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[838] – Und wie viele neue Götter sind noch möglich! Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt mitunter zur Unzeit lebendig wird: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedesmal das Göttliche offenbart! ... So vieles Seltsame ging schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken, die ins Leben herein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird... Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter gibt... Es fehlt nicht an solchen, aus denen man einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken darf... Die leichten Füße gehören vielleicht selbst zum Begriffe »Gott«... Ist es nötig, auszuführen, daß ein Gott sich mit Vorliebe jenseits alles Biedermännischen und Vernunftgemäßen zu halten weiß? jenseits auch, unter uns gesagt, von Gut und Böse? Er hat die Aussicht frei – mit Goethe zu reden. – Und um für diesen Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustras anzurufen: Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen »ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde«...

Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich! – Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist: der glaubt weder an alte, noch neue Götter. Zarathustra sagt, er würde –; aber Zarathustra wird nicht... Man verstehe ihn recht.

Typus Gottes nach dem Typus der schöpferischen Geister, der »großen Menschen«.

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Randbemerkung zu einer niaiserie anglaise. – »Was du nicht willst, daß dir die Leute tun, das tue ihnen auch nicht.« Das gilt als Weisheit; das gilt als Klugheit; das gilt als Grund der Moral – als »güldener Spruch«. John Stuart Mill (und wer nicht unter Engländern?) glaubt daran! ... Aber der Spruch hält nicht den leichtesten Angriff aus.[838] Der Kalkül: »tue nichts, was dir selber nicht angetan werden soll« verbietet Handlungen um ihrer schädlichen Folgen willen: der Hintergedanke ist, daß eine Handlung immer vergolten wird. Wie nun, wenn jemand, mit dem »Principe« in der Hand, sagte: »gerade solche Handlungen muß man tun, damit andere uns nicht zuvorkommen – damit wir andere außerstand setzen, sie uns anzutun«? – Andrerseits: denken wir uns einen Korsen, dem seine Ehre die vendetta gebietet. Auch er wünscht keine Flintenkugel in den Leib: aber die Aussicht auf eine solche, die Wahrscheinlichkeit einer Kugel hält ihn nicht ab, seiner Ehre zu genügen... Und sind wir nicht in allen anständigen Handlungen eben absichtlich gleichgültig gegen das, was daraus für uns kommt? Eine Handlung zu vermeiden, die schädliche Folgen für uns hätte – das wäre ein Verbot für anständige Handlungen überhaupt.

Dagegen ist der Spruch wertvoll, weil er einen Typus Mensch verrät: es ist der Instinkt der Herde, der sich mit ihm formuliert – man ist gleich, man nimmt sich gleich: wie ich dir, so du mir. – Hier wird wirklich an eine Äquivalenz der Handlungen geglaubt, die, in allen realen Verhältnissen, einfach nicht vorkommt. Es kann nicht jede Handlung zurückgegeben werden: zwischen wirklichen »Individuen« gibt es keine gleichen Handlungen, folglich auch keine »Vergeltung«... Wenn ich etwas tue, so liegt mir der Gedanke vollkommen fern, daß überhaupt dergleichen irgendeinem Menschen möglich sei: es gehört mir... Man kann mir nichts zurückzahlen, man würde immer eine »andere« Handlung gegen mich begehen.

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Ich verstehe unter »Freiheit des Geistes« etwas sehr Bestimmtes: hundertmal den Philosophen und andern Jüngern der »Wahrheit« durch Strenge gegen sich überlegen sein, durch Lauterkeit und Mut, durch den unbedingten Willen, nein zu sagen, wo das Nein gefährlich ist – ich behandle die bisherigen Philosophen als verächtliche libertins unter der Kapuze des Weibes »Wahrheit«.

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Wie verräterisch sind alle Parteien! – sie bringen etwas von ihren Führern ans Licht, das von ihnen vielleicht mit großer Kunst unter den Scheffel gestellt ist.

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[839] Paulus: er sucht Macht gegen das regierende Judentum – seine Bewegung ist zu schwach... Umwertung des Begriffes »Jude«: die »Rasse« wird beiseite getan –: aber das hieß das Fundament negieren. Der »Märtyrer«, der »Fanatiker«, der Wert alles starken Glaubens...

Das Christentum ist die Verfalls-Form der alten Welt in tiefster Ohnmacht, so daß die kränksten und ungesündesten Schichten und Bedürfnisse obenauf kommen.

Folglich mußten andere Instinkte in den Vordergrund treten, um eine Einheit, eine sich wehrende Macht zu schaffen –, kurz eine Art Notlage war nötig, wie jene, aus der die Juden ihren Instinkt zur Selbsterhaltung genommen hatten...

Unschätzbar sind hierfür die Christen-Verfolgungen – die Gemeinsamkeit in der Gefahr, die Massen- Bekehrungen als einziges Mittel, den Privat-Verfolgungen ein Ende zu machen (– er nimmt es folglich so leicht als möglich mit dem Begriff »Bekehrung« –).

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Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 838-841.
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