der nobles: er selbst verführt durch den roturier Sokrates... Er negierte alle Voraussetzungen des »vornehmen Griechen« von Schrot und Korn, nahm Dialektik in die Alltags-Praxis auf, konspirierte mit den Tyrannen, trieb Zukunftspolitik und gab das Beispiel der vollkommensten Instinkt Ablösung vom Alten. Er ist tief, leidenschaftlich in allem Anti-hellenischen...
Sie stellen der Reihe nach die typischen décadence-Formen dar, diese großen Philosophen: die moralisch-religiöse Idiosynkrasie, den Anarchismus, den Nihilismus (adiaphora), den Zynismus, die Verhärtung, den Hedonismus, den Reaktionismus.
Die Frage vom »Glück«, von der »Tugend«, vom »Heil der Seele« ist der Ausdruck der physiologischen Widersprüchlichkeit in diesen Niedergangsnaturen: es fehlt in den Instinkten das Schwergewicht, das Wohin.
[435]
Buddha gegen den »Gekreuzigten«. – Innerhalb der nihilistischen Religionen darf man immer noch die christliche und die buddhistische scharf auseinanderhalten. Die buddhistische drückt einen schönen Abend aus, eine vollendete Süßigkeit und Milde, – es ist Dankbarkeit gegen alles, was hinten liegt; mit eingerechnet, was fehlt: die Bitterkeit, die Enttäuschung, die Ranküne; zuletzt: die hohe geistige Liebe; das Raffinement des philosophischen Widerspruchs ist hinter ihm, auch davon ruht es aus: aber von diesem hat es noch seine geistige Glorie und Sonnenuntergangs-Glut. (– Herkunft aus den obersten Kasten –.)[770]
Die christliche Bewegung ist eine Degenereszenz-Bewegung aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller Art: sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist von Anfang an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendrängenden und sich suchenden Krankheits-Gebilden... Sie ist deshalb nicht national, nicht rassebedingt: sie wendet sich an die Enterbten von überall; sie hat die Ranküne auf dem Grunde gegen alles Wohlgeratene und Herrschende: sie braucht ein Symbol, welches den Fluch auf die Wohlgeratenen und Herrschenden darstellt... Sie steht im Gegensatz auch zu aller geistigen Bewegung, zu aller Philosophie: sie nimmt die Partei der Idioten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus. Ranküne gegen die Begabten, Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie errät in ihnen das Wohlgeratene, das Herrschaftliche.
[154]
Das Problem des Sokrates. – Die beiden Gegensätze: die tragische Gesinnung, die sokratische Gesinnung – gemessen an dem Gesetz des Lebens.
Inwiefern die sokratische Gesinnung ein Phänomen der décadence ist: inwiefern aber noch eine starke Gesundheit und Kraft im ganzen Habitus, in der Dialektik und Tüchtigkeit, Straffheit des wissenschaftlichen Menschen sich zeigt (– die Gesundheit des Plebejers; dessen Bosheit, esprit frondeur, dessen Scharfsinn, dessen Canaille au fond, im Zaum gehalten durch die Klugheit; »häßlich«).
Verhäßlichung: die Selbstverhöhnung, die dialektische Dürre, die Klugheit als Tyrann gegen den »Tyrannen« (den Instinkt). Es ist alles übertrieben, exzentrisch, Karikatur an Sokrates, ein buffo mit den Instinkten Voltaires im Leibe. Er entdeckt eine neue Art Agon; er ist der erste Fechtmeister in den vornehmen Kreisen Athens; er vertritt nichts als die höchste Klugheit: er nennt sie »Tugend« (– er erriet sie als Rettung: es stand ihm nicht frei, klug zu sein, es war de rigueur); sich in Gewalt haben, um mit Gründen und nicht mit Affekten in den Kampf zu treten (– die List des Spinoza – das Aufdröseln der Affekt-Irrtümer); – entdecken, wie man jeden fängt, den man in Affekt bringt, entdecken, daß der Affekt unlogisch prozediert; Übung in der Selbstverspottung, um das Ranküne-Gefühl in der Wurzel zu schädigen.
Ich suche zu begreifen, aus welchen partiellen und idiosynkratischen[771] Zuständen das sokratische Problem ableitbar ist: seine Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück. Mit diesem Absurdum von Identitätslehre hat er bezaubert: die antike Philosophie kam nicht wieder davon los...
Absoluter Mangel an objektivem Interesse: Haß gegen die Wissenschaft: Idiosynkrasie, sich selbst als Problem zu fühlen. Akustische Halluzinationen bei Sokrates: morbides Element. Mit Moral sich abgeben widersteht am meisten, wo der Geist reich und unabhängig ist. Wie kommt es, daß Sokrates Moral-Monoman ist? – Alle »praktische« Philosophie tritt in Notlagen sofort in den Vordergrund. Moral und Religion als Hauptinteressen sind Notstands-Zeichen.
[432]
– Die Klugheit, Helle, Härte und Logizität als Waffe wider die Wildheit der Triebe. Letztere müssen gefährlich und untergangdrohend sein: sonst hat es keinen Sinn, die Klugheit bis zu dieser Tyrannei auszubilden. Aus der Klugheit einen Tyrannen machen: – aber dazu müssen die Triebe Tyrannen sein. Dies das Problem. – Es war sehr zeitgemäß damals. Vernunft wurde = Tugend = Glück.
Lösung: Die griechischen Philosophen stehen auf der gleichen Grundtatsache ihrer inneren Erfahrungen wie Sokrates: fünf Schritt weit vom Exzeß, von der Anarchie, von der Ausschweifung – alles décadence-Menschen. Sie empfinden ihn als Arzt: Logik als Wille zur Macht, zur Selbstherrschaft, zum »Glück«. Die Wildheit und Anarchie der Instinkte bei Sokrates ist ein décadence-Symptom. Die Superfötation der Logik und der Vernunft-Helligkeit insgleichen. Beide sind Abnormitäten, beide gehören zueinander.
