[24]

[844] Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.

[493]


Es gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen –: und folglich gibt es vielerlei »Wahrheiten«, und folglich gibt es keine Wahrheit.

[540]


Grundsatz: es gibt etwas von Verfall in allem, was den modernen Menschen anzeigt: aber dicht neben der Krankheit stehen Anzeichen einer unerprobten Kraft und Mächtigkeit der Seele. Dieselben Gründe, welche die Verkleinerung der Menschen hervorbringen, treiben die Stärkeren und Seltneren bis hinauf zur Größe.

[109]


Die Philosophen hatten 1. von jeher das wunderbare Vermögen zur contradictio in adjecto; 2. sie trauten den Begriffen ebenso unbedingt, als sie den Sinnen mißtrauten: sie erwogen nicht, daß Begriffe und Worte unser Erbgut aus Zeiten sind, wo es in den Köpfen sehr dunkel und anspruchslos zuging.

Was am letzten den Philosophen aufdämmert: sie müssen sich die Begriffe nicht mehr nur schenken lassen, nicht nur sie reinigen und aufhellen, sondern sie allerst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden. Bisher vertraute man im ganzen seinen Begriffen, wie als einer wunderbaren Mitgift aus irgendwelcher Wunder-Welt: aber es waren zuletzt die Erbschaften unsrer fernsten, ebenso dümmsten als gescheitesten Vorfahren. Es gehört diese Pietät gegen das, was sich in uns vorfindet, vielleicht zu dem moralischen Element im Erkennen. Zunächst tut die absolute Skepsis gegen alle überlieferten Begriffe not (wie sie vielleicht schon einmal ein Philosoph besessen hat – Plato natürlich –, denn er hat das Gegenteil gelehrt).

[409]
[844]

Mein Augenmerk darauf, an welchen Punkten der Geschichte die großen Menschen hervorspringen. Die Bedeutung langer despotischer Moralen: sie spannen den Bogen, wenn sie ihn nicht zerbrechen.

[961]


Ich bin abgeneigt 1. dem Sozialismus, weil er ganz naiv vom »Guten, Wahren, Schönen« und von »gleichen Rechten« träumt (– auch der Anarchismus will, nur auf brutalere Weise, das gleiche Ideal);

2. dem Parlamentarismus und Zeitungswesen, weil das die Mittel sind, wodurch das Herdentier sich zum Herrn macht.

[753]


Die Moralen und Religionen sind die Hauptmittel, mit denen man aus dem Menschengestalten kann, was einem beliebt: vorausgesetzt, daß man einen Überschuß von schaffenden Kräften hat und seinen Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann.

[144]


Die europäische Demokratie ist zum kleinsten Teil eine Entfesselung von Kräften. Vor allem ist sie eine Entfesselung von Faulheiten, von Müdigkeiten, von Schwächen.

[762]


Ein tüchtiger Handwerker oder Gelehrter nimmt sich gut aus, wenn er seinen Stolz bei seiner Kunst hat und genügsam und zufrieden auf das Leben blickt. Nichts hingegen ist jämmerlicher anzuschauen, als wenn ein Schuster oder Schulmeister mit leidender Miene zu verstehen gibt, er sei eigentlich für etwas Besseres geboren. Es gibt gar nichts Besseres, als das Gute! und das ist: irgendeine Tüchtigkeit haben und aus ihr schaffen, virtù im italienischen Sinne der Renaissance.

Heute, in der Zeit wo der Staat einen unsinnig dicken Bauch hat, gibt es in allen Feldern und Fächern, außer den eigentlichen Arbeitern, noch »Vertreter«: z. B. außer den Gelehrten noch Literaten, außer den leidenden Volks-Schichten noch schwätzende prahlerische Tunichtgute, welche jenes Leiden »vertreten« – gar nicht zu reden von den Politikern von Berufs wegen, welche sich wohlbefinden und Notstände vor einem Parlament mit starken Lungen »vertreten«. Unser modernes Leben ist äußerst kostspielig durch die Menge Zwischenpersonen; in einer antiken Stadt dagegen, und im Nachklang daran[845] noch in mancher Stadt Spaniens und Italiens, trat man selber auf und hätte nichts auf einen solchen modernen Vertreter und Zwischenhändler gegeben – es sei denn einen Tritt!

