[444] Das Verlangen nach »festen Tatsachen« – Erkenntnistheorie: wie viel Pessimismus ist darin!
[591]
Eine pessimistische Denkweise und Lehre, ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Druck und Hammer, mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft, um für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben.
[1055]
Was ist vornehm?
– Die Sorgfalt im Äußerlichsten, insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fernhält, vor Verwechslung schützt.
– Der frivole Anschein in Wort, Kleidung, Haltung, mit dem eine stoische Härte und Selbstbezwingung sich vor aller unbescheidenen Neugierde schützt.
– Die langsame Gebärde, auch der langsame Blick. Es gibt nicht zu viel wertvolle Dinge: und diese kommen und wollen von selbst zu dem Wertvollen. Wir bewundern schwer.
– Das Ertragen der Armut und der Dürftigkeit, auch der Krankheit.
– Das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen jeden, welcher leicht lobt: denn der Lobende glaubt daran, daß er verstehe, was er lobe: verstehen aber – Balzac hat es verraten, dieser typisch Ehrgeizige – comprendre c'est égaler.
– Unser Zweifel an der Mitteilbarkeit des Herzens geht in die Tiefe; die Einsamkeit nicht als gewählt, sondern als gegeben.
– Die Überzeugung, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten hat, gegen die andern sich nach Gutdünken verhält: daß nur inter[444] pares auf Gerechtigkeit zu hoffen (leider noch lange nicht zu rechnen) ist.
– Die Ironie gegen die »Begabten«, der Glaube an den Geburtsadel auch im Sittlichen.
– Immer sich als den fühlen, der Ehren zu vergeben hat: während nicht häufig sich jemand findet, der ihn ehren dürfte.
– Immer verkleidet: je höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des Inkognitos. Gott, wenn es einen gäbe, dürfte, schon aus Anstandsgründen, sich nur als Mensch in der Welt bezeigen.
– Die Fähigkeit zum otium, der unbedingten Überzeugung, daß ein Handwerk in jedem Sinne zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht »Fleiß« im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn auch zu ehren und zu Geltung zu bringen wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie Hühner machen, gackern und Eier legen und wieder gackern.
– Wir beschützen die Künstler und Dichter und wer irgendworin Meister ist: aber als Wesen, die höherer Art sind als diese, welche nur etwas können, als die bloß »produktiven Menschen«, verwechseln wir uns nicht mit ihnen.
– Die Lust an den Formen; das In-Schutz-nehmen alles Förmlichen, die Überzeugung, daß Höflichkeit eine der großen Tugenden ist; das Mißtrauen gegen alle Arten des Sich-gehen-lassens, eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem und tölpelhaft wird und die Glieder streckt.
– Das Wohlgefallen an den Frauen als an einer vielleicht kleineren, aber feineren und leichteren Art von Wesen. Welches Glück, Wesen zu begegnen, die immer Tanz und Torheit und Putz im Kopfe haben! Sie sind das Entzücken aller sehr gespannten und tiefen Mannsseelen gewesen, deren Leben mit großer Verantwortlichkeit beschwert ist.
– Das Wohlgefallen an den Fürsten und Priestern, weil sie den Glauben an eine Verschiedenheit der menschlichen Werte selbst noch in der Abschätzung der Vergangenheit zum mindesten symbolisch und im ganzen und großen sogar tatsächlich aufrechterhalten.
– Das Schweigen-können: aber darüber kein Wort vor Hörern.
– Das Ertragen langer Feindschaften: der Mangel an der leichten Versöhnlichkeit.[445]
– Der Ekel am Demagogischen, an der »Aufklärung«, an der »Gemütlichkeit«, an der pöbelhaften Vertraulichkeit.
– Das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen Seele; nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften.
– Wir lehnen uns gegen schlimme und gute Erfahrungen auf und verallgemeinern nicht so schnell. Der einzelne Fall: wie ironisch sind wir gegen den einzelnen Fall, wenn er den schlechten Geschmack hat, sich als Regel zu gebärden!
– Wir lieben das Naive und die Naiven, aber als Zuschauer und höhere Wesen; wir finden Faust ebenso naiv als sein Gretchen.
– Wir schätzen die Guten gering, als Herdentiere: wir wissen, wie unter den schlimmsten, bösartigsten, härtesten Menschen oft ein unschätzbarer Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit der Milchseelen überwiegt.
– Wir halten einen Menschen unserer Art nicht widerlegt durch seine Laster noch durch seine Torheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind und daß wir alle Gründe haben, uns Vordergründe zu geben.
[943]
Daß eine Gleichgewichts-Lage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht möglich ist. Aber in einem unbestimmten Raum müßte sie erreicht sein. Ebenfalls in einem kugelförmigen Raum. Die Gestalt des Raumes muß die Ursache der ewigen Bewegung sein und zuletzt aller »Unvollkommenheit«.
Daß »Kraft« und »Ruhe«, »Sich-gleich-bleiben« sich widerstreiten. Das Maß der Kraft (als Größe) als fest, ihr Wesen aber flüssig.