Kritik. Die décadence verrät sich in dieser Präokkupation des »Glücks« (d. h. des »Heils der Seele«, d. h. seinen Zustand als Gefahr empfinden). Ihr Fanatismus des Interesses für »Glück« zeigt die Pathologie des Untergrundes: es war ein Lebensinteresse. Vernünftig sein oder zugrunde gehn war die Alternative, vor der sie alle standen. Der Moralismus der griechischen Philosophen zeigt, daß sie sich in Gefahr fühlten...
[433]
Die zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte. – Festzustellen: ob der typische religiöse Mensch eine décadence-Form ist (die großen Neuerer sind samt und sonders krankhaft und epileptisch); aber lassen wir[772] nicht da einen Typus des religiösen Menschen aus, den heidnischen? Ist der heidnische Kult nicht eine Form der Danksagung und der Bejahung des Lebens? Müßte nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein? Typus eines wohlgeratenen und entzückt-überströmenden Geistes! Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Geistes!
Hierher stelle ich den Dionysos der Griechen: die religiöse Bejahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbierten Lebens; (typisch – daß der Geschlechtsakt Tiefe, Geheimnis, Ehrfurcht erweckt).
Dionysos gegen den »Gekreuzigten«: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums – nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung. Im andern Falle gilt das Leiden, der »Gekreuzigte als der Unschuldige«, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung. – Man errät: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn. Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letzteren Fall gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu; der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden. Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen; – der in Stücke geschnittne Dionysos ist eine Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.
[1052]
Problem des Philosophen und des wissenschaftlichen Menschen. – Einfluß des Alters; depressive Gewohnheiten (Stubenhocken à la Kant; Überarbeitung; unzureichende Ernährung des Gehirns; Lesen). Wesentlicher: ob nicht ein décadence-Symptom schon in der Richtung auf solche Allgemeinheit gegeben ist; Objektivität als Willens-Disgregation (– so fern bleiben können...). Dies setzt eine große Adiaphorie gegen die starken Triebe voraus: eine Art Isolation, Ausnahmestellung, Widerstand gegen die Normal-Triebe.[773]
Typus: die Loslösung von der Heimat; in immer weitere Kreise; der wachsende Exotismus; das Stummwerden der alten Imperative – –; gar dieses beständige Fragen »wohin?« (»Glück«) ist ein Zeichen der Herauslösung aus Organisationsformen, Herausbruch.
Problem: ob der wissenschaftliche Mensch eher noch ein décadence-Symptom ist als der Philosoph: – er ist als Ganzes nicht losgelöst, nur ein Teil von ihm ist absolut der Erkenntnis geweiht, dressiert für eine Ecke und Optik –, er hat hier alle Tugenden einer starken Rasse und Gesundheit nötig, große Strenge, Männlichkeit, Klugheit. Er ist mehr ein Symptom hoher Vielfachheit der Kultur als von deren Müdigkeit. Der décadence-Gelehrte ist ein schlechter Gelehrter. Während der décadence-Philosoph, bisher wenigstens, als der typische Philosoph galt.
[444]
Verglichen mit dem Künstler, ist das Erscheinen des wissenschaftlichen Menschen in der Tat ein Zeichen einer gewissen Eindämmung und Niveau-Erniedrigung des Lebens (– aber auch einer Verstärkung, Strenge, Härte, Willenskraft).
Inwiefern die Falschheit, die Gleichgültigkeit gegen Wahr und Nützlich beim Künstler Zeichen von Jugend, von »Kinderei« sein mögen... Ihre habituelle Art, ihre Unvernünftigkeit, ihre Ignoranz über sich, ihre Gleichgültigkeit gegen »ewige Werte«, ihr Ernst im »Spiele« – ihr Mangel an Würde; Hanswurst und Gott benachbart; der Heilige und die Kanaille... Das Nachmachen als Instinkt, kommandierend. – Aufgangs-Künstler – Niedergangs-Künstler: ob sie nicht allen Phasen zugehören? ... Ja!
[816]
Zum Begriff »décadence«.
[43]
»Wille zur Macht« und Kausalismus. – Psychologisch nachgerechnet, ist der Begriff »Ursache« unser Machtgefühl vom sogenannten Wollen, – unser Begriff »Wirkung« der Aberglaube, daß dies Machtgefühl die Macht selbst sei, welche bewegt...
Ein Zustand, der ein Geschehen begleitet und schon eine Wirkung des Geschehens ist, wird projiziert als »zureichender Grund« desselben – das Spannungsverhältnis unsres Machtgefühls (die Lust als Gefühl der Macht), des überwundnen Widerstandes – sind das Illusionen? –
Übersetzen wir den Begriff »Ursache« wieder zurück in die uns einzig bekannte Sphäre, woraus wir ihn genommen haben: so ist uns keine Veränderung vorstellbar, bei der es nicht einen Willen zur Macht gibt. Wir wissen eine Veränderung nicht abzuleiten, wenn nicht ein Übergreifen von Macht über andere Macht statthat.
Die Mechanik zeigt uns nur Folgen, und noch dazu im Bilde (Bewegung ist eine Bilderrede). Die Gravitation selbst hat keine mechanische Ursache, da sie der Grund erst für mechanische Folgen ist.
Der Wille zur Akkumulation von Kraft ist spezifisch für das Phänomen des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung – für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität. Sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen? – und in der kosmischen Ordnung ?
Nicht bloß Konstanz der Energie: sondern Maximal-Ökonomie des Verbrauchs: so daß das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftzentrum[775] aus die einzige Realität ist – nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignen-, Herr-werden-, Mehr-werden-, Stärker-werden-wollen.
Daß Wissenschaft möglich ist, das soll uns ein Kausalitäts-Prinzip beweisen? »Aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen« – »Ein permanentes Gesetz der Dinge« – »Eine invariable Ordnung«? – Weil etwas berechenbar ist, ist es deshalb schon notwendig?
Wenn etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein »Prinzip«, kein »Gesetz«, keine »Ordnung«, sondern es wirken Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben.
