[795] Die Tugend bleibt das kostspieligste Laster: sie soll es bleiben!
[325]
Der Mensch ist ein mittelmäßiger Egoist: auch der Klügste nimmt seine Gewohnheit wichtiger als seinen Vorteil.
[363]
Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich tue, man sieht es, das Gegenteil: jeder Schritt weg von ihr führt – so lehre ich – ins Unmoralische.
[892]
Was ist Keuschheit am Manne? Daß sein Geschlechts-Geschmack vornehm geblieben ist; daß er in eroticis weder das Brutale, noch das Krankhafte, noch das Kluge mag.
[947]
Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht »wahr«. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder eins, noch auch nur reduzierbar auf eins.
[536]
Die Kriegerischen und die Friedlichen. – Bist du ein Mensch, der die Instinkte des Kriegers im Leibe hat? Und in diesem Falle bliebe noch eine zweite Frage: bist du ein Angriffskrieger oder ein Widerstandskrieger von Instinkt? Der Rest von Menschen, alles, was nicht kriegerisch von Instinkt ist, will Frieden, will Eintracht, will »Freiheit«, will »gleiche Rechte« –: das sind nur Namen und Stufen für ein und dasselbe. Dorthin gehn, wo man nicht nötig hat, sich zu wehren – solche Menschen werden unzufrieden mit sich, wenn sie genötigt sind, Widerstand zu leisten: sie wollen Zustände schaffen, wo es überhaupt keinen Krieg mehr gibt. Schlimmstenfalls sich unterwerfen, gehorchen, einordnen: immer noch besser als Krieg führen – so rät es z. B.[795] dem Christen sein Instinkt. Bei den geborenen Kriegern gibt es etwas wie Bewaffnung in Charakter, in Wahl der Zustände, in der Ausbildung jeder Eigenschaft: die »Waffe« ist im ersten Typus, die Wehr im zweiten am besten entwickelt.
Die Unbewaffneten, die Unbewehrten: welche Hilfsmittel und Tugenden sie nötig haben, um es auszuhalten – um selbst obzusiegen.
[923]
Die typischen Selbstgestaltungen. Oder: die acht Hauptfragen.
[909]
Was ist vornehm? – Daß man sich beständig zu repräsentieren hat. Daß man Lagen sucht, wo man beständig Gebärden nötig hat. Daß man das Glück der großen Zahl überläßt: Glück als Frieden der Seele, Tugend, comfort, englisch-engelhaftes Krämertum à la Spencer. Daß man instinktiv für sich schwere Verantwortungen sucht. Daß man sich überall Feinde zu schaffen weiß, schlimmstenfalls noch aus sich selbst. Daß man der großen Zahl nicht durch Worte, sondern durch Handlungen beständig widerspricht.
[944]
Der »gute Mensch«. Oder: die Hemiplegie der Tugend. – Für jede starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-tun und Nein-tun zueinander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß;[796] man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt – welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? Woher die Hemiplegie der Tugend, die Erfindung des guten Menschen? ... Die Forderung geht dahin, daß der Mensch sich an jenen Instinkten verschneide, mit denen er feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen kann... Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen Konzeption eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summierend. – Eine solche Wertungsweise glaubt sich damit »idealistisch«; sie zweifelt nicht daran, eine höchste Wünschbarkeit in der Konzeption »des Guten« angesetzt zu haben. Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse annulliert ist und wo in Wahrheit nur die guten Wesen übriggeblieben sind. Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz von Gut und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, letzteres soll verschwinden und ersteres soll übrigbleiben, das eine hat ein Recht zu sein, das andere sollte gar nicht da sein ... Was wünscht da eigentlich?
Man hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den christlichen Zeiten viel Mühe gegeben, den Menschen auf diese halbseitige Tüchtigkeit, auf den »Guten« zu reduzieren: noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und Geschwächten, denen diese Absicht mit der »Vermenschlichung« überhaupt oder mit dem »Willen Gottes« oder mit dem »Heil der Seele« zusammenfällt. Hier wird als wesentliche Forderung gestellt, daß der Mensch nichts Böses tue, daß er unter keinen Umständen schade, schaden wolle. Als Weg dazu gilt: die Verschneidung aller Möglichkeit zur Feindschaft, die Aushängung aller Instinkte des Ressentiments, der »Frieden der Seele« als chronisches Übel.
Diese Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch gezüchtet wird, geht von einer absurden Voraussetzung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Realitäten, die mit sich im Widerspruch sind (nicht als komplementäre Wertbegriffe, was die Wahrheit wäre), sie rät die Partei des Guten zu nehmen, sie verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in die letzte Wurzel entsagt und widerstrebt – sie verneint tatsächlich[797] damit das Leben, welches in allen seinen Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie dies begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur Einheit, zur Stärke des Lebens zurückzukehren: sie denkt es sich als Zustand der Erlösung, wenn endlich der eignen innern Anarchie, der Unruhe zwischen jenen entgegengesetzten Wert-Antrieben ein Ende gemacht wird. – Vielleicht gab es bisher keine gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug in psychologicis als diesen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten Typus, den unfreien Menschen groß, den Mucker; man lehrte, eben nur als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei ein göttlicher Wandel.
Und selbst hier noch behält das Leben recht – das Leben, welches das Ja nicht vom Nein zu trennen weiß –: was hilft es, mit allen Kräften den Krieg für böse zu halten, nicht schaden, nicht Neintun zu wollen! man führt doch Krieg! man kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen entsagt hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint mit jener Hemiplegie der Tugend, hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen, Feinde zu haben, nein zu sagen, nein zu tun. Der Christ zum Beispiel haßt die »Sünde«! – und was ist ihm nicht alles »Sünde«! Gerade durch jenen Glauben an einen Moral-Gegensatz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Hassenswerten, vom Ewigzu-Bekämpfenden übervoll geworden. »Der Gute« sieht sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen Ansturm des Bösen, er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter all seinem Dichten und Trachten noch das Böse: und so endet er, wie es folgerichtig ist, damit, die Natur für böse, den Menschen für verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt als menschenunmöglich) zu verstehen. In summa: er verneint das Leben, er begreift, wie das Gute als oberster Wert das Leben verurteilt... Damit sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm als widerlegt gelten. Aber eine Krankheit widerlegt man nicht. Und so konzipiert er ein anderes Leben! ...
[351]
Welcher Grad von Widerstand beständig überwunden werden muß, um obenauf zu bleiben, das ist das Maß der Freiheit, sei es für einzelne, sei es für Gesellschaften: Freiheit nämlich als positive Macht, als Wille zur Macht angesetzt. Die höchste Form der Individual-Freiheit,[798] der Souveränität wüchse demnach, mit großer Wahrscheinlichkeit, nicht fünf Schritt weit von ihrem Gegensatze auf, dort wo die Gefahr der Sklaverei gleich hundert Damoklesschwertern über dem Dasein hängt. Man gehe daraufhin durch die Geschichte: die Zeiten, wo das »Individuum« bis zu jener Vollkommenheit reif, das heißt frei wird, wo der klassische Typus des souveränen Menschen erreicht ist: o nein! das waren niemals humane Zeiten!
Man muß keine Wahl haben: entweder obenauf – oder unten, wie ein Wurm, verhöhnt, vernichtet, zertreten. Man muß Tyrannen gegen sich haben, um Tyrann, d. h. frei zu werden. Es ist kein kleiner Vorteil, hundert Damoklesschwerter über sich zu haben: damit lernt man tanzen, damit kommt man zur »Freiheit der Bewegung«.
[770]
Damit, daß das Christentum die Lehre von der Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, hat es durchaus noch nicht das Gattungs-Interesse für höherwertig angesetzt als das Individual-Interesse. Seine eigentlich historische Wirkung, das Verhängnis von Wirkung bleibt umgekehrt gerade die Steigerung des Egoismus, des Individual-Egoismus bis ins Extrem (– bis zum Extrem der Individual-Unsterblichkeit). Der einzelne wurde durch das Christentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer... Vor Gott wurden alle »Seelen« gleich: aber das ist gerade die gefährlichste aller möglichen Wertschätzungen! Setzt man die einzelnen gleich, so stellt man die Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis, welche auf den Ruin der Gattung hinausläuft: das Christentum ist das Gegenprinzip gegen die Selektion. Wenn der Entartende und Kranke (»der Christ«) so viel Wert haben soll wie der Gesunde (»der Heide«), oder gar noch mehr, nach Pascals Urteil über Krankheit und Gesundheit, so ist der natürliche Gang der Entwicklung gekreuzt und die Unnatur zum Gesetz gemacht... Diese allgemeine Menschenliebe ist in praxi die Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen, Degenerierten: sie hat tatsächlich die Kraft, die Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern, heruntergebracht und abgeschwächt. Es blieb nach dem Schema des christlichen Wertmaßes nur noch übrig, sich selbst zu opfern: aber dieser Rest von Menschenopfer, den das[799] Christentum konzedierte und selbst anriet, hat, vom Standpunkte der Gesamt-Züchtung aus, gar keinen Sinn. Es ist für das Gedeihen der Gattung gleichgültig, ob irgendwelche einzelne sich selbst opfern (– sei es in mönchischer und asketischer Manier oder, mit Hilfe von Kreuzen, Scheiterhaufen und Schafotten, als »Märtyrer« des Irrtums). Die Gattung braucht den Untergang der Mißratenen, Schwachen, Degenerierten: aber gerade an sie wendete sich das Christentum, als konservierende Gewalt; sie steigerte noch jenen an sich schon so mächtigen Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich gegenseitig zu halten. Was ist die »Tugend« und »Menschenliebe« im Christentum, wenn nicht eben diese Gegenseitigkeit der Erhaltung, diese Solidarität der Schwachen, diese Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus, wenn nicht der Massen-Egoismus der Schwachen, welcher errät, daß, wenn alle füreinander sorgen, jeder einzelne am längsten erhalten bleibt? ... Wenn man eine solche Gesinnung nicht als eine extreme Unmoralität, als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und hat selber deren Instinkte... Die echte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christentum heißt, will gerade durchsetzen, daß niemand geopfert wird...
