[26]

[852] Welche Vorteile bot die christliche Moral-Hypothese?

  • 1. sie verlieh dem Menschen einen absoluten Wert, im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens;

  • 2. sie diente den Advokaten Gottes, insofern sie der Welt trotz Leid und Übel den Charakter der Vollkommenheit ließ – eingerechnet jene »Freiheit« –: das Übel erschien voller Sinn;

  • 3. sie setzte ein Wissen um absolute Werte beim Menschen an und gab ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntnis;

  • 4. sie verhütete, daß der Mensch sich als Mensch verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein Erhaltungsmittel.

In summa: Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus.

[4]


Aber unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit: diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessierte Betrachtung – und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzutun, gerade als Stimulans. Wir konstatieren jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an denen der Wert zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antagonismus – das, was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen – ergibt einen Auflösungsprozeß.

[5]


Extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an[852] die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch-notwendige Affekt, wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen »Sinn« im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation ging zugrunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei.

Daß dies »Umsonst!« der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen steigert sich bis zur Frage: »sind nicht alle ›Werte‹ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näherkommt?« Die Dauer, mit einem »Umsonst«, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch, wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht foppen zu lassen.

Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige Wiederkehr«.

Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig!

Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.

Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn »alles vollkommen, göttlich, ewig« zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die »ewige Wiederkunft«. Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-Stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott »jenseits von Gut und Böse« zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? – Das wäre der Fall, wenn etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde – und immer das Gleiche.[853] Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Notwendigkeit hat: und er triumphierte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.

Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen zugrunde liegt, der sich in jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphierend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, wertvoll, mit Lust empfindet.

Nun hat die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts bei solchen Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen vergewalttätigt und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewalttätigen, die »Herren« überhaupt als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine Mann geschützt, das heißt zunächst ermutigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten hassen und verachten gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschenden ist: ihren Willen zur Macht. Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Wertung ansehen. Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre, ein Recht zu seiner Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem Willen zur Moral nur dieser »Wille zur Macht« verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor jenem habe.

Vielmehr umkehrt! Es gibt nichts am Leben, was Wert hat, außer dem Grade der Macht – gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus, indem sie jedem einen unendlichen Wert, einen metaphysischen Wert beimaß und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen[854] Macht und Rangordnung nicht stimmt: sie lehrte Ergebung, Demut usw. Gesetzt, daß der Glaube an diese Moral zugrunde geht, so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben – und zugrunde gehn.

Das Zugrunde-gehen präsentiert sich als ein Sich-zugrunde-richten, als ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nötigung zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (– gleichsam sich seine Henker selbst züchtend), der Wille zur Zerstörung als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens ins Nichts.

Nihilismus, als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben: daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, »sich zu ergeben« – daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Prinzips stellen und auch ihrerseits Macht wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-tun, nachdem alles Dasein seinen »Sinn« verloren hat.

Die »Not« ist nicht etwa größer geworden: im Gegenteil! »Gott, Moral, Ergebung« waren Heilmittel, auf furchtbar tiefen Stufen des Elends: der aktive Nihilismus tritt bei relativ viel günstiger gestalteten Verhältnissen auf. Schon daß die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Kultur voraus; diese wieder ein relatives Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer Meinungen bis zur hoffnungslosesten Skepsis gegen Philosophie gebracht, kennzeichnet ebenfalls den keineswegs niederen Stand jener Nihilisten. Man denke an die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde gelehrte Voraussetzungen haben (wie die Lehre Buddhas solche hatte, zum Beispiel Begriff der Kausalität usw.).

Was heißt jetzt »schlechtweggekommen«? Vor allem physiologisch: nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen[855] Ständen) ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüten ist bei der Einsicht, daß alles seit Ewigkeiten da war – auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. – Der Wert einer solchen Krisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten Elemente zusammendrängt und sich aneinander verderben macht, daß sie den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist – auch unter ihnen die schwächeren, unsichreren ans Licht bringend und so zu einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt der Gesundheit, den Anstoß gibt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.

Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nötig haben, die, welche einen guten Teil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehn, sondern lieben, die, welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Wertes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten – Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentieren.

Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft? –

[55]


Tatsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nötig: das Leben ist nicht mehr dermaßen ungewiß, zufällig, unsinnig in unserem Europa. Eine solch ungeheure Potenzierung vom Wert des Menschen, vom Wert des Übels usw. ist jetzt nicht so nötig, wir ertragen eine bedeutende Ermäßigung dieses Wertes, wir dürfen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war. »Gott« ist eine viel zu extreme Hypothese.