»Zeitlos« abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Verteilung aller ihrer Kräfte gegeben: sie kann nicht stillstehn. »Veränderung« gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit: womit aber nur die Notwendigkeit der Veränderung noch einmal begrifflich gesetzt wird.
[1064]
Wir wissen, daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergibt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres »leeren Raumes«, einen Zuwachs unserer »Öde« –
[603]
[446]
Der neue Philosoph kann nur in Verbindung mit einer herrschenden Kaste entstehen, als deren höchste Vergeistigung. Die große Politik, Erdregierung in der Nähe; vollständiger Mangel an Prinzipien dafür.
[978]
Grundgedanke: die neuen Werte müssen erst geschaffen werden – das bleibt uns nicht erspart! Der Philosoph muß uns ein Gesetzgeber sein. Neue Arten. (Wie bisher die höchsten Arten [z. B. Griechen] gezüchtet wurden: diese Art »Zufall« bewußt wollen.)
[979]
Aberglaube über den Philosophen: Verwechslung mit dem wissenschaftlichen Menschen. Als ob die Werte in den Dingen steckten und man sie nur festzuhalten hätte! Inwiefern sie unter der Einflüsterung gegebener Werte forschen (ihr Haß auf Schein, Leib usw.). Schopenhauer in betreff der Moral (Hohn über den Utilitarismus). Zuletzt geht die Verwechslung so weit, daß man den Darwinismus als Philosophie betrachtet: und jetzt ist die Herrschaft bei den wissenschaftlichen Menschen. Auch die Franzosen wie Taine suchen oder meinen zu suchen, ohne die Wertmaße schon zu haben. Die Niederwerfung vor den »Fakten«, eine Art Kultus. Tatsächlich vernichten sie die bestehenden Wertschätzungen.
Erklärung dieses Mißverständnisses. Der Befehlende entsteht selten; er mißdeutet sich selber. Man will durchaus die Autorität von sich ablehnen und in die Umstände setzen. – In Deutschland gehört die Schätzung des Kritikers in die Geschichte der erwachenden Männlichkeit. Lessing usw. (Napoleon über Goethe). Tatsächlich ist diese Bewegung durch die deutsche Romantik wieder rückgängig gemacht: und der Ruf der deutschen Philosophie bezieht sich auf sie, als ob mit ihr die Gefahr der Skepsis beseitigt sei und der Glaube bewiesen werden könne. In Hegel kulminieren beide Tendenzen: im Grunde verallgemeinert er die Tatsache der deutschen Kritik und die Tatsache der deutschen Romantik – eine Art von dialektischem Fatalismus, aber zu Ehren des Geistes, tatsächlich mit Unterwerfung des Philosophen unter die Wirklichkeit. Der Kritiker bereitet vor: nicht mehr!
Mit Schopenhauer dämmen die Aufgabe des Philosophen, daß es sich um eine Bestimmung des Wertes handle: immer noch unter der Herrschaft des Eudämonismus. Das Ideal des Pessimismus.
[422]
[447]
Meine Vorbereiter: Schopenhauer: Inwiefern ich den Pessimismus vertiefte und durch Erfindung seines höchsten Gegensatzes erst ganz mir zum Gefühl brachte.
Sodann: die höheren Europäer, Vorläufer der großen Politik.
Sodann: die Griechen und ihre Entstehung.
[463]
Das Problem der Moral sehen und zeigen – das scheint mir die neue Aufgabe und Hauptsache. Ich leugne, daß das in der bisherigen Moralphilosophie geschehen ist.
[263]
Tartüfferie der Wissenschaftlichkeit. – Man muß nicht Wissenschaftlichkeit affektieren, wo es noch nicht Zeit ist, wissenschaftlich zu sein; aber auch der wirkliche Forscher hat die Eitelkeit von sich zu tun, eine Art von Methode zu affektieren, welche im Grunde noch nicht an der Zeit ist. Ebenso Dinge und Gedanken, auf die er anders gekommen ist, nicht mit einem falschen Arrangement von Deduktion und Dialektik zu »fälschen«. So fälscht Kant in seiner »Moral« seinen innewendigen psychologischen Hang; ein neuerliches Beispiel ist Herbert Spencers Ethik. – Man soll die Tatsache, wie uns unsre Gedanken gekommen sind, nicht verhehlen und verderben. Die tiefsten und unerschöpftesten Bücher werden wohl immer etwas von dem aphoristischen und plötzlichen Charakter von Pascals Pensées haben. Die treibenden Kräfte und Wertschätzungen sind lange unter der Oberfläche; was hervorkommt, ist Wirkung.