Können wir ein Streben nach Macht annehmen, ohne eine Lust- und Unlust-Empfindung, d. h. ohne ein Gefühl von der Steigerung und Verminderung der Macht? Der Mechanismus ist nur eine Zeichensprache für die interne Tatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willens-Quanta? Alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff, Atom, Schwere, Druck und Stoß sind nicht »Tatsachen an sich«, sondern Interpretationen mit Hilfe psychischer Fiktionen.
Das Leben als die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Akkumulation der Kraft –; alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel: nichts will sich erhalten, alles soll summiert und akkumuliert werden.
Das Leben, als ein Einzelfall (Hypothese von da aus auf den Gesamtcharakter des Daseins –) strebt nach einem Maximal-Gefühl von Macht; ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht; Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht; das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille. (Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen.)
[689]
Kritik des Mechanismus. – Entfernen wir hier die zwei populären Begriffe »Notwendigkeit« und »Gesetz«: das erste legt einen falschen Zwang, das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. »Die Dinge« betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es gibt keine Dinge (– das ist unsre Fiktion); sie betragen sich ebensowenig unter einem Zwang von Notwendigkeit. Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines Zwanges...
Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht – darum[776] handelt es sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu unserm Handgebrauch der Berechnung, das in Formeln und »Gesetzen« auszudrücken wissen, um so besser für uns! Aber wir haben damit keine »Moralität« in die Welt gelegt, daß wir sie als gehorsam fingieren –.
Es gibt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz. Gerade, daß es kein Anderskönnen gibt, darauf beruht die Berechenbarkeit.
Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren. Nicht Selbsterhaltung: jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus – es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum »Wille zur Macht«: damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken.
Eine Übersetzung dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt – eine Welt fürs Auge – ist der Begriff »Bewegung«. Hier ist immer subintelligiert, daß etwas bewegt wird – hierbei wird, sei es nun in der Fiktion eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt – d. h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein Täter zum Tun, das Tun und das, was es tut, gesondert: vergessen wir nicht, daß dies eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen.
[634]
Wir haben »Einheiten« nötig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten gibt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserm »Ich«-Begriff – unserm ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff »Ding« gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsre Konzeption des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt. Wir haben also, um die mechanistische Welt theoretisch aufrechtzuerhalten, immer die Klausel zu machen, inwiefern[777] wir sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung (aus unsrer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms (= Einheit, aus unsrer psychischen »Erfahrung« herstammend): – sie hat ein Sinnen-Vorurteil und ein psychologisches Vorurteil zu ihrer Voraussetzung.
Die Mechanik formuliert Folgeerscheinungen, noch dazu semiotisch, in sinnlichen und psychologischen Ausdrucksmitteln (daß alle Wirkung Bewegung ist; daß wo Bewegung ist, etwas bewegt wird): sie berührt die ursächliche Kraft nicht.
Die mechanistische Welt ist so imaginiert, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen (als »bewegt«), – so, daß sie berechnet werden kann, – daß ursächliche Einheiten fingiert sind, »Dinge« (Atome), deren Wirkung konstant bleibt (– Übertragung des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff).
Phänomenal ist also: die Einmischung des Zahlbegriffs, des Dingbegriffs (Subjektbegriffs), des Tätigkeitsbegriffs (Trennung von Ursache-sein und Wirken), des Bewegungsbegriffs: wir haben unser Auge, unsre Psychologie immer noch darin.
Eliminieren wir diese Zutaten, so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen andern dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältnis zu allen andern Quanten besteht, in ihrem »Wirken« auf dieselben. Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt...
[635]
Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachstum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Kardinal-Tatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Oszillationen des Ja und des Nein? – Aber wer fühlt Lust? ... Aber wer will Macht? .... Absurde Frage! wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlust-fühlen ist! Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten...
[693]
[778]
Die Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht.
Das Glück: in dem herrschend gewordnen Bewußtsein der Macht und des Siegs.
Der Fortschritt: die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen: alles andere ist Mißverständnis, Gefahr.
[1023]
Begriff »décadence«. – Der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an sich zu verurteilen wäre: er ist eine notwendige Konsequenz des Lebens, des Wachstums an Leben. Die Erscheinung der décadence ist so notwendig, wie irgendein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand, sie abzuschaffen. Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wird.
Es ist eine Schmach für alle sozialistischen Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche Kombinationen, unter denen das Laster, die Krankheit, das Verbrechen, die Prostitution, die Not nicht mehr wüchse... Aber das heißt das Leben verurteilen... Es steht einer Gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben. Und noch in ihrer besten Kraft muß sie Unrat und Abfallsstoffe bilden. Je energischer und kühner sie vorgeht, um so reicher wird sie an Mißglückten, an Mißgebilden sein, um so näher dem Niedergang sein... Alter schafft man nicht durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. Das Laster auch nicht.
[40]
Was man bisher als Ursachen der Degeneration ansah, sind deren Folgen.
Aber auch, was man als Heilmittel gegen die Entartung betrachtet, sind nur Palliative gegen gewisse Wirkungen derselben: die »Geheilten« sind nur ein Typus der Degenerierten.
Folgen der décadence: das Laster – die Lasterhaftigkeit; die Krankheit
– die Krankhaftigkeit; das Verbrechen – die Kriminalität; das Zölibat
– die Sterilität; der Hysterismus – die Willensschwäche; der Alkoholismus; der Pessimismus; der Anarchismus; die Libertinage (auch die geistige). Die Verleumder, Untergraber, Anzweifler, Zerstörer.
[42]
Ehemals sagte man von jeder Moral: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.« Ich sage von jeder Moral: »Sie ist eine Frucht, an der ich den Boden erkenne, aus dem sie wuchs.«
[257]
[779] Das gefährlichste Mißverständnis. – Es gibt einen Begriff, der anscheinend keine Verwechslung, keine Zweideutigkeit zuläßt: das ist der der Erschöpfung. Diese kann erworben sein; sie kann ererbt sein – in jedem Falle verändert sie den Aspekt der Dinge, den Wert der Dinge...