[75]


Ich zeige auf etwas Neues hin: gewiß, für ein solches demokratisches Wesen gibt es die Gefahr des Barbaren, aber man sucht sie nur in der Tiefe. Es gibt auch eine andere Art Barbaren, die kommen aus der Höhe: eine Art von erobernden und herrschenden Naturen, welche nach einem Stoffe suchen, den sie gestalten können. Prometheus war ein solcher Barbar.

[900]


Der Anblick des jetzigen Europäers gibt mir viele Hoffnung: es bildet sich da eine verwegene herrschende Rasse, auf der Breite einer äußerst intelligenten Herden-Masse. Es steht vor der Tür, daß die Bewegungen zur Bildung der letzteren nicht mehr allein im Vordergrund stehen.

[955]


Ein großer Mensch – ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat – was ist das? Erstens: er hat in seinem gesamten Tun eine lange Logik, die ihrer Länge wegen schwer überschaubar, folglich irreführend ist, eine Fähigkeit, über große Flächen seines Lebens hin seinen Willen auszuspannen und alles kleine Zeug an sich zu verachten und wegzuwerfen, seien darunter auch die schönsten, »göttlichsten« Dinge von der Welt. Zweitens: er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der »Meinung«; es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der »Achtung« und dem Geachtetwerden zusammenhängen, überhaupt alles, was zur »Tugend der Herde« gehört. Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt. Drittens: er will kein »teilnehmendes« Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist, im Verkehre mit Menschen, immer dar auf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß sich unmittelbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm, als welche etwas Unerreichbares[846] ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat.

[962]


Der menschliche Horizont. – Man kann die Philosophen auffassen als solche, welche die äußerste Anstrengung machen, zu erproben, wie weit sich der Mensch erheben könne – besonders Plato: wie weit seine Kraft reicht. Aber sie tun es als Individuen; vielleicht war der Instinkt der Cäsaren, der Staatengründer usw. größer, welche daran denken, wie weit der Mensch getrieben werden könne in der Entwicklung und unter »günstigen Umständen«. Aber sie begriffen nicht genug, was günstige Umstände sind. Große Frage: wo bisher die Pflanze »Mensch« am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nötig.

[973]


Durch moralische Hinterabsichten ist der Gang der Philosophie bisher am meisten aufgehalten worden.

[413]


Das langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der Französischen Revolution reichlich präludiert und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, – im ganzen also das Übergewicht der Herde über alle Hirten und Leithämmel – bringt mit sich:

1. Verdüsterung des Geistes (– das Beieinander eines stoischen und frivolen Anscheins von Glück, wie es vornehmen Kulturen eigen ist, nimmt ab; man läßt viele Leiden sehn und hören, welche man früher ertrug und verbarg);

2. die moralische Hypokrisie (eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber durch die Herden-Tugenden: Mitleid, Fürsorge, Mäßigung und nicht durch solche, die außer dem Herden-Vermögen erkannt und gewürdigt werden);

3. eine wirkliche große Menge von Mitleiden und Mitfreude (das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Herdentiere haben – »Gemeinsinn«, »Vaterland«, alles, wo das Individuum nicht in Betracht kommt).

[60] [847]


Das 20. Jahrhundert. – Der Abbé Galiani sagt einmal: La prévoyance est la cause des guerres actuelles de l'Europe. Si l'on voulait se donner la peine de ne rien prévoir, tout le monde serait tranquille, et je ne crois pas qu'on serait plus malheureux parce qu'on ne ferait pas la guerre. Da ich durchaus nicht die unkriegerischen Ansichten meines verstorbenen Freundes Galiani teile, so fürchte ich mich nicht davor, einiges vorherzusagen und also möglicherweise damit die Ursache von Kriegen heraufzubeschwören.

Eine ungeheure Besinnung, nach dem schrecklichsten Erdbeben: mit neuen Fragen.

[133] [848]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 844-849.
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