[246]
Die Gläubigen sind sich bewußt, dem Christentum Unendliches zu verdanken, und schließen folglich, daß dessen Urheber eine Personnage ersten Ranges sei... Dieser Schluß ist falsch, aber er ist der typische Schluß der Verehrenden. Objektiv angesehn, wäre möglich, erstens, daß sie sich irrten über den Wert dessen, was sie dem Christentum verdanken: Überzeugungen beweisen nichts für das, wovon man überzeugt ist, bei Religionen begründen sie eher noch einen Verdacht dagegen... Es wäre zweitens möglich, daß, was dem Christentum verdankt wird, nicht seinem Urheber zugeschrieben werden dürfte, sondern eben dem fertigen Gebilde, dem Ganzen, der Kirche usw. Der Begriff »Urheber« ist so vieldeutig, daß er selbst die bloße Gelegenheits-Ursache für eine Bewegung bedeuten kann: man hat die Gestalt des Gründers in dem Maße vergrößert, als die Kirche wuchs; aber eben diese Optik der Verehrung erlaubt den Schluß, daß irgendwann[800] dieser Gründer etwas sehr Unsicheres und Unfestgestelltes war – am Anfang... Man denke, mit welcher Freiheit Paulus das Personal-Problem Jesus behandelt, beinahe eskamotiert –: jemand, der gestorben ist, den man nach seinem Tode wieder gesehen hat, jemand, der von den Juden zum Tode überantwortet wurde... Ein bloßes »Motiv«: die Musik macht er dann dazu...
[177]
Ein kleiner tüchtiger Bursch wird ironisch blicken, wenn man ihn fragt: »Willst du tugendhaft werden?« – aber er macht die Augen auf, wenn man ihn fragt: »Willst du stärker werden, als deine Kameraden?« –
Wie wird man stärker? – Sich langsam entscheiden; und zähe festhalten an dem, was man entschieden hat. Alles andere folgt.
Die Plötzlichen und die Veränderlichen: die beiden Arten der Schwachen. Sich nicht mit ihnen verwechseln; die Distanz fühlen – beizeiten!
Vorsicht vor den Gutmütigen! Der Umgang mit ihnen erschlafft. Jeder Umgang ist gut, bei dem die Wehr und Waffen, die man in den Instinkten hat, geübt werden. Die ganze Erfindsamkeit darin, seine Willenskraft auf die Probe zu stellen... Hier das Unterscheidende sehn, nicht im Wissen, Scharfsinn, Witz.
Man muß befehlen lernen, beizeiten – ebensogut als gehorchen. Man muß Bescheidenheit, Takt in der Bescheidenheit lernen: nämlich auszeichnen, ehren, wo man bescheiden ist; ebenso mit Vertrauen – auszeichnen, ehren.
Was büßt man am schlimmsten? Seine Bescheidenheit; seinen eigensten Bedürfnissen kein Gehör geschenkt zu haben; sich verwechseln; sich niedrig nehmen; die Feinheit des Ohrs für seine Instinkte einbüßen – dieser Mangel an Ehrerbietung gegen sich rächt sich durch jede Art von Einbuße: Gesundheit, Freundschaft, Wohlgefühl, Stolz, Heiterkeit, Freiheit, Festigkeit, Mut. Man vergibt sich später diesen Mangel an echtem Egoismus nie: man nimmt ihn als Einwand, als Zweifel an einem wirklichen ego.
[918]
Ehedem hat man jene Zustände und Folgen der physiologischen Erschöpfung, weil sie reich an Plötzlichem, Schrecklichem, Unerklärlichem und Unberechenbarem sind, für wichtiger genommen, als die[801] gesunden Zustände und deren Folgen. Man fürchtete sich: man setzte hier eine höhere Welt an. Man hat den Schlaf und Traum, man hat den Schatten, die Nacht, den Naturschrecken verantwortlich gemacht für das Entstehen zweier Welten: vor allem sollte man die Symptome der physiologischen Erschöpfung daraufhin betrachten. Die alten Religionen disziplinieren ganz eigentlich den Frommen zu einem Zustande der Erschöpfung, wo er solche Dinge erleben muß... Man glaubte in eine höhere Ordnung eingetreten zu sein, wo alles aufhört, bekannt zu sein. – Der Schein einer höheren Macht...
[230]
Kritik der subjektiven Wertgefühle. – Das Gewissen. Ehemals schloß man: das Gewissen verwirft diese Handlung; folglich ist diese Handlung verwerflich. Tatsächlich verwirft das Gewissen eine Handlung, weil dieselbe lange verworfen worden ist. Es spricht bloß nach: es schafft keine Werte. Das, was ehedem dazu bestimmte, gewisse Handlungen zu verwerfen, war nicht das Gewissen: sondern die Einsicht (oder das Vorurteil) hinsichtlich ihrer Folgen... Die Zustimmung des Gewissens, das Wohlgefühl des »Friedens mit sich« ist von gleichem Range wie die Lust eines Künstlers an seinem Werke – sie beweist gar nichts... Die Selbstzufriedenheit ist so wenig ein Wertmaß für das, worauf sie sich bezieht, als ihr Mangel ein Gegenargument gegen den Wert einer Sache. Wir wissen bei weitem nicht genug, um den Wert unsrer Handlungen messen zu können: es fehlt uns zu alledem die Möglichkeit, objektiv dazu zu stehn: auch wenn wir eine Handlung verwerfen, sind wir nicht Richter, sondern Partei... Die edlen Wallungen, als Begleiter von Handlungen, beweisen nichts für deren Wert: ein Künstler kann mit dem allerhöchsten Pathos des Zustandes eine Armseligkeit zur Welt bringen. Eher sollte man sagen, daß diese Wallungen verführerisch seien: sie locken unsern Blick, unsre Kraft ab von der Kritik, von der Vorsicht, von dem Verdacht, daß wir eine Dummheit machen ... sie machen uns dumm –
[294]
»Sein Leben lassen für eine Sache« – großer Effekt. Aber man läßt für vieles sein Leben: die Affekte samt und sonders wollen ihre Befriedigung. Ob es das Mitleid ist oder der Zorn oder die Rache – daß das Leben daran gesetzt wird, verändert nichts am Werte. Wie viele[802] haben ihr Leben für die hübschen Weiblein geopfert – und selbst, was schlimmer ist, ihre Gesundheit! Wenn man das Temperament hat, so wählt man instinktiv die gefährlichen Dinge: z. B. die Abenteuer der Spekulation, wenn man Philosoph; oder der Immoralität, wenn man tugendhaft ist. Die eine Art Mensch will nichts riskieren, die andre will riskieren. Sind wir anderen Verächter des Lebens? Im Gegenteil, wir suchen instinktiv ein potenziertes Leben, das Leben in der Gefahr... Damit, nochmals gesagt, wollen wir nicht tugendhafter sein, als die anderen. Pascal z. B. wollte nichts riskieren und blieb Christ: das war vielleicht tugendhaft. – Man opfert immer.
[929]
Die Ursachen des Irrtums liegen ebensosehr im guten Willen des Menschen als im schlechten –: er verbirgt sich in tausend Fällen die Realität, er fälscht sie, um an seinem guten oder schlechten Willen nicht zu leiden. Gott z. B. als Lenker des menschlichen Schicksals: oder die Auslegung seines kleinen Geschicks, wie als ob alles zum Heil der Seele geschickt und ausgedacht sei – dieser Mangel an »Philologie«, der einem feinern Intellekt als Unsauberkeit und Falschmünzerei gelten muß, wird durchschnittlich unter der Inspiration des guten Willens gemacht. Der gute Wille, die »edlen Gefühle«, die »hohen Zustände« sind in ihren Mitteln ebensolche Falschmünzer und Betrüger als die moralisch abgelehnten und egoistisch genannten Affekte Liebe, Haß, Rache.
Die Irrtümer sind das, was die Menschheit am kostspieligsten zu bezahlen hat: und ins Große gerechnet sind es die Irrtümer des »guten Willens«, die sie am tiefsten geschädigt haben. Der Wahn, der glücklich macht, ist verderblicher als der, welcher direkt schlimme Folgen hat: letzterer schärft, macht mißtrauisch, reinigt die Vernunft – ersterer schläfert sie ein...
Die schönen Gefühle, die erhabenen Wallungen gehören, physiologisch geredet, unter die narkotischen Mittel: ihr Mißbrauch hat ganz dieselbe Folge wie der Mißbrauch eines andern Opiums – die Nervenschwäche...
[453]
Die Unwissenheit in psychologicis – der Christ hat kein Nervensystem –; die Verachtung und das willkürliche Wegsehen-wollen von[803] den Forderungen des Leibes, von der Entdeckung des Leibes; die Voraussetzung, daß es so der höheren Natur des Menschen gemäß sei – daß es der Seele notwendig zugute komme –; die grundsätzliche Reduktion aller Gesamt-Gefühle des Leibes auf moralische Werte; die Krankheit selbst bedingt gedacht durch die Moral, etwa als Strafe oder als Prüfung oder auch als Heils-Zustand, in dem der Mensch vollkommener wird, als er es in der Gesundheit sein könnte (– der Gedanke Pascals), unter Umständen das freiwillige Sich-krank-machen –
[227]
Der Phänomenalismus der »inneren Welt«. Die chronologische Umdrehung, so daß die Ursache später ins Bewußtsein tritt als die Wirkung. – Wir haben gelernt, daß der Schmerz an eine Stelle des Leibes projiziert wird, ohne dort seinen Sitz zu haben –: wir haben gelernt, daß die Sinnesempfindung, welche man naiv als bedingt durch die Außenwelt ansetzt, vielmehr durch die Innenwelt bedingt ist: daß die eigentliche Aktion der Außenwelt immer unbewußt verläuft... Das Stück Außenwelt, das uns bewußt wird, ist nachgeboren nach der Wirkung, die von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projiziert als deren »Ursache«...