Im Gegensatz zu dem, der aus der Fülle, welche er darstellt und fühlt, unfreiwillig abgibt an die Dinge, sie voller, mächtiger, zukunftsreicher sieht – der jedenfalls schenken kann –, verkleinert und verhunzt der Erschöpfte alles, was er sieht – er verarmt den Wert: er ist schädlich...
Hierüber scheint kein Fehlgriff möglich: trotzdem enthält die Geschichte die schauerliche Tatsache, daß die Erschöpften immer verwechselt worden sind mit den Vollsten – und die Vollsten mit den Schädlichsten.
Der Arme an Leben, der Schwache, verarmt noch das Leben: der Reiche an Leben, der Starke, bereichert es. Der erste ist dessen Parasit: der zweite ein Hinzu-Schenkender... Wie ist eine Verwechslung möglich ?...
Wenn der Erschöpfte mit der Gebärde der höchsten Aktivität und Energie auftrat (wenn die Entartung einen Exzeß der geistigen oder nervösen Entladung bedingte), dann verwechselte man ihn mit dem Reichen... Er erregte Furcht... Der Kultus des Narren ist immer auch der Kultus des An-Leben-Reichen, des Mächtigen. Der Fanatiker, der Besessene, der religiöse Epileptiker, alle Exzentrischen sind als höchste Typen der Macht empfunden worden: als göttlich.
Diese Art Stärke, die Furcht erregt, galt vor allem als göttlich: von hier nahm die Autorität ihren Ausgangspunkt, hier interpretierte, hörte, suchte man Weisheit... Hieraus entwickelte sich, überall beinahe, ein Wille zur »Vergöttlichung«, d. h. zur typischen Entartung von Geist, Leib und Nerven: ein Versuch, den Weg zu dieser höheren Art Sein zu finden. Sich krank, sich toll machen, die Symptome der Zerrüttung provozieren – das hieß stärker, übermenschlicher, furchtbarer, weiser werden. Man glaubte damit so reich an Macht zu werden, daß man abgeben konnte. Überall, wo angebetet worden ist, suchte man einen, der abgeben kann.
Hier war irreführend die Erfahrung des Rausches. Dieser vermehrt im höchsten Grade das Gefühl der Macht, folglich, naiv beurteilt, die[780] Macht. Auf der höchsten Stufe der Macht mußte der Berauschteste stehn, der Ekstatische. (– Es gibt zwei Ausgangspunkte des Rausches: die übergroße Fülle des Lebens und einen Zustand von krankhafter Ernährung des Gehirns.)
[48]
Was sich vererbt, das ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit: die Unkraft im Widerstande gegen die Gefahr schädlicher Einwanderungen usw., die gebrochene Widerstandskraft; moralisch ausgedrückt: die Resignation und Demut vor dem Feinde.
Ich habe mich gefragt, ob man nicht alle diese obersten Werte der bisherigen Philosophie, Moral und Religion mit den Werten der Geschwächten, Geisteskranken und Neurastheniker vergleichen kann: sie stellen, in einer milderen Form, dieselben Übel dar...
Der Wert aller morbiden Zustände ist, daß sie in einem Vergrößerungsglas gewisse Zustände, die normal, aber als normal schlecht sichtbar sind, zeigen...
Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich Verschiedenes, wie es die alten Mediziner und heute noch einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Prinzipien oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist albernes Zeug und Geschwätz, das zu nichts mehr taugt. Tatsächlich gibt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie der normalen Phänomene konstituierenden krankhaften Zustand (Claude Bernard).
So gut »das Böse« betrachtet werden kann als Übertreibung, Disharmonie, Disproportion, so gut kann »das Gute«, eine Schutzdiät gegen die Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und Disproportion sein.
Die erbliche Schwäche, als dominierendes Gefühl: Ursache der obersten Werte.
NB. Man will Schwäche: warum? ... meistens, weil man notwendig schwach ist.
– Die Schwächung als Aufgabe: Schwächung der Begehrungen, der Lust- und Unlustgefühle, des Willens zur Macht, zum Stolzgefühl, zum Haben- und Mehr-haben-wollen; die Schwächung als Demut; die Schwächung als Glaube; die Schwächung als Widerwille und[781] Scham an allem Natürlichen, als Verneinung des Lebens, als Krankheit und habituelle Schwäche... die Schwächung als Verzichtleisten auf Rache, auf Widerstand, auf Feindschaft und Zorn.
Der Fehlgriff in der Behandlung: man will die Schwäche nicht bekämpfen durch ein système fortifiant, sondern durch eine Art Rechtfertigung und Moralisierung: d. h. durch eine Auslegung...
– Die Verwechslung zweier gänzlich verschiedener Zustände: z. B. die Ruhe der Stärke, welche wesentlich Enthaltung der Reaktion ist (der Typus der Götter, welche nichts bewegt) – und die Ruhe der Erschöpfung, die Starrheit, bis zur Anästhesie. Alle philosophisch-asketischen Prozeduren streben nach der zweiten, aber meinen in der Tat die erste ... denn sie legen dem erreichten Zustande die Prädikate bei, wie als ob ein göttlicher Zustand erreicht sei.
[47]
»Musik« – und der große Stil. – Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den »schönen Gefühlen«, die er erregt: das mögen die Weiblein glauben. Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht, zu gefallen; daß er es vergißt, zu überreden; daß er befiehlt; daß er will... Über das Chaos Herr werden, das man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik, Gesetz werden – das ist hier die große Ambition. – Mit ihr stößt man zurück;
nichts reizt mehr die Liebe zu solchen Gewaltmenschen – eine Einöde legt sich um sie, ein Schweigen, eine Furcht wie vor einem großen Frevel... Alle Künste kennen solche Ambitiöse des großen Stils: warum fehlen sie in der Musik? Noch niemals hat ein Musiker gebaut wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf... Hier liegt ein Problem. Gehört die Musik vielleicht in jene Kultur, wo das Reich aller Art Gewaltmenschen schon zu Ende ging? Widerspräche zuletzt der Begriff großer Stil schon der Seele der Musik – dem »Weibe« in unsrer Musik?...