[114]
[856]

(Revue des deux mondes, 15. Febr. 1887. Taine über Napoleon:) »Plötzlich entfaltet sich die faculté maîtresse: der Künstler, eingeschlossen in den Politiker, kommt heraus de sa gaine; er schafft dans l'idéal et l'impossible. Man erkennt ihn wieder als das, was er ist: der posthume Bruder des Dante und des Michelangelo: und in Wahrheit, in Hinsicht auf die festen Konturen seiner Vision, die Intensität, Kohärenz und innere Logik seines Traums, die Tiefe seiner Meditation, die übermenschliche Größe seiner Konzeption, ist er ihnen gleich et leur égal: son génie a la même taille et la même structure; il est un des trois esprits souverains de la renaissance italienne.«

Nota bene – – Dante, Michelangelo, Napoleon.

[1018]


Diese so beginnen, daß man das Wort »Ideal« abschafft: Kritik der Wünschbarkeiten.

[330]


Das furchtbarste und gründlichste Verlangen des Menschen, sein Trieb nach Macht – man nennt diesen Trieb »Freiheit« – muß am längsten in Schranken gehalten werden. Deshalb ist die Ethik bisher, mit ihren unbewußten Erziehungs- und Züchtungs-Instinkten, darauf aus gewesen, das Macht-Gelüst in Schranken zu halten: sie verunglimpft das tyrannische Individuum und unterstreicht, mit ihrer Verherrlichung der Gemeindefürsorge und der Vaterlandsliebe, den Herden-Machtinstinkt.

[720]


Kritik der »Gerechtigkeit« und »Gleichheit vor dem Gesetz«: was eigentlich damit wegschafft werden soll? Die Spannung, die Feindschaft, der Haß. – Aber ein Irrtum ist es, daß dergestalt »das Glück« gemehrt wird: die Korsen z. B. genießen mehr Glück als die Kontinentalen.

[722]


Grundfehler: die Ziele in die Herde und nicht in einzelne Individuen zu legen! Die Herde ist Mittel, nicht mehr! Aber jetzt versucht man, die Herde als Individuum zu verstehen und ihr einen höheren Rang als dem einzelnen zuzuschreiben – tiefstes Mißverständnis!! Insgleichen das, was herdenhaft macht, die Mitgefühle, als die wertvollere Seite unsrer Natur zu charakterisieren!

[766]
[857]

Keine »moralische Erziehung« des Menschengeschlechts: sondern die Zwangsschule der wissenschaftlichen Irrtümer ist nötig, weil die »Wahrheit« degoutiert und das Leben verleidet – vorausgesetzt, daß der Mensch nicht schon unentrinnbar in seine Bahn gestoßen ist und seine redliche Einsicht mit einem tragischen Stolze auf sich nimmt.

[596]


Die Physiologen wie die Philosophen glauben, das Bewußtsein, im Maße es an Helligkeit zunimmt, wachse im Werte: das hellste Bewußtsein, das logischste, kälteste Denken sei ersten Ranges. Indessen – wonach ist dieser Wert bestimmt? – In Hinsicht auf Auslösung des Willens ist das oberflächlichste, vereinfachteste Denken das am meisten nützliche – es könnte deshalb das – usw. (weil es wenig Motive übrig läßt).

Die Präzision des Handelns steht in Antagonismus mit der weitblickenden und oft ungewiß urteilenden Vorsorglichkeit: letztere durch den tieferen Instinkt geführt.

[527]


Man darf sich die Wahrheit bis so weit zugestehn, als man bereits erhöht genug ist, um nicht mehr die Zwangsschule des moralischen Irrtums nötig zu haben. – Falls man das Dasein moralisch beurteilt, degoutiert es.

Man soll nicht falsche Personen erfinden, z. B. nicht sagen »die Natur ist grausam«. Gerade einzusehen, daß es kein solches Zentralwesen der Verantwortlichkeit gibt, erleichtert!

Entwicklung der Menschheit.

  • A. Macht über die Natur zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über sich. (Die Moral war nötig, um den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur und »wildem Tier«.)

  • B. Ist die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich selbst frei weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und Verstärkung.

[403]


Alles Denken, Urteilen, Wahrnehmen als Vergleichen hat als Voraussetzung ein »Gleich-setzen«, noch früher ein »Gleich-machen«. Das Gleich-machen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in die Amöbe ist.

»Erinnerung« spät, insofern hier der gleichmachende Trieb bereits [858] gebändigt erscheint: die Differenz wird bewahrt. Erinnern als ein Einrubrizieren und Einschachteln; aktiv – wer?

[501]


  • Was ist »passiv«? – Gehemmt sein in der vorwärtsgreifenden Bewegung: also ein Handeln des Widerstandes und der Reaktion.