In dem Phänomenalismus der »Innern Welt« kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um. Die Grundtatsache der »inneren Erfahrung« ist, daß die Ursache imaginiert wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist... Dasselbe gilt auch von der Abfolge der Gedanken: – wir suchen den Grund zu einem Gedanken, bevor er uns noch bewußt ist: und dann tritt zuerst der Grund und dann dessen Folge ins Bewußtsein... Unser ganzes Träumen ist die Auslegung von Gesamt-Gefühlen auf mögliche Ursachen: und zwar so, daß ein Zustand erst bewußt wird, wenn die dazu erfundene Kausalitäts-Kette ins Bewußtsein getreten ist.
Die ganze »innere Erfahrung« beruht darauf, daß zu einer Erregung der Nerven-Zentren eine Ursache gesucht und vorgestellt wird – und daß erst die gefundene Ursache ins Bewußtsein tritt: diese Ursache ist schlechterdings nicht adäquat der wirklichen Ursache, – es ist ein Tasten auf Grund der ehemaligen »inneren Erfahrungen«, d. h. des Gedächtnisses. Das Gedächtnis konserviert aber auch die Gewohnheit der alten Interpretationen, d. h. der irrtümlichen Ursächlichkeit – so daß[804] die »innere Erfahrung« in sich noch die Folgen aller ehemaligen falschen Kausal-Fiktionen zu tragen hat. Unsere »Außenwelt«, wie wir sie jeden Augenblick projizieren, ist unauflöslich gebunden an den alten Irrtum vom Grunde: wir legen sie aus mit dem Schematismus des »Dings« usw.
Die »innere Erfahrung« tritt uns ins Bewußtsein, erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum versteht – d. h. eine Übersetzung eines Zustandes in ihm bekanntere Zustände –: »verstehen« das heißt naiv bloß: etwas Neues ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem. Z. B. »ich befinde mich schlecht« – ein solches Urteil setzt eine große und späte Neutralität des Beobachtenden voraus: – der naive Mensch sagt immer: das und das macht, daß ich mich schlecht befinde – er wird über sein Schlechtbefinden erst klar, wenn er einen Grund sieht, sich schlecht zu befinden... Das nenne ich den Mangel an Philologie; einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der »inneren Erfahrung« – vielleicht eine kaum mögliche...
[479]
Daß nichts von dem wahr ist, was ehemals als wahr galt –. Was als unheilig, verboten, verächtlich, verhängnisvoll ehemals verachtet wurde –: alle diese Blumen wachsen heut am lieblichen Pfade der Wahrheit.
Diese ganze alte Moral geht uns nichts mehr an: es ist kein Begriff darin, der noch Achtung verdiente. Wir haben sie überlebt – wir sind nicht mehr grob und naiv genug, um in dieser Weise uns belügen lassen zu müssen... Artiger gesagt: wir sind zu tugendhaft dazu... Und wenn Wahrheit im alten Sinne nur deshalb »Wahrheit« war, weil die alte Moral zu ihr ja sagte, ja sagen durfte: so folgt daraus, daß wir auch keine Wahrheit von ehedem mehr nötig haben... Unser Kriterium der Wahrheit ist durchaus nicht die Moralität: wir widerlegen eine Behauptung damit, daß wir sie als abhängig von der Moral, als inspiriert durch edle Gefühle beweisen.
[459]
Der Begriff »starker und schwacher Mensch« reduziert sich darauf, daß im ersten Falle viel Kraft vererbt ist – er ist eine Summe: im andern [805] noch wenig – (– unzureichende Vererbung, Zersplitterung des Ererbten). Die Schwäche kann ein Anfangs-Phänomen sein: »noch wenig«; oder ein End-Phänomen: »nicht mehr«.
Der Ansatz-Punkt ist der, wo große Kraft ist, wo Kraft auszugeben ist. Die Masse, als die Summe der Schwachen, reagiert langsam; wehrt sich gegen vieles, für das sie zu schwach ist – von dem sie keinen Nutzen haben kann; schafft nicht, geht nicht voran.
Dies gegen die Theorie, welche das starke Individuum leugnet und meint »die Masse tut's«. Es ist die Differenz wie zwischen getrennten Geschlechtern: es können vier, fünf Generationen zwischen dem Tätigen und der Masse liegen – eine chronologische Differenz.
Die Werte der Schwachen sind obenan, weil die Starken sie übernommen haben, um damit zu leiten.
[863]
Erworbene, nicht ererbte Erschöpfung: 1. unzureichende Ernährung, oft aus Unwissenheit über Ernährung, z. B. bei Gelehrten; 2. die erotische Präkozität: der Fluch vornehmlich der französischen Jugend, der Pariser voran: welche aus den Lyzeen bereits verhunzt und beschmutzt in die Welt tritt – und nicht wieder von der Kette verächtlicher Neigungen loskommt, gegen sich selbst ironisch und schnöde – Galeerensklaven, mit aller Verfeinerung (– übrigens in den häufigsten Fällen bereits Symptom der Rassen- und Familien-décadence, wie alle Hyper-Reizbarkeit; insgleichen als Kontagium des Milieus –: auch bestimmbar zu sein durch die Umgebung, gehört zur décadence –); 3. der Alkoholismus, nicht der Instinkt, sondern die Gewöhnung, die stupide Nachahmung, die feige oder eitle Anpassung an ein herrschendes régime: – Welche Wohltat ist ein Jude unter Deutschen! Wieviel Stumpfheit, wie flächsern der Kopf, wie blau das Auge; der Mangel an Esprit in Gesicht, Wort, Haltung; das faule Sich-strecken, das deutsche Erholungs-Bedürfnis, das nicht aus Überarbeitung, sondern aus der widrigen Reizung und Überreizung durch Alkoholika herkommt...
[49]
Die Priester – und mit ihnen die Halbpriester, die Philosophen – haben zu allen Zeiten eine Lehre Wahrheit genannt, deren erzieherische Wirkung wohltätig war oder wohltätig schien – die »besserte«. Sie[806] gleichen damit einem naiven Heilkünstler und Wundermann aus dem Volke, der, weil er ein Gift als Heilmittel erprobt hat, leugnet, daß dasselbe ein Gift ist... »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen – nämlich unsre ›Wahrheiten‹«: das ist das Priester-Raisonnement bis heute noch. Sie haben selbst verhängnisvoll genug ihren Scharfsinn dahin verschwendet, dem »Beweis der Kraft« (oder »aus den Früchten«) den Vorrang, ja die Entscheidung über alle Formen des Beweises zu geben. »Was gut macht, muß gut sein; was gut ist, kann nicht lügen« – so schließen sie unerbittlich –: »was gute Früchte trägt, das muß folglich wahr sein: es gibt kein anderes Kriterium der Wahrheit«...
Sofern aber das »Besser-machen« als Argument gilt, muß das Schlechter-machen als Widerlegung gelten. Man beweist den Irrtum damit als Irrtum, daß man das Leben derer prüft, die ihn vertreten: ein Fehltritt, ein Laster widerlegt... Diese unanständigste Art der Gegnerschaft, die von hinten und unten, die Hunde-Art, ist insgleichen niemals ausgestorben: die Priester, sofern sie Psychologen sind, haben nie etwas interessanter gefunden, als an den Heimlichkeiten ihrer Gegner zu schnüffeln – sie beweisen ihr Christentum damit, daß sie bei der »Welt« nach Schmutz suchen. Voran bei den Ersten der Welt, bei den »Genies«: man erinnere sich, wie jederzeit in Deutschland gegen Goethe angekämpft worden ist (Klopstock und Herder gingen hierin mit »gutem Beispiel« voran – Art läßt nicht von Art).
[396]
Man muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen... Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er taugt nicht zum Moralisten.
Die Moral ist eine Menagerie; ihre Voraussetzung, daß eiserne Stäbe nützlicher sein können als Freiheit, selbst für den Eingefangenen; ihre andere Voraussetzung, daß es Tierbändiger gibt, die sich vor furchtbaren Mitteln nicht fürchten – die glühendes Eisen zu handhaben wissen. Diese schreckliche Spezies, die den Kampf mit dem wilden Tier aufnimmt, heißt sich »Priester«.
Der Mensch, eingesperrt in einen eisernen Käfig von Irrtümern, eine Karikatur des Menschen geworden, krank, kümmerlich, gegen sich[807] selbst böswillig, voller Haß auf die Antriebe zum Leben, voller Mißtrauen gegen alles, was schön und glücklich ist am Leben, ein wandelndes Elend: diese künstliche, willkürliche, nachträgliche Mißgeburt, welche die Priester aus ihrem Boden gezogen haben, den »Sünder«: wie werden wir es erlangen, dieses Phänomen trotz alledem zu rechtfertigen ?
[397a]
Das Mittel, Priester und Religionen zu widerlegen, ist immer nur dies: zeigen, daß ihre Irrtümer aufgehört haben, wohltätig zu sein – daß sie mehr schaden, kurz daß ihr eigner »Beweis der Kraft« nicht mehr stichhält...
[157]
Die wertvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden: aber die wertvollsten Einsichten sind die Methoden.
Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissenschaft haben jahrtausendelang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt: auf sie hin ist man aus dem Verkehr mit honetten Menschen ausgeschlossen worden – man galt als »Feind Gottes«, als Verächter des höchsten Ideals, als »Besessener«.