Ich berühre hier eine Kardinal-Frage: wohin gehört unsre ganze Musik? Die Zeitalter des klassischen Geschmacks kennen nichts ihr Vergleichbares: sie ist aufgeblüht, als die Renaissance-Welt ihren Abend erreichte, als die »Freiheit« aus den Sitten und selbst aus den[782] Menschen davon war – gehört es zu ihrem Charakter, Gegenrenaissance zu sein? Ist sie die Schwester des Barockstils, da sie jedenfalls seine Zeitgenossin ist? Ist Musik, moderne Musik, nicht schon décadence?...
Ich habe schon früher einmal den Finger auf diese Frage gelegt: ob unsre Musik nicht ein Stück Gegenrenaissance in der Kunst ist? ob sie nicht die Nächstverwandte des Barockstils ist? ob sie nicht im Widerspruch zu allem klassischen Geschmack gewachsen ist, so daß sich in ihr jede Ambition der Klassizität von selbst verböte?
Auf diese Wertfrage ersten Ranges würde die Antwort nicht zweifelhaft sein dürfen, wenn die Tatsache richtig abgeschätzt worden wäre, daß die Musik ihre höchste Reife und Fülle als Romantik erlangt –, noch einmal als Reaktions-Bewegung gegen die Klassizität.
Mozart – eine zärtliche und verliebte Seele, aber ganz achtzehntes Jahrhundert, auch noch in seinem Ernste... Beethoven der erste große Romantiker, im Sinne des französischen Begriffs Romantik, wie Wagner der letzte große Romantiker ist... beides instinktive Widersacher des klassischen Geschmacks, des strengen Stils – um vom »großen« hier nicht zu reden.
[842]
Zur Psychologie des Paulus. – Das Faktum ist der Tod Jesu. Dies bleibt auszulegen... Daß es eine Wahrheit und einen Irrtum in der Auslegung gibt, ist solchen Leuten gar nicht in den Sinn gekommen:
eines Tags steigt ihnen eine sublime Möglichkeit in den Kopf »es könnte dieser Tod das und das bedeuten« – und sofort ist er das! Eine Hypothese beweist sich durch den sublimen Schwung, welchen sie ihrem Urheber gibt...
»Der Beweis der Kraft«: d. h. ein Gedanke wird durch seine Wirkung bewiesen – (»an seinen Früchten«, wie die Bibel naiv sagt); was begeistert, muß wahr sein – wofür man sein Blut läßt, muß wahr sein –.
Hier wird überall das plötzliche Machtgefühl, das ein Gedanke in seinem Urheber erregt, diesem Gedanken als Wert zugerechnet: – und da man einen Gedanken gar nicht anders zu ehren weiß, als indem man ihn als wahr bezeichnet, so ist das erste Prädikat, das er zu seiner Ehre bekommt, er sei wahr... Wie könnte er sonst wirken? Er wird von einer Macht imaginiert: gesetzt sie wäre nicht real, so könnte sie[783] nicht wirken... Er wird als inspiriert aufgefaßt: die Wirkung, die er ausübt, hat etwas von der Übergewalt eines dämonischen Einflusses –
Ein Gedanke, dem ein solcher décadent nicht Widerstand zu leisten vermag, dem er vollends verfällt, ist als wahr »bewiesen«!!!
Alle diese heiligen Epileptiker und Gesichte-Seher besaßen nicht ein Tausendstel von jener Rechtschaffenheit der Selbstkritik, mit der heute ein Philologe einen Text liest oder ein historisches Ereignis auf seine Wahrheit prüft... Es sind, im Vergleich zu uns, moralische Kretins...
[171]
Pessimismus in der Kunst? – Der Künstler liebt allmählich die Mittel um ihrer selber willen, in denen sich der Rauschzustand zu erkennen gibt: die extreme Feinheit und Pracht der Farbe, die Deutlichkeit der Linie, die Nuance des Tons: das Distinkte, wo sonst, im Normalen, alle Distinktion fehlt. Alle distinkten Sachen, alle Nuancen, insofern sie an die extremen Kraftsteigerungen erinnern, welche der Rausch erzeugt, wecken rückwärts dieses Gefühl des Rausches; – die Wirkung der Kunstwerke ist die Erregung des kunstschaffenden Zustands, des Rausches.
Das Wesentliche an der Kunst bleibt ihre Daseins-Vollendung, ihr Hervorbringen der Vollkommenheit und Fülle; Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins... Was bedeutet eine pessimistische Kunst? Ist das nicht eine contradictio? – Ja. – Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst des Pessimismus stellt. Die Tragödie lehrt nicht »Resignation«... die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht... Es gibt keine pessimistische Kunst... Die Kunst bejaht. Hiob bejaht. – Aber Zola? Aber die Goncourts? – Die Dinge sind häßlich, die sie zeigen: aber daß sie dieselben zeigen, ist aus Lust an diesem Häßlichen... Hilft nichts! ihr betrügt euch, wenn ihr's anders behauptet. – Wie erlösend ist Dostojewskij!
[821]
Überschriften über einem modernen Narrenhaus
»Denknotwendigkeiten sind Moralnotwendigkeiten.«
Herbert Spencer[784]
»Der letzte Prüfstein für die Wahrheit eines Satzes ist die Unbegreiflichkeit ihrer Verneinung.«
Herbert Spencer
[541]
Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust: sie fehlt nicht im apollinischen. Es muß noch eine Tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen geben... Die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen (strenger: die Verlangsamung des Zeit- und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der Vision der ruhigsten Gebärden und Seelen-Arten. Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Konzentration dar – das höchste Gefühl der Macht ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren: ein großes Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf.