  • Was ist »aktiv«? – nach Macht ausgreifend.

  • »Ernährung« – ist nur abgeleitet; das Ursprüngliche ist: alles in sich einschließen wollen.

  • »Zeugung« – nur abgeleitet; ursprünglich: wo ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu organisieren, tritt ein Gegenwille in Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationszentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen.

  • »Lust« – als Machtgefühl (die Unlust voraussetzend).


[657]


Die zwei Wege. – Es kommt ein Zeitpunkt, wo der Mensch Kraft im Überfluß zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese Sklaverei der Natur herbeizuführen.

Dann bekommt der Mensch Muße: sich selbst auszubilden, zu etwas Neuem, Höherem. Neue Aristokratie. Dann werden eine Menge Tugenden überlebt, die jetzt Existenzbedingungen waren. – Eigenschaften nicht mehr nötig haben, folglich sie verlieren. Wir haben die Tugenden nicht mehr nötig: folglich verlieren wir sie (– sowohl die Moral vom »Eins ist not«, vom Heil der Seele, wie der Unsterblichkeit: sie waren Mittel, um dem Menschen eine ungeheure Selbstbezwingung zu ermöglichen, durch den Affekt einer ungeheuren Furcht...).

Die verschiedenen Arten Not, durch deren Zucht der Mensch geformt ist: Not lehrt arbeiten, denken, sich zügeln.

Die physiologische Reinigung und Verstärkung. Die neue Aristokratie hat einen Gegensatz nötig, gegen den sie ankämpft: sie muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten.

Die zwei Zukünfte der Menschheit: 1. die Konsequenz der Vermittelmäßigung; 2. das bewußte Abheben, Sich-Gestalten.[859]

Eine Lehre, die eine Kluft schafft: sie erhält die oberste und die niedrigste Art (sie zerstört die mittlere).

Die bisherigen Aristokraten, geistliche und weltliche, beweisen nichts gegen die Notwendigkeit einer neuen Aristokratie.

[953]


Moral als Illusion der Gattung, um den einzelnen anzutreiben, sich der Zukunft zu opfern: scheinbar ihm selbst einen unendlichen Wert zugestehend, so daß er mit diesem Selbstbewußtsein andere Seiten seiner Natur tyrannisiert und niederhält und schwer mit sich zufrieden ist.

Tiefste Dankbarkeit für das, was die Moral bisher geleistet hat: aber jetzt nur noch ein Druck, der zum Verhängnis werden würde! Sie selbst zwingt als Redlichkeit zur Moralverneinung.

[404]


Die Voraussetzung der wissenschaftlichen Arbeit: ein Glaube an den Verband und die Fortdauer der wissenschaftlichen Arbeit, so daß der einzelne an jeder noch so kleinen Stelle arbeiten darf, im Vertrauen, nicht umsonst zu arbeiten.

Es gibt eine große Lähmung: umsonst arbeiten, umsonst kämpfen. – –

Die aufhäufenden Zeiten, wo Kraft, Machtmittel gefunden werden, deren sich einst die Zukunft bedienen wird: Wissenschaft als mittlere Station, an der die mittleren, vielfacheren, komplizierteren Wesen ihre natürlichste Entladung und Befriedigung haben: alle die, denen die Tat sich widerrät.

[597]


Hauptirrtum der Psychologen: sie nehmen die undeutliche Vorstellung als eine niedrigere Art der Vorstellung gegen die helle gerechnet: aber was aus unserm Bewußtsein sich entfernt und deshalb dunkel wird, kann deshalb an sich vollkommen klar sein. Das Dunkelwerden ist Sache der Bewußtseins-Perspektive.

[528]


Alles, was als »Einheit« ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit.

Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.

[489]
[860]

Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.

[1063]


Im großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens – Unrecht, Lüge, Ausbeutung – am größten. Insofern sie aber überwältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretiert worden. Typus Carlyle als Interpret.

[968]


Die Tugend (z. B. als Wahrhaftigkeit) als unser vornehmer und gefährlicher Luxus; wir müssen nicht die Nachteile ablehnen, die er mit sich bringt.

[945]


Unser »Erkennen« beschränkt sich darauf, Quantitäten festzustellen; aber wir können durch nichts hindern, diese Quantitäts-Differenzen als Qualitäten zu empfinden. Die Qualität ist eine perspektivische Wahrheit für uns; kein »An sich«.