Wir haben das ganze Pathos der Menschheit gegen uns gehabt – unser Begriff von dem, was die »Wahrheit« sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll, unsre Objektivität, unsre Methode, unsre stille, vorsichtige, mißtrauische Art war vollkommen verächtlich... Im Grunde war es ein ästhetischer Geschmack, was die Menschheit am längsten gehindert hat: sie glaubte an den pittoresken Effekt der Wahrheit, sie verlangte vom Erkennenden, daß er stark auf die Phantasie wirke.
Das sieht aus, als ob ein Gegensatz erreicht, ein Sprung gemacht worden sei: in Wahrheit hat jene Schulung durch die Moral-Hyperbeln Schritt für Schritt jenes Pathos milderer Art vorbereitet, das als wissenschaftlicher Charakter leibhaft wurde...
Die Gewissenhaftigkeit im Kleinen, die Selbstkontrolle des religiösen Menschen war eine Vorschule zum wissenschaftlichen Charakter: vor allem die Gesinnung, welche Probleme ernst nimmt, noch abgesehen davon, was persönlich dabei für einen herauskommt...
[469]
[808]
Die beiden großen Tentativen, die gemacht worden sind, das 18. Jahrhundert zu überwinden:
Napoleon, indem er den Mann, den Soldaten und den großen Kampf um Macht wieder aufweckte – Europa als politische Einheit konzipierend;
Goethe, indem er eine europäische Kultur imaginierte, die die volle Erbschaft der schon erreichten Humanität macht.
Die deutsche Kultur dieses Jahrhunderts erweckt Mißtrauen – in der Musik fehlt jenes volle, erlösende und bindende Element Goethe –
[104]
Im großen gerechnet, ist in unsrer jetzigen Menschheit ein ungeheures Quantum von Humanität erreicht. Daß dies im allgemeinen nicht empfunden wird, ist selber ein Beweis dafür: wir sind für die kleinen Notstände so empfindlich geworden, daß wir das, was erreicht ist, unbillig übersehn.
Hier ist abzurechnen, daß es viel décadence gibt und daß mit solchen Augen gesehn, unsre Welt schlecht und miserabel aussehn muß. Aber diese Augen haben zu allen Zeiten das gleiche gesehn:
Die Tatsache des Kredits, des ganzen Welthandels, der Verkehrsmittel – ein ungeheures mildes Vertrauen auf den Menschen drückt sich darin aus... Dazu trägt auch bei
Ich versuche auf meine Weise eine Rechtfertigung der Geschichte.
[63]
Moral ein nützlicher Irrtum, deutlicher, in Hinsicht auf die größten und vorurteilsfreiesten ihrer Förderer, eine notwendig erachtete Lüge.
[402]
Wovor ich warne: die décadence-Instinkte nicht mit der Humanität zu verwechseln;[809]
die auflösenden und notwendig zur décadence treibenden Mittel der Zivilisation nicht mit der Kultur zu verwechseln;
die Libertinage, das Prinzip des »laisser aller», nicht mit dem Willen zur Macht zu verwechseln (– er ist dessen Gegenprinzip).
[122]
Was ich mit aller Kraft deutlich zu machen wünsche:
a) daß es keine schlimmere Verwechslung gibt, als wenn man Züchtung mit Zähmung verwechselt: was man getan hat... Die Züchtung ist, wie ich sie verstehe, ein Mittel der ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der Menschheit, so daß die Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen können – nicht nur äußerlich, sondern innerlich, organisch aus ihnen herauswachsend, ins Stärkere...
b) daß es eine außerordentliche Gefahr gibt, wenn man glaubt, daß die Menschheit als Ganzes fortwüchse und stärker würde, wenn die Individuen schlaff, gleich, durchschnittlich werden... Menschheit ist ein Abstraktum: das Ziel der Züchtung kann auch im einzelnsten Falle immer nur der stärkere Mensch sein (– der ungezüchtete ist schwach, vergeuderisch, unbeständig –).
[398]
Wenn irgend etwas unsre Vermenschlichung, einen wahren tatsächlichen Fortschritt bedeutet, so ist es, daß wir keine exzessiven Gegensätze, überhaupt keine Gegensätze mehr brauchen...
wir dürfen die Sinne lieben, wir haben sie in jedem Grade vergeistigt und artistisch gemacht;
wir haben ein Recht auf alle die Dinge, die am schlimmsten bisher verrufen waren.
[115]
A. In dem Maße, in dem heute das Christentum noch nötig erscheint, ist der Mensch noch wüst und verhängnisvoll...
B. In anderem Betracht ist es nicht nötig, sondern extrem schädlich, wirkt aber anziehend und verführend, weil es dem morbiden Charakter ganzer Schichten, ganzer Typen der jetzigen Menschheit entspricht...
sie geben ihrem Hange nach, indem sie christlich aspirieren – die décadents aller Art –.
Man hat hier zwischen A und B streng zu scheiden. Im Fall A ist Christentum ein Heilmittel, mindestens ein Bändigungsmittel (– es[810] dient unter Umständen, krank zu machen: was nützlich sein kann, um die Wüstheit und Roheit zu brechen). Im Fall B ist es ein Symptom der Krankheit selbst, vermehrt die décadence; hier wirkt es einem korroborierenden System der Behandlung entgegen, hier ist es der Kranken-Instinkt gegen das, was ihm heilsam ist –
[236]
Die Idee der »wahren Welt« oder »Gottes« als absolut unsinnlich, geistig, gütig ist eine Notmaßregel im Verhältnis dazu, als die Gegen-Instinkte noch allmächtig sind...
Die Mäßigkeit und erreichte Humanität zeigt sich exakt in der Vermenschlichung der Götter: die Griechen der stärksten Zeit, die vor sich selber keine Furcht hatten, sondern Glück an sich hatten, näherten ihre Götter an alle ihre Affekte –.
Die Vergeistigung der Gottes-Idee ist deshalb fern davon, einen Fortschritt zu bedeuten: man fühlt dies recht herzlich bei der Berührung mit Goethe – wie da die Verdunstung Gottes zu Tugend und Geist sich als eine rohere Stufe fühlbar macht...
[573]
Die Partei der Ernsten, Würdigen, Nachdenklichen: und ihr gegenüber die wüste, unsaubere, unberechenbare Bestie –: ein bloßes Problem der Tierbändigung – wobei der Tierbändiger hart, furchtbar und schreckeneinflößend sein muß für seine Bestie.
Alle wesentlichen Forderungen müssen mit einer brutalen Deutlichkeit, d. h. tausendfach übertrieben gestellt werden: die Erfüllung der Forderung selbst muß in einer Vergröberung dargestellt werden, daß sie Ehrfurcht erregt, z. B. die Entsinnlichung seitens der Brahmanen.
Der Kampf mit der Kanaille und dem Vieh. Ist eine gewisse Bändigung und Ordnung erreicht, so muß die Kluft zwischen diesen Gereinigten und Wiedergeborenen und dem Rest so furchtbar wie möglich aufgerissen werden...
Diese Kluft vermehrt die Selbstachtung, den Glauben an das, was von ihnen dargestellt wird, bei den höheren Kasten – daher der Tschandala. Die Verachtung und deren Übermaß ist vollkommen psychologisch korrekt, nämlich hundertfach übertrieben, um überhaupt nachgefühlt zu werden.
[237]
[811]
Der Kampf gegen die brutalen Instinkte ist ein anderer, als der Kampf gegen die krankhaften Instinkte; er kann selbst ein Mittel sein, um über die Brutalität Herr zu werden, krankzumachen. Die psychologische Behandlung im Christentum läuft oft darauf hinaus, aus einem Vieh ein krankes und folglich zahmes Tier zu machen.
Der Kampf gegen rohe und wüste Naturen muß ein Kampf mit Mitteln sein, die auf sie wirken: die abergläubischen Mittel sind unersetzlich und unerläßlich...
[238]
Um billig von der Moral zu denken, müssen wir zwei zoologische Begriffe an ihre Stelle setzen: Zähmung der Bestie und Züchtung einer bestimmten Art.
Die Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie »bessern» wollen... Aber wir andern lachen, wenn ein Tierbändiger von seinen »gebesserten« Tieren reden wollte. Die Zähmung der Bestie wird in den meisten Fällen durch eine Schädigung der Bestie erreicht: auch der moralische Mensch ist kein besserer Mensch, sondern nur ein geschwächter. Aber er ist weniger schädlich...
[397b]
Die psychologischen Verwechslungen: – das Verlangen nach Glauben – verwechselt mit dem »Willen zur Wahrheit« (z. B. bei Carlyle). Aber ebenso ist das Verlangen nach Unglauben verwechselt worden mit dem »Willen zur Wahrheit« (– ein Bedürfnis, loszukommen von einem Glauben, aus hundert Gründen: Recht zu bekommen gegen irgendwelche »Gläubigen«). Was inspiriert die Skeptiker? Der Haß gegen die Dogmatiker – oder ein Ruhe-Bedürfnis, eine Müdigkeit, wie bei Pyrrho.
Die Vorteile, welche man von der Wahrheit erwartete, waren die Vorteile des Glaubens an sie: – an sich nämlich könnte ja die Wahrheit durchaus peinlich, schädlich, verhängnisvoll sein –. Man hat die »Wahrheit« auch nur wieder bekämpft, als man Vorteile sich vom Siege versprach – z. B. Freiheit von den herrschenden Gewalten.
Die Methodik der Wahrheit ist nicht aus Motiven der Wahrheit gefunden worden, sondern aus Motiven der Macht, des Überlegen-sein-wollens.
Womit beweist sich die Wahrheit? Mit dem Gefühl der erhöhten[812] Macht – mit der Nützlichkeit – mit der Unentbehrlichkeit – kurz mit Vorteilen (nämlich Voraussetzungen, welcher Art die Wahrheit beschaffen sein sollte, um von uns anerkannt zu werden). Aber das ist ein Vorurteil: ein Zeichen, daß es sich gar nicht um Wahrheit handelt...