Ich wehre mich gegen alle Tartüfferie von falscher Wissenschaftlichkeit:
1. in bezug auf die Darlegung, wenn sie nicht der Genesis der Gedanken entspricht;
2. in den Ansprüchen auf Methoden, welche vielleicht zu einer bestimmten Zeit der Wissenschaft noch gar nicht möglich sind;
3. in den Ansprüchen auf Objektivität, auf kalte Unpersönlichkeit, wo, wie bei allen Wertschätzungen, wir mit zwei Worten von uns und unsren inneren Erlebnissen erzählen. Es gibt lächerliche Arten von Eitelkeit, z. B. Saint-Beuves, der sich zeitlebens geärgert hat, hier und da wirklich Wärme und Leidenschaft im »Für« und »Wider« gehabt zu haben und es gern aus seinem Leben weggelogen hätte.
[424]
[448]
Unsere Psychologen, deren Blick unwillkürlich nur an den Symptomen der décadence hängen bleibt, lenken immer wieder unser Mißtrauen wider den Geist. Man sieht immer nur die schwächenden, verzärtelnden, verkränkelnden Wirkungen des Geistes: aber es kommen nun neue Barbaren:
die Zyniker Vereinigung der geistigen Über-
die Versucher legenheit mit Wohlbefinden und
die Eroberer Überschuß an Kräften.
[899]
1. Die organischen Funktionen zurückübersetzt in den Grundwillen, den Willen zur Macht, – und aus ihm abgespaltet.
2. Der Wille zur Macht sich spezialisierend als Wille zur Nahrung, nach Eigentum, nach Werkzeugen, nach Dienern (Gehorchern) und Herrschern: der Leib als Beispiel. – Der stärkere Wille dirigiert den schwächeren. Es gibt gar keine andre Kausalität als die von Wille zu Wille. Mechanistisch nicht erklärt.
3. Denken, Fühlen, Wollen in allem Lebendigen. Was ist eine Lust anderes als: eine Reizung des Machtgefühls durch ein Hemmnis (noch stärker durch rhythmische Hemmungen und Widerstände) – so daß es dadurch anschwillt. Also in aller Lust ist Schmerz inbegriffen. – Wenn die Lust sehr groß werden soll, müssen die Schmerzen sehr lange und die Spannung des Bogens ungeheuer werden.
4. Die geistigen Funktionen. Wille zur Gestaltung, zur Anähnlichung usw.
[658]
Ob man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen? Im einzelnen ist es nicht rein aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes Versteckenspielen möglich gewesen, so daß sie die Gebärden und Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber, aber aus Grausamkeit – dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehen. Manche verstanden sich selber falsch; nicht selten fordert eine große Aufgabe große Qualitäten heraus, z. B. die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze und aus deren[449] Gefühle gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht.
[967]
Diese guten Europäer, die wir sind: was zeichnet uns vor den Menschen der Vaterländer aus? – Erstens wir sind Atheisten und Immoralisten, aber wir unterstützen zunächst die Religionen und Moralen des Herden-Instinktes: mit ihnen nämlich wird eine Art Mensch vorbereitet, die einmal in unsre Hände fallen muß, die nach unsrer Hand begehren muß.
Jenseits von Gut und Böse, – aber wir verlangen die unbedingte Heilighaltung der Herden-Moral.
Wir behalten uns viele Arten der Philosophie vor, welche zu lehren not tut: unter Umständen die pessimistische, als Hammer; ein europäischer Buddhismus könnte vielleicht nicht zu entbehren sein.
Wir unterstützen wahrscheinlich die Entwicklung und Ausreifung des demokratischen Wesens: es bildet die Willens-Schwäche aus: wir sehen im »Sozialismus« einen Stachel, der vor der Bequemlichkeit schützt.
Stellung zu den Völkern. Unsre Vorlieben; wir geben acht auf die Resultate der Kreuzung.
Abseits, wohlhabend, stark: Ironie auf die »Presse« und ihre Bildung. Sorge, daß die wissenschaftlichen Menschen nicht zu Literaten werden. Wir stehen verächtlich zu jeder Bildung, welche mit Zeitunglesen oder gar -schreiben sich verträgt.
Wir nehmen unsre zufälligen Stellungen (wie Goethe, Stendhal), unsre Erlebnisse als Vordergrund und unterstreichen sie, damit wir über unsre Hintergründe täuschen. Wir selber warten und hüten uns, unser Herz daran zu hängen. Sie dienen uns als Unterkunftshütten, wie sie ein Wanderer braucht und hinnimmt, – wir hüten uns, heimisch zu werden.
Wir haben eine disciplina voluntatis vor unseren Mitmenschen voraus. Alle Kraft verwendet auf Entwicklung der Willenskraft, eine Kunst, welche uns erlaubt, Masken zu tragen, eine Kunst des Verstehens jenseits der Affekte (auch »über-europäisch« denken, zeitweilig).[450]
Vorbereitung dazu, die Gesetzgeber der Zukunft, die Herren der Erde zu werden, zum mindesten unsre Kinder. Grundrücksicht auf die Ehen.
[132]
Dieselben Bedingungen, welche die Entwicklung des Herdentieres vorwärtstreiben, treiben auch die Entwicklung des Führer-Tiers.
[956] [451]
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Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.
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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
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