Unsere Sinne haben ein bestimmtes Quantum als Mitte, innerhalb deren sie funktionieren, d. h. wir empfinden groß und klein im Verhältnis zu den Bedingungen unsrer Existenz. Wenn wir unsre Sinne um das Zehnfache verschärften oder verstumpften, würden wir zugrunde gehn: – d. h. wir empfinden auch Größenverhältnisse in bezug auf unsre Existenz-Ermöglichung als Qualitäten.

[563]


Die ganze Moral Europas hat den Nutzen der Herde auf dem Grunde: die Trübsal aller höheren, seltneren Menschen liegt darin, daß alles, was sie auszeichnet, ihnen mit dem Gefühl der Verkleinerung und Verunglimpfung zum Bewußtsein kommt. Die Stärken des jetzigen Menschen sind die Ursachen der pessimistischen Verdüsterung: die Mittelmäßigen sind, wie die Herde ist, ohne viel Frage und Gewissen – heiter. (Zur Verdüsterung der Starken: Pascal, Schopenhauer.)

Je gefährlicher eine Eigenschaft der Herde scheint, um so gründlicher wird sie in die Acht getan.

[276]


Die geistigsten Menschen empfinden den Reiz und Zauber der sinnlichen Dinge, wie es sich die anderen Menschen – solche mit den »fleischernen Herzen« – gar nicht vorstellen können, auch nicht vorstellen dürften, – sie sind Sensualisten im besten Glauben, weil sie den[861] Sinnen einen grundsätzlicheren Wert zugestehen als jenem feinen Siebe, dem Verdünnungs-, Verkleinerungsapparate, oder wie das heißen mag, was man, in der Sprache des Volkes, »Geist« nennt. Die Kraft und Macht der Sinne – das ist das Wesentlichste an einem wohlgeratenen und ganzen Menschen: das prachtvolle »Tier« muß zuerst gegeben sein – was liegt sonst an aller »Vermenschlichung«!

[1045]


Grundlösung. – Wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe. Die Sprache ist auf die allernaivsten Vorurteile hin gebaut.

Nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken – somit die »ewige Wahrheit« der »Vernunft« glauben (z. B. Subjekt, Prädikat usw.).

Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn.

Das vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.

[522]


Die Entwicklung der Wissenschaft löst das »Bekannte« immer mehr in ein Unbekanntes auf: – sie will aber gerade das Umgekehrte und geht von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen.

In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl, daß »Erkennen« gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmut war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur »Erkennen« als eine Möglichkeit gelten zu lassen – daß »Erkennen« eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Tatsache: so wenig »Ding an sich«, so wenig ist »Erkenntnis an sich« noch erlaubt als Begriff. Die Verführung durch »Zahl und Logik«, die Verführung durch die »Gesetze«.

»Weisheit« als Versuch, über die perspektivischen Schätzungen (d. h. über den »Willen zur Macht«) hinwegzukommen: ein lebensfeindliches und auflösendes Prinzip, Symptom wie bei den Indern usw., Schwächung der Aneignungskraft.

[608]
[862]

Der Intellekt kann sich nicht selbst kritisieren, eben weil er nicht zu vergleichen ist mit andersgearteten Intellekten und weil sein Vermögen zu erkennen erst angesichts der »wahren Wirklichkeit« zutage treten würde, d. h. weil, um den Intellekt zu kritisieren, wir ein höheres Wesen mit »absoluter Erkenntnis« sein müßten. Dies setzte schon voraus, daß es, abseits von allen perspektivischen Arten der Betrachtung und sinnlich-geistiger Aneignung, etwas gäbe, ein »An sich«. – Aber die psychologische Ableitung des Glaubens an Dinge verbietet uns, von »Dingen an sich« zu reden.

[473]


Wir stellen ein Wort hin, wo unsre Unwissenheit anhebt, wo wir nicht mehr weiter sehn können, z. B. das Wort »Ich«, das Wort »tun«, das Wort »leiden«: – das sind vielleicht Horizontlinien unsrer Erkenntnis, aber keine »Wahrheiten«.

[482]


Der faule Fleck des Kantischen Kritizismus ist allmählich auch den gröberen Augen sichtbar geworden: Kant hatte kein Recht mehr zu seiner Unterscheidung »Erscheinung« und »Ding an sich« – er hatte sich selbst das Recht abgeschnitten, noch fernerhin in dieser alten üblichen Weise zu unterscheiden, insofern er den Schluß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erscheinung als unerlaubt ablehnte – gemäß seiner Fassung des Kausalitätsbegriffs und dessen rein intraphänomenaler Gültigkeit: welche Fassung andrerseits jene Unterscheidung schon vorwegnimmt, wie als ob das »Ding an sich« nicht nur erschlossen, sondern gegeben sei.

[553] [863]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 852-864.
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