Was bedeutet z. B. der »Wille zur Wahrheit« bei den Goncourts? bei den Naturalisten? – Kritik der »Objektivität«.
Warum erkennen: warum nicht lieber sich täuschen? ... Was man wollte, war immer der Glaube – und nicht die Wahrheit... Der Glaube wird durch entgegengesetzte Mittel geschaffen als die Methodik der Forschung –: er schließt letztere selbst aus –.
[455]
Märtyrer. – Alles, was auf Ehrfurcht sich gründet, bedarf, um bekämpft zu werden, seitens der Angreifenden eine gewisse verwegene, rücksichtslose, selbst schamlose Gesinnung... Erwägt man nun, daß die Menschheit seit Jahrtausenden nur Irrtümer als Wahrheiten geheiligt hat, daß sie selbst jede Kritik derselben als Zeichen der schlechten Gesinnung brandmarkte, so muß man mit Bedauern sich eingestehn, daß eine gute Anzahl Immoralitäten nötig war, um die Initiative zum Angriff, will sagen zur Vernunft zu geben... Daß diese Immoralisten sich selbst immer als »Märtyrer der Wahrheit« aufgespielt haben, soll ihnen verziehen sein: die Wahrheit ist, daß nicht der Trieb zur Wahrheit, sondern die Auflösung, die frevelhafte Skepsis, die Lust am Abenteuer der Trieb war, aus dem sie negierten –. Im andern Falle sind es persönliche Rankünen, die sie ins Gebiet der Probleme treiben – sie kämpfen gegen Probleme, um gegen Personen recht zu behalten. Vor allem aber ist es die Rache, welche wissenschaftlich nutzbar geworden ist – die Rache Unterdrückter, solcher, die durch die herrschende Wahrheit beiseite gedrängt und selbst unterdrückt waren...
Die Wahrheit, will sagen die wissenschaftliche Methodik, ist von solchen erfaßt und gefördert worden, die in ihr ein Werkzeug des Kampfes errieten – eine Waffe zur Vernichtung... Um ihre Gegnerschaft zu Ehren zu bringen, brauchten sie im übrigen einen Apparat nach Art derer, die sie angriffen: – sie affichierten den Begriff »Wahrheit« ganz so unbedingt wie ihre Gegner – sie wurden Fanatiker, zum mindesten in der Attitüde, weil keine andre Attitüde ernst genommen wurde. Das übrige tat dann die Verfolgung, die Leidenschaft und[813] Unsicherheit des Verfolgten, – der Haß wuchs und folglich nahm die Voraussetzung ab, um auf dem Boden der Wissenschaft zu bleiben. Sie wollten zuletzt allesamt auf eine ebenso absurde Weise recht haben wie ihre Gegner... Das Wort »Überzeugung«, »Glaube«, der Stolz des Märtyrertums – das sind alles die ungünstigsten Zustände für die Erkenntnis. Die Gegner der Wahrheit haben zuletzt die ganze subjektive Manier, um über Wahrheit zu entscheiden, nämlich mit Attitüden, Opfern, heroischen Entschließungen, von selbst wieder akzeptiert – d. h. die Herrschaft der antiwissenschaftlichen Methode verlängert. Als Märtyrer kompromittierten sie ihre eigene Tat.
[457]
Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.
[466]
Der Irrtum und die Unwissenheit sind verhängnisvoll. – Die Behauptung, daß die Wahrheit da sei und daß es ein Ende habe mit der Unwissenheit und dem Irrtum, ist eine der größten Verführungen, die es gibt. Gesetzt, sie wird geglaubt, so ist damit der Wille zur Prüfung, Forschung, Vorsicht, Versuchung lahmgelegt: er kann selbst als frevelhaft, nämlich als Zweifel an der Wahrheit gelten...
Die »Wahrheit« ist folglich verhängnisvoller als der Irrtum und die Unwissenheit, weil sie die Kräfte unterbindet, mit denen an der Aufklärung und Erkenntnis gearbeitet wird.
Der Affekt der Faulheit nimmt jetzt Partei für die »Wahrheit« – (»Denken ist eine Not, ein Elend!«); insgleichen die Ordnung, die Regel, das Glück des Besitzes, der Stolz der Weisheit – die Eitelkeit in summa: – es ist bequemer zu gehorchen, als zu prüfen; es ist schmeichelhafter, zu denken »ich habe die Wahrheit«, als um sich herum nur Dunkel zu sehn... vor allem: es beruhigt, es gibt Vertrauen, es erleichtert das Leben – es »verbessert« den Charakter, insofern es das Mißtrauen verringert. Der »Frieden der Seele«, die »Ruhe des Gewissens«: alles Erfindungen, die nur unter der Voraussetzung möglich sind, daß die Wahrheit da ist. – »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«... Die »Wahrheit« ist Wahrheit, denn sie macht die Menschen besser... Der Prozeß setzt sich fort: alles Gute, allen Erfolg, der »Wahrheit« aufs Konto zu setzen.[814]
Das ist der Beweis der Kraft: das Glück, die Zufriedenheit, der Wohlstand des Gemeinwesens wie des einzelnen werden nunmehr als Folge des Glaubens an die Moral verstanden... Die Umkehrung: der schlimme Erfolg ist aus dem Mangel an Glauben abzuleiten –.
[452]
Was ist die Falschmünzerei an der Moral? – Sie gibt vor, etwas zu wissen, nämlich was »gut und böse« sei. Das heißt wissen wollen, wozu der Mensch da ist, sein Ziel, seine Bestimmung zu kennen. Das heißt wissen wollen, daß der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung habe –.
[338]
Die Umkehrung der Rangordnung. – Die frommen Falschmünzer, die Priester, werden unter uns zu Tschandalas: – sie nehmen die Stellung der Scharlatane, der Quacksalber, der Falschmünzer, der Zauberer ein: wir halten sie für Willens-Verderber, für die großen Verleumder und Rachsüchtigen des Lebens, für die Empörer unter den Schlechtweggekommenen. Wir haben aus der Dienstboten-Kaste, den Sudras, unsern Mittelstand gemacht, unser »Volk«, das, was die politische Entscheidung in den Händen hat.
Dagegen ist der Tschandala von ehemals obenauf: voran die Gotteslästerer, die Immoralisten, die Freizügigen jeder Art, die Artisten, die Juden, die Spielleute – im Grunde alle verrufenen Menschenklassen –.
Wir haben uns zu ehrenhaften Gedanken emporgehoben, mehr noch, wir bestimmen die Ehre auf Erden, die »Vornehmheit«... Wir alle sind heute die Fürsprecher des Lebens –. Wir Immoralisten sind heute die stärkste Macht: die großen andern Mächte brauchen uns... wir konstruieren die Welt nach unserm Bilde –.
Wir haben den Begriff »Tschandala« auf die Priester, Jenseits-Lehrer und die mit ihnen verwachsene christliche Gesellschaft übertragen, hinzugenommen was gleichen Ursprungs ist, die Pessimisten, Nihilisten, Mitleids-Romantiker, Verbrecher, Lasterhaften – die gesamte Sphäre, wo der Begriff »Gott« als Heiland imaginiert wird...
Wir sind stolz darauf, keine Lügner mehr sein zu müssen, keine Verleumder, keine Verdächtiger des Lebens...
[116]
Zur Kritik des Manu-Gesetzbuches. – Das ganze Buch ruht auf der heiligen Lüge. Ist es das Wohl der Menschheit, welches dieses ganze[815] System inspiriert hat? Diese Art Mensch, welche an die Interessiertheit jeder Handlung glaubt, war sie interessiert oder nicht, dieses System durchzusetzen? Die Menschheit zu verbessern – woher ist diese Absicht inspiriert? Woher ist der Begriff des Bessern genommen?
Wir finden eine Art Mensch, die priesterliche, die sich als Norm, als Spitze, als höchsten Ausdruck des Typus Mensch fühlt: von sich aus nimmt sie den Begriff des »Bessern«. Sie glaubt an ihre Überlegenheit, sie will sie auch in der Tat: die Ursache der heiligen Lüge ist der Wille zur Macht...
Aufrichtung der Herrschaft: zu diesem Zwecke die Herrschaft von Begriffen, welche in der Priesterschaft ein non plus ultra von Macht ansetzen. Die Macht durch die Lüge – in Einsicht darüber, daß man sie nicht physisch, militärisch besitzt... Die Lüge als Supplement der Macht – ein neuer Begriff der »Wahrheit«.
Man irrt sich, wenn man hier unbewußte und naive Entwicklung voraussetzt, eine Art Selbstbetrug... Die Fanatiker sind nicht die Erfinder solcher durchdachten Systeme der Unterdrückung... Hier hat die kaltblütigste Besonnenheit gearbeitet; dieselbe Art Besonnenheit, wie sie ein Plato hatte, als er sich seinen »Staat« ausdachte. – »Man muß die Mittel wollen, wenn man das Ziel will« – über diese Politiker-Einsicht waren alle Gesetzgeber bei sich klar.
Wir haben das klassische Muster als spezifisch arisch: wir dürfen also die bestausgestattete und besonnenste Art Mensch verantwortlich machen für die grundsätzlichste Lüge, die je gemacht worden ist... Man hat das nachgemacht, überall beinahe: der arische Einfluß hat alle Welt verdorben...
[142]
Kritik der heiligen Lüge. – Daß zu frommen Zwecken die Lüge erlaubt ist, das gehört zur Theorie aller Priesterschaften – wie weit es zu ihrer Praxis gehört, soll der Gegenstand dieser Untersuchung sein.
Aber auch die Philosophen, sobald sie mit priesterlichen Hinterabsichten die Leitung der Menschen in die Hand zu nehmen beabsichtigen, haben sofort auch sich ein Recht zur Lüge zurechtgemacht: Plato voran. Am großartigsten ist die doppelte durch die typischarischen Philosophen des Vedânta entwickelte: zwei Systeme, in allen Hauptpunkten widersprüchlich, aber aus Erziehungszwecken sich[816] ablösend, ausfüllend, ergänzend. Die Lüge des einen soll einen Zustand schaffen, in dem die Wahrheit des andern erst hörbar wird...