[799]
Religion in der Musik. – Wie viel uneingeständliche und selbst unverstandne Befriedigung aller religiösen Bedürfnisse ist noch in der Wagnerschen Musik! Wie viel Gebet, Tugend, Salbung, »Jungfräulichkeit«, »Erlösung« redet da noch mit!... Daß die Musik vom Worte, vom Begriffe absehen darf – o wie sie daraus ihren Vorteil zieht, diese arglistige Heilige, die zu allem zurückführt, zurückverführt, was einst geglaubt wurde!... Unser intellektuelles Gewissen braucht sich nicht zu schämen – es bleibt außerhalb – wenn irgendein alter Instinkt mit zitternden Lippen aus verbotenen Bechern trinkt... Das ist klug, gesund und, insofern es Scham vor der Befriedigung des religiösen Instinktes verrät, sogar ein gutes Zeichen... Heimtückische Christlichkeit: Typus der Musik des »letzten Wagner«.
[840]
Was hat der deutsche Geist aus dem Christentum gemacht! – Und daß ich beim Protestantismus stehen bleibe: wie viel Bier ist wieder in der protestantischen Christlichkeit! Ist eine geistig verdumpftere, faulere, gliederstreckendere Form des Christen-Glaubens noch denkbar, als die eines deutschen Durchschnitts-Prote stanten?... Das nenne ich mir ein bescheidnes Christentum! eine Homöopathie des Christentums nenne ich's! – Man erinnert mich daran, daß es heute auch einen unbescheidnen Protestantismus gibt, den der Hofprediger und antisemitischen Spekulanten: aber niemand hat noch behauptet, daß irgendein »Geist« auf diesen Gewässern »schwebe«... Das ist bloß eine unanständigere[785] Form der Christlichkeit, durchaus noch keine verständigere...
[89]
Es gibt eine tiefe und vollkommen unbewußte Wirkung der décadence selbst auf die Ideale der Wissenschaft: unsere ganze Soziologie ist der Beweis für diesen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen, daß sie nur das Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des soziologischen Urteils nimmt.
Das niedersinkende Leben im jetzigen Europa formuliert in ihnen seine Gesellschafts-Ideale: sie sehen alle zum Verwechseln dem Ideal alter überlebter Rassen ähnlich...
Der Herdeninstinkt sodann – eine jetzt souverän gewordene Macht – ist etwas Grundverschiedenes vom Instinkt einer aristokratischen Sozietät: und es kommt auf den Wert der Einheiten an, was die Summe zu bedeuten hat... Unsre ganze Soziologie kennt gar keinen andern Instinkt als den der Herde, d. h. der summierten Nullen – wo jede Null »gleiche Rechte« hat, wo es tugendhaft ist, Null zu sein...
Die Wertung, mit der heute die verschiedenen Formen der Sozietät beurteilt werden, ist ganz und gar eins mit jener, welche dem Frieden einen höheren Wert zuerteilt als dem Krieg: aber dies Urteil ist antibiologisch, ist selbst eine Ausgeburt der décadence des Lebens... Das Leben ist eine Folge des Kriegs, die Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg... Herr Herbert Spencer ist als Biologe ein décadent – er ist es auch als Moralist (er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!!!).
[53]
Heute, wo uns jedes »so und so soll der Mensch sein« eine kleine Ironie in den Mund legt, wo wir durchaus daran festhalten, daß man, trotz allem, nur das wird, was man ist (trotz allem: will sagen Erziehung, Unterricht, Milieu, Zufälle und Unfälle), haben wir in Dingen der Moral auf eine kuriose Weise das Verhältnis von Ursache und Folge umdrehen gelernt – nichts unterscheidet uns vielleicht gründlicher von den alten Moralgläubigen. Wir sagen z. B. nicht mehr »das Laster ist die Ursache davon, daß ein Mensch auch physiologisch zugrunde geht«; wir sagen ebensowenig »durch die Tugend gedeiht ein Mensch,[786] sie bringt langes Leben und Glück«. Unsre Meinung ist vielmehr, daß Laster und Tugend keine Ursachen, sondern nur Folgen sind. Man wird ein anständiger Mensch, weil man ein anständiger Mensch ist: d. h. weil man als Kapitalist guter Instinkte und gedeihlicher Verhältnisse geboren ist... Kommt man arm zur Welt, von Eltern her, welche in allem nur verschwendet und nichts gesammelt haben, so ist man »unverbesserlich«, will sagen reif für Zuchthaus und Irrenhaus... Wir wissen heute die moralische Degenereszenz nicht mehr abgetrennt von der physiologischen zu denken: sie ist ein bloßer Symptomen-Komplex der letzteren; man ist notwendig schlecht, wie man notwendig krank ist... Schlecht: das Wort drückt hier gewisse Unvermögen aus, die physiologisch mit dem Typus der Degenereszenz verbunden sind: z. B. die Schwäche des Willens, die Unsicherheit und selbst Mehrheit der »Person«, die Ohnmacht, auf irgendeinen Reiz hin die Reaktion auszusetzen und sich zu »beherrschen«, die Unfreiheit vor jeder Art Suggestion eines fremden Willens. Laster ist keine Ursache; Laster ist eine Folge... Laster ist eine ziemlich willkürliche Begriffsabgrenzung, um gewisse Folgen der physiologischen Entartung zusammenzufassen. Ein allgemeiner Satz, wie ihn das Christentum lehrte, »der Mensch ist schlecht«, würde berechtigt sein, wenn es berechtigt wäre, den Typus des Degenerierten als Normal-Typus des Menschen zu nehmen. Aber das ist vielleicht eine Übertreibung. Gewiß hat der Satz überall dort ein Recht, wo gerade das Christentum gedeiht und obenauf ist: denn damit ist ein morbider Boden bewiesen, ein Gebiet für Degenereszenz.
[334]
Was uns Ehre macht. – Wenn irgend etwas uns Ehre macht, so ist es dies: wir haben den Ernst woandershin gelegt: wir nehmen die von allen Zeiten verachteten und beiseite gelassenen niedrigen Dinge wichtig – wir geben dagegen die »schönen Gefühle« wohlfeil.
Gibt es eine gefährlichere Verirrung als die Verachtung des Leibes? Als ob nicht mit ihr die ganze Geistigkeit verurteilt wäre zum Krankhaft-werden, zu den vapeurs des »Idealismus«!
Es hat alles nicht Hand noch Fuß, was von Christen und Idealisten ausgedacht ist: wir sind radikaler. Wir haben die »kleinste Welt« als das überall Entscheidende entdeckt.[787]
Straßenpflaster, gute Luft im Zimmer, die Speise auf ihren Wertbegriffen; wir haben Ernst gemacht mit allen Nezessitäten des Daseins und verachten alles »Schönseelentum« als eine Art der »Leichtfertigkeit und Frivolität«. – Das bisher Verachtetste ist in die erste Linie gerückt.
[1016]
Der Begriff »verwerfliche Handlung« macht uns Schwierigkeit. Nichts von alledem, was überhaupt geschieht, kann an sich verwerflich sein: denn man dürfte es nicht weghaben wollen: denn jegliches ist so mit allem verbunden, daß irgend etwas ausschließen wollen, alles ausschließen heißt. Eine verwerfliche Handlung heißt: eine verworfene Welt überhaupt...
Und selbst dann noch: in einer verworfenen Welt würde auch das Verwerfen verwerflich sein... Und die Konsequenz einer Denkweise, welche alles verwirft, wäre eine Praxis, die alles bejaht... Wenn das Werden ein großer Ring ist, so ist jegliches gleich wert, ewig, notwendig. – In allen Korrelationen von Ja und Nein, von Vorziehen und Abweisen, Lieben und Hassen drückt sich nur eine Perspektive, ein Interesse bestimmter Typen des Lebens aus: an sich redet alles, was ist, das Ja.
[293]
Apollinisch – dionysisch. – Es gibt zwei Zustände, in denen die Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend, ob er will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andrerseits als Zwang zum Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen Leben vorgespielt, nur schwächer: im Traum und im Rausch.
Aber derselbe Gegensatz besteht noch zwischen Traum und Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten, jede aber verschieden: der Traum die des Sehens, Verknüpfens, Dichtens; der Rausch die der Gebärde, der Leidenschaft, des Gesangs, des Tanzes.
[798]
Ursprung der Moral-Werte. – Der Egoismus ist so viel wert, als der physiologisch wert ist, der ihn hat.
Jeder einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral auffaßt, etwas, das mit der Geburt beginnt). Stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Wert in der Tat außerordentlich; und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung[788] seines Wachstums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgeratenen Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus gibt.) Stellt er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung, so kommt ihm wenig Wert zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig wie möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgeratnen wegnimmt. In diesem Falle hat die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoismus (– der mitunter absurd, krankhaft, aufrührerisch sich äußert –) zur Aufgabe: handle es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende, verkümmernde Volks-Schichten. Eine Lehre und Religion der »Liebe«, der Niederhaltung der Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in Tat und Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werte sein, selbst mit den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des Ressentiments, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der Schlechtweggekommenen, sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal der Demut und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergibt sich, warum die herrschenden Klassen (oder Rassen) und Einzelnen jederzeit den Kultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium der Niedrigen, den »Gott am Kreuze« aufrechterhalten haben.
Das Übergewicht einer altruistischen Wertungsweise ist die Folge eines Instinktes für Mißraten-sein. Das Werturteil auf unterstem Grunde sagt hier: »ich bin nicht viel wert«: ein bloß physiologisches Werturteil; noch deutlicher: das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungszentren). Dies Werturteil übersetzt sich, je nach der Kultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses Urteil (– die Vorherrschaft religiöser oder moralischer Urteile ist immer ein Zeichen niedriger Kultur –): es sucht sich zu begründen, aus Sphären, woher ihnen der Begriff »Wert« überhaupt bekannt ist. Die Auslegung, mit der der
christliche Sünder sich zu verstehen glaubt, ist ein Versuch, den
Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden: er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund[789] dafür nicht in seiner »Schuld« (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft: der Sozialist, der Anarchist, der Nihilist – indem sie ihr Dasein als etwas empfinden, an dem jemand schuld sein soll, sind sie damit immer noch die Nächstverwandten des Christen, der auch das Sich-schlecht-Befinden und Mißraten besser zu ertragen glaubt, wenn er jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich machen kann. Der Instinkt der Rache und des Ressentiments erscheint hier in beiden Fällen als Mittel, es auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß gegen den Egoismus, sei es gegen den eignen (wie beim Christen), sei es gegen den fremden (wie beim Sozialisten), ergibt sich dergestalt als ein Werturteil unter der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle... Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiments im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoismus (des eignen oder eines fremden) noch ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der Kultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.
Wenn der Sozialist mit einer schönen Entrüstung »Gerechtigkeit«, »Recht«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er nur unter dem Druck seiner ungenügenden Kultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen damit; – befände er sich besser, so würde er sich hüten, so zu schreien: er fände dann andcrswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt vom Christen: die »Welt« wird von ihm verurteilt, verleumdet, verflucht – er nimmt sich selbst nicht aus. Aber das ist kein Crund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen sind wir immer noch unter Kranken, denen es wohltut, zu schreien, denen die Verleumdung eine Erleichterung ist.
[373]
Zur Psychologie des Psychologen. Psychologen, wie sie erst vom 19. Jahrhundert ab möglich sind: nicht mehr jene Eckensteher, die drei, vier Schritt vor sich blicken und beinahe zufrieden sind, in sich hinein zu graben. Wir Psychologen der Zukunft – wir haben wenig guten Willen zur Selbstbeobachtung: wir nehmen es fast als ein Zeichen von Entartung, wenn ein Instrument »sich selbst zu erkennen« sucht: wir[790] sind Instrumente der Erkenntnis und möchten die ganze Naivität und Präzision eines Instrumentes haben, – folglich dürfen wir uns selbst nicht analysieren, nicht »kennen«. Erstes Merkmal von Selbsterhaltungs-Instinkt des großen Psychologen: er sucht sich nie, er hat kein Auge, kein Interesse, keine Neugierde für sich... Der große Egoismus unsres dominierenden Willens will es so von uns, daß wir hübsch vor uns die Augen schließen, – daß wir als »unpersönlich«, »désintéressé«, »objektiv« erscheinen müssen! – o in wie exzentrischem Grade wir das Gegenteil davon sind!
Wir sind keine Pascals, wir sind nicht sonderlich am »Heil der Seele«, am eigenen Glück, an der eigenen Tugend interessiert. – Wir haben weder Zeit noch Neugierde genug, uns dergestalt um uns selbst zu drehen. Es steht, tiefer angesehn, sogar noch anders: wir mißtrauen allen Nabelbeschauern aus dem Grunde, weil uns die Selbstbeobachtung als eine Entartungsform des psychologischen Genies gilt, als ein Fragezeichen am Instinkt des Psychologen: so gewiß ein Maler-Auge entartet ist, hinter dem der Wille steht, zu sehn, um zu sehn.
[426]
Mit dem Wort »dionysisch« ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum Gesamt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Wiederkehr; das Einheitsgefühl der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens.
Mit dem Wort »apollinisch« ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen »Individuum«, zu allem was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz.
An den Antagonismus dieser beiden Natur-Kunstgewalten ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso notwendig geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste Form der Selbstbejahung[791] in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit: der Apollinismus des hellenischen Willens.
Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Rätsel, von dem ich mich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte. Ich bemühte mich im Grunde um nichts als um zu erraten, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte, der dionysische Grieche nötig hatte, apollinisch zu werden: das heißt, seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, so wenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte – sie ist erobert, gewollt, erkämpft – sie ist sein Sieg.
[1050]
Nichts wäre nützlicher und mehr zu fördern, als ein konsequenter Nihilismus der Tat. – So wie ich alle die Phänomene des Christentums, des Pessimismus verstehe, so drücken sie aus: »wir sind reif, nicht zu sein; für uns ist es vernünftig, nicht zu sein.« Diese Sprache der »Vernunft« wäre in diesem Falle auch die Sprache der selektiven Natur.
Was über alle Begriffe dagegen zu verurteilen ist, das ist die zweideutige und feige Halbheit einer Religion, wie die des Christentums: deutlicher, der Kirche: welche statt zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermutigen, alles Mißratene und Kranke schützt und sich selbst fortpflanzen macht –
Problem: mit was für Mitteln würde eine strenge Form des großen kontagiösen Nihilismus erzielt werden: eine solche, welche, mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, den freiwilligen Tod lehrt und übt (– und nicht das schwächliche Fortvegetieren mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz –)?
Man kann das Christentum nicht genug verurteilen, weil es den Wert einer solchen reinigenden großen Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, durch den Gedanken der unsterblichen Privat-Person entwertet hat: insgleichen durch die Hoffnung auf Auferstehung:[792] kurz, immer durch ein Abhalten von der Tat des Nihilismus, dem Selbstmord... Es substituierte den langsamen Selbstmord: allmählich ein kleines, armes, aber dauerhaftes Leben; allmählich ein ganz gewöhnliches, bürgerliches, mittelmäßiges Leben usw.
[247]
Wert ist das höchste Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag – der Mensch: nicht die Menschheit! Die Menschheit ist viel eher noch ein Mittel, als ein Ziel. Es handelt sich um den Typus: die Menschheit ist bloß das Versuchsmaterial, der ungeheure Überschuß des Mißratenen: ein Trümmerfeld.
[713]
Physiologie der nihilistischen Religionen. – Die nihilistischen Religionen allesamt: systematisierte Krankheits-Geschichten unter einer religiös-moralischen Nomenklatur.
In den heidnischen Kulten ist es der große Jahreskreislauf, um dessen Ausdeutung sich der Kultus dreht. Im christlichen Kultus ein Kreislauf paralytischer Phänomene, um die sich der Kultus dreht...
[152]
Die ja-sagenden Affekte: – der Stolz, die Freude, die Gesundheit, die Liebe der Geschlechter, die Feindschaft und der Krieg, die Ehrfurcht, die schönen Gebärden, Manieren, der starke Wille, die Zucht der hohen Geistigkeit, der Wille zur Macht, die Dankbarkeit gegen Erde und Leben – alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht – die ganze Gewalt verklärender Tugenden, alles Gutheißende, Jasagende, Jatuende –.
[1033]
Der Zustand der Korruption. – Die Zusammengehörigkeit aller Korruptions-Formen zu begreifen; und dabei nicht die christliche Korruption zu vergessen (Pascal als Typus); ebenso die sozialistisch-kommunistische Korruption (eine Folge der christlichen; – naturwissenschaftlich ist die höchste Sozietäts-Konzeption der Sozialisten die niedrigste in der Rangordnung der Sozietäten); die »Jenseits«-Korruption:
wie als ob es außer der wirklichen Welt, der des Werdens, eine Welt des Seienden gäbe.
Hier darf es keinen Vertrag geben: hier muß man ausmerzen, vernichten, Krieg führen – man muß das christlich-nihilistische Wertmaß[793] überall noch herausziehn und es unter jeder Maske bekämpfen... z. B. aus der jetzigen Soziologie, aus der jetzigen Musik, aus dem jetzigen Pessimismus (– alles Formen des christlichen Wertideals –).
Entweder eins oder das andere ist wahr: wahr, das heißt hier den Typus Mensch emporhebend...
Der Priester, der Seelsorger, als verwerfliche Daseinsformen. Die gesamte Erziehung bisher hilflos, haltlos, ohne Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werte behaftet –
[51]
Und wie viele neue Ideale sind im Grunde noch möglich! – Hier ein kleines Ideal, das ich alle fünf Wochen einmal auf einem wilden und einsamen Spaziergang erhasche, im azurnen Augenblick eines frevelhaften Glücks. Sein Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd; halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die Realität, es sei denn, daß man sie ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgendeinem Sonnenstrahl des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermutigt selbst durch Trübsal – denn Trübsal erhält den Glücklichen –; einen kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend: – dies, wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, zentnerschweren Geistes, eines Geistes der Schwere.
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
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