Wie weit geht die fromme Lüge der Priester und der Philosophen? – Man muß hier fragen, welche Voraussetzungen zur Erziehung sie haben, welche Dogmen sie erfinden müssen, um diesen Voraussetzungen genugzutun?
Erstens: sie müssen die Macht, die Autorität, die unbedingte Glaubwürdigkeit auf ihrer Seite haben.
Zweitens: sie müssen den ganzen Naturverlauf in Händen haben, so daß alles, was den einzelnen trifft, als bedingt durch ihr Gesetz erscheint.
Drittens: sie müssen auch einen weiter reichenden Machtbereich haben, dessen Kontrolle sich den Blicken ihrer Unterworfenen entzieht: das Strafmaß für das Jenseits, das »Nach-dem-Tode« – wie billig auch die Mittel, zur Seligkeit den Weg zu wissen.
– Sie haben den Begriff des natürlichen Verlaufs zu entfernen: da sie aber kluge und nachdenkliche Leute sind, so können sie eine Menge Wirkungen versprechen, natürlich als bedingt durch Gebete oder durch strikte Befolgung ihres Gesetzes. – Sie können insgleichen eine Menge Dinge verordnen, die absolut vernünftig sind, – nur daß sie nicht die Erfahrung, die Empirie als Quelle dieser Weisheit nennen dürfen, sondern eine Offenbarung oder die Folge »härtester Bußübungen«.
Die heilige Lüge bezieht sich also prinzipiell: auf den Zweck der Handlung (– der Naturzweck, die Vernunft wird unsichtbar gemacht: ein Moral-Zweck, eine Gesetzeserfüllung, eine Gottesdienstlichkeit erscheint als Zweck –): auf die Folge der Handlung (– die natürliche Folge wird als übernatürliche ausgelegt, und, um sichrer zu wirken, es werden unkontrollierbare andre, übernatürliche Folgen in Aussicht gestellt).
Auf diese Weise wird ein Begriff von Gut und Böse geschaffen, der ganz und gar losgelöst von dem Naturbegriff »nützlich«, »schädlich«, »lebenfördernd«, »lebenvermindernd« erscheint – er kann, insofern ein anderes Leben erdacht ist, sogar direkt feindselig dem Naturbegriff von Gut und Böse werden.
Auf diese Weise wird endlich das berühmte »Gewissen« geschaffen:[817] eine innere Stimme, welche bei jeder Handlung nicht den Wert der Handlung an ihren Folgen mißt, sondern in Hinsicht auf die Absicht und Konformität dieser Absicht mit dem »Gesetz«.
Die heilige Lüge hat also 1. einen strafenden und belohnenden Gott erfunden, der exakt das Gesetzbuch der Priester anerkennt und exakt sie als seine Mundstücke und Bevollmächtigten in die Welt schickt; – 2. ein Jenseits des Lebens, in dem die große Straf-Maschine erst wirksam gedacht wird – zu diesem Zwecke die Unsterblichkeit der Seele; – 3. das Gewissen im Menschen, als das Bewußtsein davon, daß Gut und Böse feststeht – daß Gott selbst hier redet, wenn es die Konformität mit der priesterlichen Vorschrift anrät; – 4. die Moral als Leugnung alles natürlichen Verlaufs, als Reduktion alles Geschehens auf ein moralisch-bedingtes Geschehen, die Moralwirkung (d. h. die Straf- und Lohn-Idee) als die Welt durchdringend, als einzige Gewalt, als creator von allem Wechsel; – 5. die Wahrheit als gegeben, als geoffenbart, als zusammenfallend mit der Lehre der Priester: als Bedingung alles Heils und Glücks in diesem und jenem Leben.
In summa: womit ist die moralische Besserung bezahlt? – Aushängung der Vernunft, Reduktion aller Motive auf Furcht und Hoffnung (Strafe und Lohn); Abhängigkeit von einer priesterlichen Vormundschaft, von einer Formalien-Genauigkeit, welche den Anspruch macht, einen göttlichen Willen auszudrücken; die Einpflanzung eines »Gewissens«, welches ein falsches Wissen an Stelle der Prüfung und des Versuchs setzt: wie als ob es bereits feststünde, was zu tun und was zu lassen wäre – eine Art Kastration des suchenden und vorwärtsstrebenden Geistes; – in summa: die ärgste Verstümmelung des Menschen, die man sich vorstellen kann, angeblich als der »gute Mensch«.
In praxi ist die ganze Vernunft, die ganze Erbschaft von Klugheit, Feinheit, Vorsicht, welche die Voraussetzung des priesterlichen Kanons ist, willkürlich hinterdrein auf eine bloße Mechanik reduziert: die Konformität mit dem Gesetz gilt bereits als Ziel, als oberstes Ziel, das Leben hat keine Probleme mehr; – die ganze Welt-Konzeption ist beschmutzt mit der Strafidee; – das Leben selbst ist, mit Hinsicht darauf, das priesterliche Leben als das non plus ultra der Vollkommenheit darzustellen, in eine Verleumdung und Beschmutzung des Lebens umgedacht; – der Begriff »Gott« stellt eine Abkehr vom Leben, eine[818] Kritik, eine Verachtung selbst des Lebens dar; – die Wahrheit ist umgedacht als die priesterliche Lüge, das Streben nach Wahrheit als Studium der Schrift, als Mittel, Theolog zu werden...
[141]
Dem Wohlgeratenen, der meinem Herzen wohltut, aus einem Holz geschnitzt, welches hart, zart und wohlriechend ist – an dem selbst die Nase noch ihre Freude hat –, sei dies Buch geweiht.
Ihm schmeckt, was ihm zuträglich ist;
sein Gefallen an etwas hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten wird;
er errät die Heilmittel gegen partielle Schädigungen; er hat Krankheiten als große Stimulantia seines Lebens;
er versteht seine schlimmen Zufälle auszunützen;
er wird stärker, durch die Unglücksfälle, die ihn zu vernichten drohen;
er sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt, zugunsten seiner Hauptsache – er folgt einem auswählenden Prinzip – er läßt viel durchfallen;
er reagiert mit der Langsamkeit, welche eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz angezüchtet haben – er prüft den Reiz, woher er kommt, wohin er will, er unterwirft sich nicht;
er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt;
er ehrt, indem er wählt, indem er zuläßt, indem er vertraut.
[1003]
Nicht die Natur ist unmoralisch, wenn sie ohne Mitleid für die Degenerierten ist: das Wachstum der physiologischen und moralischen Übel im menschlichen Geschlecht ist umgekehrt die Folge einer krankhaften und unnatürlichen Moral. Die Sensibilität der Mehrzahl der Menschen ist krankhaft und unnatürlich.
Woran hängt es, daß die Menschheit korrupt ist in moralischer und physiologischer Beziehung? – Der Leib geht zugrunde, wenn ein Organ alteriert ist. Man kann nicht das Recht des Altruismus auf die Physiologie zurückführen, ebensowenig das Recht auf Hilfe, auf Gleichheit der Lose: das sind alles Prämien für die Degenerierten und Schlechtweggekommenen.[819]
Es gibt keine Solidarität in einer Gesellschaft, wo es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische Elemente gibt: die übrigens noch entartetere Nachkommen haben werden, als sie selbst sind.
[52]
Grundeinsicht über das Wesen der décadence: was man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen.
Damit verändert sich die ganze Perspektive der moralischen Probleme.
Der ganze Moral-Kampf gegen Laster, Luxus, Verbrechen, selbst Krankheit erscheint als Naivität, als überflüssig: – es gibt keine »Besserung« (gegen die Reue).
Die décadence selbst ist nichts, was zu bekämpfen wäre: sie ist absolut notwendig und jeder Zeit und jedem Volk eigen. Was mit aller Kraft zu bekämpfen ist, das ist die Einschleppung des Kontagiums in die gesunden Teile des Organismus.
Tut man das? Man tut das Gegenteil. Genau darum bemüht man sich seitens der Humanität.
– Wie verhalten sich zu dieser biologischen Grundfrage die bisherigen obersten Werte? Die Philosophie, die Religion, die Moral, die Kunst usw.
(Die Kur: z. B. Militarismus, von Napoleon an, der in der Zivilisation seine natürliche Feindin sah.)
[41]
Man hat den unwürdigen Versuch gemacht, in Wagner und Schopenhauer Typen der geistig Gestörten zu sehen: eine ungleich wesentlichere Einsicht wäre gewonnen, den Typus der décadence, den beide darstellen, wissenschaftlich zu präzisieren.
[85]
Man spricht von der »tiefen Ungerechtigkeit« des sozialen Pakts: wie als ob die Tatsache, daß dieser unter günstigen, jener unter ungünstigen Verhältnissen geboren wird, von vornherein eine Ungerechtigkeit sei; oder gar schon, daß dieser mit diesen Eigenschaften, jener mit jenen geboren wird. Von seiten der Aufrichtigsten unter diesen Gegnern der Gesellschaft wird dekretiert: »wir selber sind mit allen unseren schlechten, krankhaften, verbrecherischen Eigenschaften, die wir eingestehen, nur die unvermeidlichen Folgen einer sekulären Unterdrückung der Schwachen durch die Starken«; sie schieben ihren Charakter[820] den herrschenden Ständen ins Gewissen. Und man droht, man zürnt, man verflucht; man wird tugendhaft vor Entrüstung –, man will nicht umsonst ein schlechter Mensch, eine Kanaille geworden sein.
Diese Attitüde, eine Erfindung unsrer letzten Jahrzehnte, heißt sich, soviel ich höre, auch Pessimismus, und zwar Entrüstungs-Pessimismus. Hier wird der Anspruch gemacht, die Geschichte zu richten, sie ihrer Fatalität zu entkleiden, eine Verantwortlichkeit hinter ihr, Schuldige in ihr zu finden. Denn darum handelt es sich: man braucht Schuldige. Die Schlechtweggekommenen, die décadents jeder Art sind in Revolte über sich und brauchen Opfer, um nicht an sich selbst ihren Vernichtungs-Durst zu löschen (– was an sich vielleicht die Vernunft für sich hätte). Dazu haben sie einen Schein von Recht nötig, d. h. eine Theorie, auf welche hin sie die Tatsache ihrer Existenz, ihres So-und-so-seins auf irgendeinen Sündenbock abwälzen können. Dieser Sündenbock kann Gott sein – es fehlt in Rußland nicht an solchen Atheisten aus Ressentiment –, oder die gesellschaftliche Ordnung, oder die Erziehung und der Unterricht, oder die Juden, oder die Vornehmen, oder überhaupt Gutweggekommene irgendwelcher Art. »Es ist ein Verbrechen, unter günstigen Bedingungen geboren zu werden: denn damit hat man die andern enterbt, beiseite gedrückt, zum Laster, selbst zur Arbeit verdammt... Was kann ich dafür, miserabel zu sein! Aber irgendwer muß etwas dafür können, sonst wäre es nicht auszuhalten!«. ... Kurz, der Entrüstungs-Pessimismus erfindet Verantwortlichkeiten, um sich ein angenehmes Gefühl zu schaffen – die Rache ... »Süßer als Honig« nennt sie schon der alte Homer. –
Daß eine solche Theorie nicht mehr Verständnis, will sagen Verachtung findet, das macht das Stück Christentum, das uns allen noch im Blute steckt: so daß wir tolerant gegen Dinge sind, bloß weil sie von fern etwas christlich riechen... Die Sozialisten appellieren an die christlichen Instinkte, das ist noch ihre feinste Klugheit... Vom Christentum her sind wir an den abergläubischen Begriff der »Seele« gewöhnt, an die »unsterbliche Seele«, an die Seelen-Monade, die eigentlich ganz woanders zu Hause ist und nur zufällig in diese oder jene Umstände, ins »Irdische« gleichsam hineingefallen ist, »Fleisch« geworden ist: doch ohne daß ihr Wesen dadurch berührt, geschweige[821] denn bedingt wäre. Die gesellschaftlichen, verwandtschaftlichen, historischen Verhältnisse sind für die Seele nur Gelegenheiten, Verlegenheiten vielleicht; jedenfalls ist sie nicht deren Werk. Mit dieser Vorstellung ist das Individuum transzendent gemacht; es darf auf sie hin sich eine unsinnige Wichtigkeit beilegen.
In der Tat hat erst das Christentum das Individuum herausgefordert, sich zum Richter über alles und jedes aufzuwerfen, der Größenwahn ist ihm beinahe zur Pflicht gemacht: es hat ja ewige Rechte gegen alles Zeitliche und Bedingte geltend zu machen! Was Staat! Was Gesellschaft! Was historische Gesetze! Was Physiologie! Hier redet ein Jenseits des Werdens, ein Unwandelbares in aller Historie, hier redet etwas Unsterbliches, etwas Göttliches: eine Seele!
Ein anderer christlicher, nicht weniger verrückter Begriff hat sich noch weit tiefer ins Fleisch der Modernität vererbt: der Begriff von der »Gleichheit der Seelen vor Gott«. In ihm ist das Prototyp aller Theorien der gleichen Rechte gegeben: man hat die Menschheit den Satz von der Gleichheit erst religiös stammeln gelehrt, man hat ihr später eine Moral daraus gemacht: was Wunder, daß der Mensch damit endet, ihn ernst zu nehmen, ihn praktisch zu nehmen! – will sagen politisch, demokratisch, sozialistisch, entrüstungs-pessimistisch.
Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache gewesen, der da suchte. Dieser Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung, vor allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet ist. Soweit auch nur der Mensch gedacht hat, so weit hat er den Bazillus der Rache in die Dinge geschleppt. Er hat Gott selbst damit krank gemacht, er hat das Dasein überhaupt um seine Unschuld gebracht: nämlich dadurch, daß er jedes So-und-so-sein auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte. Die ganze Lehre vom Willen, diese verhängnisvollste Fälschung in der bisherigen Psychologie, wurde wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe. Es war die gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, die diesem Begriff seine Würde, seine Macht, seine Wahrheit verbürgte. Die Urheber jener Psychologie – der Willens-Psychologie – hat man in den Ständen zu suchen, welche das[822] Strafrecht in den Händen hatten, voran in dem der Priester an der Spitze der ältesten Gemeinwesen: diese wollten sich ein Recht schaffen, Rache zu nehmen – sie wollten Gott ein Recht zur Rache schaffen. Zu diesem Zwecke wurde der Mensch »frei« gedacht; zu diesem Zwecke mußte jede Handlung als gewollt, mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein liegend gedacht werden. Aber mit diesen Sätzen ist die alte Psychologie widerlegt.
Heute, wo Europa in die umgekehrte Bewegung eingetreten scheint, wo wir Halkyonier zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der Welt wieder zurückzuziehen, herauszunehmen, auszulöschen suchen, wo unser größter Ernst darauf aus ist, die Psychologie, die Moral, die Geschichte, die Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen, Gott selbst von diesem Schmutze zu reinigen, – in wem müssen wir unsre natürlichsten Antagonisten sehen? Eben in jenen Aposteln der Rache und des Ressentiments, in jenen Entrüstungs-Pessimisten par excelence, welche eine Mission daraus machen, ihren Schmutz unter dem Namen »Entrüstung« zu heiligen... Wir anderen, die wir dem Werden seine Unschuld zurückzugewinnen wünschen, möchten die Missionare eines reinlicheren Gedankens sein: daß niemand dem Menschen seine Eigenschaften gegeben hat, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst, – daß niemand schuld an ihm ist... Es fehlt ein Wesen, das dafür verantwortlich gemacht werden könnte, daß jemand überhaupt da ist, daß jemand so und so ist, daß jemand unter diesen Umständen, in dieser Umgebung geboren ist. – Es ist ein großes Labsal, daß solch ein Wesen fehlt... Wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches: mit uns wird nicht der Versuch gemacht, ein »Ideal von Vollkommenheit« oder ein »Ideal von Glück« oder ein »Ideal von Tugend« zu erreichen – wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber angst werden müßte (mit welchem Gedanken bekanntlich das Alte Testament beginnt). Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser So-und-so-sein abwälzen könnten. Vor allem: niemand könnte es: man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder gar verneinen! Warum nicht? – Aus fünf Gründen, allesamt selbst bescheidenen Intelligenzen zugänglich: zum Beispiel, weil es nichts gibt außer dem Ganzen... Und[823] nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt die Unschuld alles Daseins.
[765]
Zwei Typen der Moral sind nicht zu verwechseln: eine Moral, mit der sich der gesund gebliebene Instinkt gegen die beginnende décadence wehrt – und eine andere Moral, mit der eben diese décadence sich formuliert, rechtfertigt und selber abwärts führt.
Die erstere pflegt stoisch, hart, tyrannisch zu sein (– der Stoizismus selbst war eine solche Hemmschuh-Moral); die andere ist schwärmerisch, sentimental, voller Geheimnisse, sie hat die Weiber und »schönen Gefühle« für sich (– das erste Christentum war eine solche Moral).
[268]
Man hat zu allen Zeiten die »schönen Gefühle« für Argumente genommen, den »gehobenen Busen« für den Blasebalg der Gottheit, die Überzeugung als »Kriterium der Wahrheit«, das Bedürfnis des Gegners als Fragezeichen zur Weisheit: diese Falschheit, Falschmünzerei geht durch die ganze Geschichte der Philosophie. Die achtbaren, aber nur spärlichen Skeptiker abgerechnet, zeigt sich nirgends ein Instinkt von intellektueller Rechtschaffenheit. Zuletzt hat noch Kant in aller Unschuld diese Denker-Korruption mit dem Begriff »praktische Vernunft« zu verwissenschaftlichen gesucht: er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchen Fällen man sich nicht um die Vernunft zu kümmern brauche: nämlich wenn das Bedürfnis des Herzens, wenn die Moral, wenn die »Pflicht« redet.
[414]
Wenn durch Übung in einer ganzen Reihe von Geschlechtern die Moral gleichsam einmagaziniert worden ist – also die Feinheit, die Vorsicht, die Tapferkeit, die Billigkeit –, so strahlt die Gesamtkraft dieser aufgehäuften Tugend selbst noch in die Sphäre aus, wo die Rechtschaffenheit am seltensten, in die geistige Sphäre. In allem Bewußtwerden drückt sich ein Unbehagen des Organismus aus; es soll etwas Neues versucht werden, es ist nichts genügend zurecht dafür, es gibt Mühsal, Spannung, Überreiz – das alles ist eben Bewußtwerden... Das Genie sitzt im Instinkt; die Güte ebenfalls. Man handelt nur vollkommen, sofern man instinktiv handelt. Auch moralisch betrachtet ist alles Denken, das bewußt verläuft, eine bloße Tenta tive,[824] zumeist das Widerspiel der Moral. Die wissenschaftliche Rechtschaffenheit ist immer ausgehängt, wenn der Denker anfängt zu räsonieren: man mache die Probe, man lege die Weisesten auf die Goldwaage, indem man sie Moral reden macht...
Das läßt sich beweisen, daß alles Denken, das bewußt verläuft, auch einen viel niedrigeren Grad von Moralität darstellen wird, als das Denken desselben, sofern es von seinen Instinkten geführt wird.
[440]
Nichts ist seltner unter den Philosophen als intellektuelle Rechtschaffenheit: vielleicht sagen sie das Gegenteil, vielleicht glauben sie es selbst. Aber ihr ganzes Handwerk bringt es mit sich, daß sie nur gewisse Wahrheiten zulassen; sie wissen, was sie beweisen müssen, sie erkennen sich beinahe daran als Philosophen, daß sie über diese »Wahrheiten« einig sind. Da sind z. B. die moralischen Wahrheiten. Aber der Glaube an Moral ist noch kein Beweis von Moralität: es gibt Fälle – und der Fall der Philosophen gehört hierher –, wo ein solcher Glaube einfach eine Unmoralität ist.
[445]
Renaissance und Reformation. – Was beweist die Renaissance? Daß das Reich des »Individuums« nur kurz sein kann. Die Verschwendung ist zu groß; es fehlt die Möglichkeit selbst, zu sammeln, zu kapitalisieren, und die Erschöpfung folgt auf dem Fuße. Es sind Zeiten, wo alles vertan wird, wo die Kraft selbst vertan wird, mit der man sammelt, kapitalisiert, Reichtum auf Reichtum häuft... Selbst die Gegner solcher Bewegungen sind zu einer unsinnigen Kraft-Vergeudung gezwungen; auch sie werden alsbald erschöpft, ausgebraucht, öde.
Wir haben in der Reformation ein wüstes und pöbelhaftes Gegenstück zur Renaissance Italiens, verwandten Antrieben entsprungen, nur daß diese im zurückgebliebenen, gemein gebliebenen Norden sich religiös verkleiden mußten, – dort hatte sich der Begriff des höheren Lebens von dem des religiösen Lebens noch nicht abgelöst.
Auch mit der Reformation will das Individuum zur Freiheit; »Jeder sein eigner Priester« ist auch nur eine Formel der Libertinage. In Wahrheit genügte ein Wort – »evangelische Freiheit« – und alle Instinkte, die Grund hatten, im Verborgenen zu bleiben, brachen wie wilde Hunde heraus, die brutalsten Bedürfnisse bekamen mit einem[825] Male den Mut zu sich, alles schien gerechtfertigt... Man hütete sich zu begreifen, welche Freiheit man im Grunde gemeint hatte, man schloß die Augen vor sich... Aber daß man die Augen zumachte und die Lippen mit schwärmerischen Reden benetzte, hinderte nicht, daß die Hände zugriffen, wo etwas zu greifen war, daß der Bauch der Gott des »freien Evangeliums« wurde, daß alle Rache- und Neid- Gelüste sich in unersättlicher Wut befriedigten...
Dies dauerte eine Weile: dann kam die Erschöpfung, ganz so wie sie im Süden Europas gekommen war; und auch hier wieder eine gemeine Art Erschöpfung, ein allgemeines ruere in servitium... Es kam das unanständige Jahrhundert Deutschlands...
[93]
Wohin gehört unsre moderne Welt: in die Erschöpfung oder in den Aufgang? – Ihre Vielheit und Unruhe bedingt durch die höchste Form des Bewußtwerdens.
[72]
Man hat bisher das Christentum immer auf eine falsche, und nicht bloß schüchterne Weise angegriffen. Solange man nicht die Moral des Christentums als Kapitalverbrechen am Leben empfindet, haben dessen Verteidiger gutes Spiel. Die Frage der bloßen »Wahrheit« des Christentums – sei es in Hinsicht auf die Existenz seines Gottes oder die Geschichtlichkeit seiner Entstehungslegende, gar nicht zu reden von der christlichen Astronomie und Naturwissenschaft – ist eine ganz nebensächliche Angelegenheit, solange die Wertfrage der christlichen Moral nicht berührt ist. Taugt die Moral des Christentums etwas oder ist sie eine Schändung und Schmach trotz aller Heiligkeit der Verführungskünste? Es gibt Schlupfwinkel jeder Art für das Problem von der Wahrheit; und die Gläubigsten können zuletzt sich der Logik der Ungläubigsten bedienen, um sich ein Recht zu schaffen, gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmieren – nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung (– dieser Kunstgriff heißt sich heute »Kantischer Kritizismus«).
[251]
Ich habe das Glück, nach ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung den Weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem Nein führt.[826]
Ich lehre das Nein zu allem, was schwach macht – was erschöpft.
Ich lehre das Ja zu allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl der Kraft rechtfertigt.
Man hat weder das eine noch das andre bisher gelehrt: man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt. Dies alles sind Werte der Erschöpften.
Ein langes Nachdenken über die Physiologie der Erschöpfung zwang mich zu der Frage, wie weit die Urteile Erschöpfter in die Welt der Werte eingedrungen seien.
Mein Ergebnis war so überraschend wie möglich, selbst für mich, der in mancher fremden Welt schon zu Hause war: ich fand alle obersten Werturteile, alle, die Herr geworden sind über die Menschheit, mindestens zahm gewordene Menschheit, zurückführbar auf die Urteile Erschöpfter.
Unter den heiligsten Namen zog ich die zerstörerischen Tendenzen heraus; man hat Gott genannt, was schwächt, Schwäche lehrt, Schwäche infiziert... ich fand, daß der »gute Mensch« eine Selbstbejahungsform der décadence ist.
Jene Tugend, von der noch Schopenhauer gelehrt hat, daß sie die oberste, die einzige und das Fundament aller Tugenden sei: eben jenes Mitleiden erkannte ich als gefährlicher, als irgendein Laster. Die Auswahl in der Gattung, ihre Reinigung vom Abfall grundsätzlich kreuzen – das hieß bisher Tugend par excellence...
Man soll das Verhängnis in Ehren halten; das Verhängnis, das zum Schwachen sagt »geh zugrunde!«...
Man hat es Gott genannt, daß man dem Verhängnis widerstrebte – daß man die Menschheit verdarb und verfaulen machte... Man soll den Namen Gottes nicht unnützlich führen...
Die Rasse ist verdorben – nicht durch ihre Laster, sondern ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand: die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels...
Die Tugend ist unser großes Mißverständnis.
Problem: wie kamen die Erschöpften dazu, die Gesetze der Werte zu machen? Anders gefragt: wie kamen die zur Macht, die die Letzten[827] sind? ... Wie kam der Instinkt des Tieres Mensch auf den Kopf zu stehn?...
[54]
Fortschritt. – Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts – wir möchten glauben, daß auch alles, was in ihr ist, vorwärts läuft, – daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist... Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechzehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von 1788... Die »Menschheit« avanciert nicht, sie existiert nicht einmal. Der Gesamt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentier-Werkstätte, wo einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißrät, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine décadence-Bewegung ist? ... Daß die deutsche Reformation eine Rekrudeszenz der christlichen Barbarei ist?... Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation der Gesellschaft zerstört hat? ... Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Tier: der Kultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber und Korsen; der Chinese ist ein wohlgeratener Typus, nämlich dauerfähiger, als der Europäer...
[90]
Was ist tragisch? – Ich habe zu wiederholten Malen den Finger auf das große Mißverständnis des Aristoteles gelegt, als er in zwei deprimierenden Affekten, im Schrecken und im Mitleiden, die tragischen Affekte zu erkennen glaubte. Hätte er recht, so wäre die Tragödie eine lebensgefährliche Kunst: man müßte vor ihr wie vor etwas Gemeinschädlichem und Anrüchigem warnen. Die Kunst, sonst das große Stimulans des Lebens, ein Rausch am Leben, ein Wille zum Leben, würde hier, im Dienste einer Abwärtsbewegung, gleichsam als Dienerin des Pessimismus gesundheitsschädlich (– denn daß man durch Erregung dieser Affekte sich von ihnen »purgiert«, wie Aristoteles zu glauben scheint, ist einfach nicht wahr). Etwas, das habituell Schrecken oder Mitleid erregt, desorganisiert, schwächt, entmutigt: – und gesetzt, Schopenhauer behielte recht, daß man der Tragödie die Resignation zu entnehmen habe (d. h. eine sanfte Verzichtleistung auf[828] Glück, auf Hoffnung, auf Willen zum Leben), so wäre hiermit eine Kunst konzipiert, in der die Kunst sich selbst verneint. Tragödie bedeutete dann einen Auflösungsprozeß: der Instinkt des Lebens sich im Instinkt der Kunst selbst zerstörend. Christentum, Nihilismus, tragische Kunst, physiologische décadence: das hielte sich an den Händen, das käme zur selben Stunde zum Übergewicht, das triebe sich gegenseitig vorwärts – abwärts... Tragödie wäre ein Symptom des Verfalls.
Man kann diese Theorie in der kaltblütigsten Weise widerlegen: nämlich indem man vermöge des Dynamometers die Wirkung einer tragischen Emotion mißt und man bekommt als Ergebnis, was zuletzt nur die absolute Verlogenheit eines Systematikers verkennen kann: – daß die Tragödie ein tonicum ist. Wenn Schopenhauer hier nicht begreifen wollte, wenn er die Gesamt-Depression als tragischen Zustand ansetzt, wenn er den Griechen (– die zu seinem Verdruß nicht »resignierten«...) zu verstehen gab, sie hätten sich nicht auf der Höhe der Weltanschauung befunden: so ist das parti pris, Logik des Systems, Falschmünzerei des Systematikers: eine jener schlimmen Falschmünzereien, welche Schopenhauern, Schritt für Schritt, seine ganze Psychologie verdorben hat (: er, der das Genie, die Kunst selbst, die Moral, die heidnische Religion, die Schönheit, die Erkenntnis und ungefähr alles willkürlich-gewaltsam mißverstanden hat).
[851]
Ich unterscheide einen Typus des aufsteigenden Lebens und einen andern des Verfalls, der Zersetzung, der Schwäche. Sollte man glauben, daß die Rangfrage zwischen beiden Typen überhaupt noch zu stellen ist?...
[857] [829]
Buchempfehlung
Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«
418 Seiten, 19.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro