[9]

[452] Die Deutschen sind noch nichts, aber sie werden etwas; also haben sie noch keine Kultur, – also können sie noch keine Kultur haben! – Sie sind noch nichts: das heißt sie sind allerlei. Sie werden etwas: das heißt, sie hören einmal auf, allerlei zu sein. Das letzte ist im Grunde nur ein Wunsch, kaum noch eine Hoffnung; glücklicherweise ein Wunsch, auf dem man leben kann, eine Sache des Willens, der Arbeit, der Zucht, der Züchtung so gut als eine Sache des Unwillens, des Verlangens, der Entbehrung, des Unbehagens, ja der Erbitterung, – kurz, wir Deutschen wollen etwas von uns, was man von uns noch nicht wollte – wir wollen etwas mehr!

Daß diesem »Deutschen, wie er noch nicht ist« – etwas Besseres zukommt als die heutige deutsche »Bildung«; daß alle »Werdenden« ergrimmt sein müssen, wo sie eine Zufriedenheit auf diesem Bereiche, ein dreistes »Sich-zur-Ruhe-setzen« oder »Sich-selbst-anräuchern« wahrnehmen: das ist mein zweiter Satz, über den ich auch noch nicht umgelernt habe.

[108]


Die geistige Aufklärung ist ein unfehlbares Mittel, um die Menschen unsicher, willensschwächer, an schluß- und stütze-bedürftiger zu machen, kurz das Herdentier im Menschen zu entwickeln: weshalb bisher alle großen Regierungs-Künstler (Konfuzius in China, das imperium Romanum, Napoleon, das Papsttum, zur Zeit, wo es der Macht und nicht nur der Welt sich zugekehrt hatte), wo die herrschenden Instinkte bisher kulminierten, auch sich der geistigen Aufklärung bedienten – mindestens sie walten ließen (wie die Päpste der Renaissance). Die Selbsttäuschung der Menge über diesen Punkt, z. B. in aller Demokratie, ist äußerst wertvoll: die Verkleinerung und Regierbarkeit der Menschen wird als »Fortschritt« erstrebt!

[129]
[452]

Die Verdüsterung, die pessimistische Färbung kommt notwendig im Gefolge der Aufklärung. Gegen 1770 bemerkte man bereits die Abnahme der Heiterkeit; Frauen dachten, mit jenem weiblichen Instinkt, der immer zugunsten der Tugend Partei nimmt, daß die Immoralität daran Schuld sei. Galiani traf ins Schwarze: er zitiert Voltaires Vers:

Un monstre gai vaut mieux

Qu'un sentimental ennuyeux.

Wenn ich nun vermeine, jetzt um ein paar Jahrhunderte Voltaire und sogar Galiani – der etwas viel Tieferes war – in der Aufklärung voraus zu sein: wie weit mußte ich also gar in der Verdüsterung gelangt sein! Dies ist auch wahr: und ich nahm zeitig mich mit einer Art Bedauern in acht vor der deutschen und christlichen Enge und Folge-Unrichtigkeit des Schopenhauerschen oder gar Leopardischen Pessimismus und suchte die prinzipiellsten Formen auf(– Asien –). Um aber diesen extremen Pessimismus zu ertragen (wie er hier und da aus meiner »Geburt der Tragödie« herausklingt), »ohne Gott und Moral« allein zu leben, mußte ich mir ein Gegenstück erfinden. Vielleicht weiß ich am besten, warum der Mensch allein lacht: er allein leidet so tief, daß er das Lachen erfinden mußte. Das unglücklichste und melancholischste Tier ist, wie billig, das heiterste.

[91]


Am Leitfaden des Leibes. – Gesetzt, daß die »Seele« ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben – vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller. Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte »Seele«. Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unseren eigentlichsten Besitz, unser gewissestes Sein, kurz unser ego geglaubt worden als an den Geist (oder die »Seele« oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele sagt). Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa einen göttlichen Magen zu verstehen: aber seine Gedanken als »eingegeben«,[453] seine Wertschätzungen als »von einem Gott eingeblasen«, seine Instinkte als Tätigkeit im Dämmern zu fassen – für diesen Hang und Geschmack des Menschen gibt es aus allen Altern der Menschheit Zeugnisse. Noch jetzt ist, namentlich unter Künstlern, eine Art Verwunderung und ehrerbietiges Aushängen der Entscheidung reichlich vorzufinden, wenn sich ihnen die Frage vorlegt, wodurch ihnen der beste Wurf gelungen und aus welcher Welt ihnen der schöpferische Gedanke gekommen ist: sie haben, wenn sie dergestalt fragen, etwas wie Unschuld und kindliche Scham dabei, sie wagen es kaum zu sagen: »Das kam von mir, das war meine Hand, die die Würfel warf.« – Umgekehrt haben selbst jene Philosophen und Religiösen, welche den zwingendsten Grund in ihrer Logik und Frömmigkeit hatten, ihr Leibliches als Täuschung (und zwar als überwundene und abgetane Täuschung) zu nehmen, nicht umhin gekonnt, die dumme Tatsächlichkeit anzuerkennen, daß der Leib nicht davongegangen ist: worüber die seltsamsten Zeugnisse teils bei Paulus, teils in der Vedânta- Philosophie zu finden sind. Aber was bedeutet zuletzt Stärke des Glaubens? Deshalb könnte es immer noch ein sehr dummer Glaube sein! – Hier ist nachzudenken: –

Und zuletzt, wenn der Glaube an den Leib nur die Folge eines Schlusses ist: gesetzt, es wäre ein falscher Schluß, wie die Idealisten behaupten, ist es nicht ein Fragezeichen an der Glaubwürdigkeit des Geistes selber, daß er dergestalt die Ursache falscher Schlüsse ist? Gesetzt, die Vielheit, und Raum und Zeit und Bewegung (und was alles die Voraussetzungen eines Glaubens an Leiblichkeit sein mögen) wären Irrtümer – welches Mißtrauen würde dies gegen den Geist erregen, der uns zu solchen Voraussetzungen veranlaßt hat? Genug, der Glaube an den Leib ist einstweilen immer noch ein stärkerer Glaube als der Glaube an den Geist; und wer ihn untergraben will, untergräbt eben damit am gründlichsten auch den Glauben an die Autorität des Geistes!

[659]


Von den Welt-Auslegungen, welche bisher versucht worden sind, scheint heutzutage die mechanistische siegreich im Vordergrund zu stehen. Ersichtlich hat sie das gute Gewissen auf ihrer Seite; und keine Wissenschaft glaubt bei sich selber an einen Fortschritt und Erfolg,[454] es sei denn, wenn er mit Hilfe mechanistischer Prozeduren errungen ist. Jedermann kennt diese Prozeduren: man läßt die »Vernunft« und die »Zwecke«, so gut es gehen will, aus dem Spiele, man zeigt, daß, bei gehöriger Zeitdauer, alles aus allem werden kann, man verbirgt ein schadenfrohes Schmunzeln nicht, wenn wieder einmal die »anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale« einer Pflanze oder eines Eidotters auf Druck und Stoß zurückgeführt ist: kurz, man huldigt von ganzem Herzen, wenn in einer so ernsten Angelegenheit ein scherzhafter Ausdruck erlaubt ist, dem Prinzip der größtmöglichen Dummheit. Inzwischen gibt sich gerade bei den ausgesuchten Geistern, welche in dieser Bewegung stehen, ein Vorgefühl, eine Beängstigung zu erkennen, wie als ob die Theorie ein Loch habe, welches über kurz oder lang zu ihrem letzten Loche werden könne: ich meine zu jenem, auf dem man pfeift, wenn man in höchsten Nöten ist. Man kann Druck und Stoß selber nicht »erklären«, man wird die actio in distans nicht los: – man hat den Glauben an das Erklären-können selber verloren und gibt mit sauertöpfischer Miene zu, daß Beschreiben und nicht Erklären möglich ist, daß die dynamische Welt-Auslegung, mit ihrer Leugnung des »leeren Raumes«, den Klümpchen-Atomen, in kurzem über die Physiker Gewalt haben wird: wobei man freilich zur Dynamis noch eine innere Qualität –

[618]


Der siegreiche Begriff »Kraft«, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als »Willen zur Macht«, d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden die »Wirkung in die Ferne« aus ihren Prinzipien nicht los; ebensowenig eine abstoßende Kraft (oder anziehende). Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle »Erscheinungen«, alle »Gesetze« nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu diesem Ende bedienen. Am Tier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten; ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser einen Quelle.

[619]
[455]

Ich glaube an den absoluten Raum als Substrat der Kraft: diese begrenzt und gestaltet. Die Zeit ewig. Aber an sich gibt es nicht Raum noch Zeit. »Veränderungen« sind nur Erscheinungen (oder Sinnes-Vorgänge für uns); wenn wir zwischen diesen noch so regelmäßige Wiederkehr ansetzen, so ist damit nichts begründet als eben diese Tatsache, daß es immer so geschehen ist. Das Gefühl, daß das post hoc ein propter hoc ist, ist leicht als Mißverständnis abzuleiten; es ist begreiflich. Aber Erscheinungen können nicht »Ursachen« sein!

[545]


»Subjekt«, »Objekt«, »Prädikat« – diese Trennungen sind gemacht und werden jetzt wie Schemata übergestülpt über alle anscheinenden Tatsachen. Die falsche Grundbeobachtung ist, daß ich glaube, ich bin's, der etwas tut, etwas leidet, der etwas »hat«, der eine Eigenschaft »hat«.

[549]


Daß »Vererbung«, als etwas ganz Unerklärtes, nicht zur Erklärung benutzt werden kann, sondern nur zur Bezeichnung, Fixierung eines Problems. Eben das gilt vom »Anpassungs- Vermögen«. Tatsächlich ist durch die morphologische Darstellung, gesetzt sie wäre vollendet, nichts erklärt, aber ein ungeheurer Tatbestand beschrieben. Wie ein Organ benutzt werden kann zu irgendeinem Zwecke, das ist nicht erklärt. Es wäre mit der Annahme von causae finales so wenig wie mit causae efficientes in diesen Dingen erklärt. Der Begriff »causa« ist nur ein Ausdrucksmittel, nicht mehr; ein Mittel zur Bezeichnung.

[645]


Es gibt Analogien, z. B. zu unserm Gedächtnis ein anderes Gedächtnis, welches sich in Vererbung und Entwicklung und Formen bemerkbar macht. Zu unserem Erfinden und Experimentieren ein Erfinden in der Verwendung von Werkzeugen zu neuen Zwecken usw.

Das, was wir unser »Bewußtsein«, nennen, ist an allen wesentlichen Vorgängen unserer Erhaltung und unseres Wachstums unschuldig; und kein Kopf wäre so fein, daß er mehr konstruieren könnte als eine Maschine, – worüber jeder organische Prozeß weit hinaus ist.

[646]


Es ist unwahrscheinlich, daß unser »Erkennen« weiter reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie[456] zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältnis zur Schwierigkeit der Ernährung.

[494]


Ich hüte mich, von chemischen »Gesetzen« zu sprechen: das hat einen moralischen Beigeschmack. Es handelt sich vielmehr um eine absolute Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das Schwächere Herr, soweit dies eben seinen Grad von Selbständigkeit nicht durchsetzen kann, – hier gibt es kein Erbarmen, keine Schonung, noch weniger eine Achtung vor »Gesetzen«!

[630]


Auch im Reiche des Unorganischen kommt für ein Kraft-Atom nur seine Nachbarschaft in Betracht: die Kräfte in der Ferne gleichen sich aus. Hier steckt der Kern des Perspektivischen und warum ein lebendiges Wesen durch und durch »egoistisch« ist.

[637]


Das Schwächere drängt sich zum Stärkeren aus Nahrungsnot; es will unterschlüpfen, mit ihm womöglich eins werden. Der Stärkere wehrt umgekehrt ab von sich, er will nicht in dieser Weise zugrunde gehen; vielmehr, im Wachsen, spaltet er sich zu zweien und mehreren. Je größer der Drang ist zur Einheit, um so mehr darf man auf Schwäche schließen; je mehr der Drang nach Varietät, Differenz, innerlichem Zerfall, um so mehr Kraft ist da.

Der Trieb, sich anzunähern, – und der Trieb, etwas zurückzustoßen, sind in der unorganischen wie organischen Welt das Band. Die ganze Scheidung ist ein Vorurteil.

Der Wille zur Macht in jeder Kraft-Kombination, sich wehrend gegen das Stärkere, losstürzend auf das Schwächere ist richtiger. NB. Die Prozesse als »Wesen«.

[655]


Die fortwährenden Übergänge erlauben nicht, von »Individuum« usw. zu reden; die »Zahl« der Wesen ist selber im Fluß. Wir würden nichts von Zeit und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, »Ruhendes« neben Bewegtem zu sehen glaubten. Ebensowenig von Ursache und Wirkung, und ohne die irrtümliche Konzeption des »leeren Raumes« wären wir gar nicht zur Konzeption des Raums gekommen. Der Satz von der Identität hat als Hintergrund[457] den »Augenschein«, daß es gleiche Dinge gibt. Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht »begriffen«, nicht »erkannt« werden; nur insofern der »begreifende« und »erkennende« Intellekt eine schon geschaffene grobe Welt vorfindet, gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest geworden, insofern diese Art Schein das Leben erhalten hat – nur insofern gibt es etwas wie »Erkenntnis«: d. h. ein Messen der früheren und der jüngeren Irrtümer aneinander.

[520]


Die Verbindung des Unorganischen und Organischen muß in der abstoßenden Kraft liegen, welche jedes Kraftatom ausübt. »Leben« wäre zu definieren als eine dauernde Form von Prozessen der Kraftfeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen. Inwiefern auch im Gehorchen ein Widerstreben liegt; es ist die Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben. Ebenso ist im Befehlen ein Zugestehen, daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist, nicht einverleibt, aufgelöst. »Gehorchen« und »Befehlen« sind Formen des Kampfspiels.

[642]


– Die neuen Philosophen aber beginnen mit der Darstellung der tatsächlichen Rangordnung und Wert-Verschiedenheit der Menschen – sie wollen, ach, gerade das Gegenteil einer Anähnlichung, einer Ausgleichung sie lehren die Entfremdung in jedem Sinne, sie reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, sie wollen, daß der Mensch böser werde, als er je war. Einstweilen leben sie noch selber einander fremd und verborgen. Es wird ihnen aus vielen Gründen nötig sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen – sie werden folglich schlecht zum Suchen von ihresgleichen taugen. Sie werden allein leben und wahrscheinlich die Martern aller sieben Einsamkeiten kennen. Laufen sie sich aber über den Weg, durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten, daß sie sich verkennen oder wechselseitig betrügen.

[988]


Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein. Gäbe es für sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines »Seins« fähig, hätte sie in allem ihrem Werden nur einen Augenblick diese Fähigkeit des »Seins«, so wäre es wiederum mit allem Werden längst[458] zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem »Geiste«. Die Tatsache des »Geistes« als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist. – Die alte Gewohnheit aber, bei allem Geschehen an Ziele und bei der Welt an einen lenkenden schöpferischen Gott zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, sich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht zu denken. Auf diesen Einfall – daß also die Welt absichtlich einem Ziele ausweiche und sogar das Hineingeraten in einen Kreislauf künstlich zu verhüten wisse – müssen alle die verfallen, welche der Welt das Vermögen zur ewigen Neuheit aufdekretieren möchten, d.h. einer endlichen, bestimmten, unveränderlich gleichgroßen Kraft, wie es »die Welt« ist, die Wunder-Fähigkeit zur unendlichen Neugestaltung ihrer Formen und Lagen. Die Welt, wenn auch kein Gott mehr, soll doch der göttlichen Schöpferkraft, der unendlichen Verwandlungs-Kraft fähig sein; sie soll es sich willkürlich verwehren, in eine ihrer alten Formen zurückzugeraten; sie soll nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel haben, sich selber vor jeder Wiederholung zu bewahren; sie soll somit in jedem Augenblick jede ihrer Bewegungen auf die Vermeidung von Zielen, Endzuständen, Wiederholungen hin kontrollieren – und was alles die Folgen einer solchen unverzeihlich-verrückten Denk- und Wunschweise sein mögen. Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsucht, zu glauben, daß irgendworin doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen, unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei – daß irgendworin doch »der alte Gott noch lebe« –, jene Sehnsucht Spinozas, die sich in dem Worte »deus sive natura« (er empfand sogar »natura sive deus« –) ausdrückt. Welches ist denn aber der Satz und Glaube, mit welchem sich die entscheidende Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen, götter-erdichtenden Geist am bestimmtesten formuliert? Heißt es nicht: die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff »Kraft« unverträglich. Also – fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit.

[1062]
[459]

Im Grunde ist die Moral gegen die Wissenschaft feindlich gesinnt: schon Sokrates war dies – und zwar deshalb, weil die Wissenschaft Dinge als wichtig nimmt, welche mit »gut« und »böse« nichts zu schaffen haben, folglich dem Gefühl für »gut« und »böse« Gewicht nehmen. Die Moral nämlich will, daß ihr der ganze Mensch und seine gesamte Kraft zu Diensten sei: sie hält es für die Verschwendung eines solchen, der zum Verschwenden nicht reich genug ist, wenn der Mensch sich ernstlich um Pflanzen und Sterne kümmert. Deshalb ging in Griechenland, als Sokrates die Krankheit des Moralisierens in die Wissenschaft eingeschleppt hatte, es geschwinde mit der Wissenschaftlichkeit abwärts; eine Höhe, wie die in der Gesinnung eines Demokrit, Hippokrates und Thukydides, ist nicht zum zweiten Male erreicht worden.

[443]


Mein »Mitleid«. – Dies ist ein Gefühl, für das mir kein Name genügt: ich empfinde es, wo ich eine Verschwendung kostbarer Fähigkeiten sehe, z. B. beim Anblicke Luthers: welche Kraft und was für abgeschmackte Hinterwäldler-Probleme! (zu einer Zeit, wo in Frankreich schon die tapfere und frohmütige Skepsis eines Montaigne möglich war!) Oder wo ich, durch die Einwirkung eines Blödsinns von Zufälligkeit, jemanden hinter dem zurückbleiben sehe, was aus ihm hätte werden können. Oder gar bei einem Gedanken an das Los der Menschheit, wie wenn ich, mit Angst und Verachtung, der europäischen Politik von heute einmal zuschaue, welche unter allen Umständen auch an dem Gewebe aller Menschen-Zukunft arbeitet. Ja, was könnte aus »dem Menschen« werden, wenn – –! Dies ist meine Art »Mitleid«; ob es schon keinen Leidenden gibt, mit dem ich da litte.

[367]


Deutschland, welches reich ist an geschickten und wohlunterrichteten Gelehrten, ermangelt in einem solchen Maße seit langer Zeit der großen Seelen, der mächtigen Geister, daß es verlernt zu haben scheint, was eine große Seele, was ein mächtiger Geist ist: und heutzutage stellen sich, beinahe mit gutem Gewissen und aller Verlegenheit bar, mittelmäßige und dazu noch übelgeratene Menschen an den Markt und preisen sich selber als große Männer, Reformatoren an; wie z. B. Eugen Dühring tut, wahrhaftig ein geschickter und wohlunterrichteter Gelehrter,[460] der aber doch fast mit jedem Worte verrät, daß er eine kleinliche Seele herbergt und durch enge neidische Gefühle zerquetscht wird; auch daß nicht ein mächtiger, überschäumender, wohltätig-verschwenderischer Geist ihn treibt – sondern der Ehrgeiz! In diesem Zeitalter aber nach Ehren zu geizen, ist eines Philosophen noch viel unwürdiger als in irgendeinem früheren Zeitalter: jetzt, wo der Pöbel herrscht, wo der Pöbel die Ehren vergibt!

[792]


Die Urwald-Vegetation »Mensch« erscheint immer, wo der Kampf um die Macht am längsten geführt worden ist. Die großen Menschen.

[959a]


Egoismus und sein Problem! Die christliche Verdüsterung in Larochefoucauld, welcher ihn überall herauszog und damit den Wert der Dinge und Tugenden vermindert glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts anderes geben könne als Egoismus, – daß den Menschen, bei denen das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach wird, – daß die Liebendsten vor allem es aus Stärke ihres ego sind, – daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist usw. Die falsche Wertschätzung zielt in Wahrheit auf das Interesse 1. derer, denen genützt, geholfen wird, der Herde; 2. enthält sie einen pessimistischen Argwohn gegen den Grund des Lebens; 3. möchte sie die prachtvollsten und wohlgeratensten Menschen verneinen; Furcht; 4. will sie den Unterliegenden zum Rechte verhelfen gegen die Sieger; 5. bringt sie eine universale Unehrlichkeit mit sich, und gerade bei den wertvollsten Menschen.

[362]


Es ist mir ein Trost, zu wissen, daß über dem Dampf und Schmutz der menschlichen Niederungen es eine höhere, hellere Menschheit gibt, die der Zahl nach eine sehr kleine sein wird (– denn alles, was hervorragt, ist seinem Wesen nach selten): man gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter oder heroischer oder liebevoller wäre als die Menschen da unten, sondern – weil man kälter, heller, weitsichtiger, einsamer ist, weil man die Einsamkeit erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorrecht, ja Bedingung des Daseins, weil man unter Wolken und Blitzen wie unter seinesgleichen lebt, aber ebenso unter Sonnenstrahlen, Tautropfen, Schneeflocken und allem, was notwendig aus[461] der Höhe kommt und, wenn es sich bewegt, sich ewig nur in der Richtung von oben nach unten bewegt. Die Aspirationen nach der Höhe sind nicht die unsrigen. – Die Helden, Märtyrer, Genies und Begeisterten sind uns nicht still, geduldig, fein, kalt, langsam genug.

[993]


Es gab bisher noch keine deutsche Kultur. Gegen diesen Satz ist es kein Einwand, daß es in Deutschland große Einsiedler gab (– Goethe z. B.): denn diese hatten ihre eigene Kultur. Gerade aber um sie herum, gleichsam wie um mächtige, trotzige, vereinsamt hingestellte Felsen, lag immer das übrige deutsche Wesen, als ihr Gegensatz, nämlich wie ein weicher, mooriger, unsicherer Grund, auf dem jeder Schritt und Tritt des Auslandes »Eindruck« machte und »Formen« schuf: die deutsche Bildung war ein Ding ohne Charakter, eine beinahe unbegrenzte Nachgiebigkeit.

[791]


»Denken« im primitiven Zustande (vor-organisch) ist Gestalten-Durchsetzen wie beim Kristalle. – In unserm Denken ist das Wesentliche das Einordnen des neuen Materials in die alten Schemata (= Prokrustesbett), das Gleich-machen des Neuen.

[499]


Es ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier lebt: du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nötig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke von Unwissenheit muß um dich stehn.

[609]


Zu den höchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden, in denen das Dasein seine eigene Verklärung feiert, kommen, wie billig, nur die Allerseltensten und Bestgeratenen: und auch diese nur, nachdem sie selber und ihre Vorfahren ein langes vorbereitendes Leben auf dieses Ziel hin, und nicht einmal im Wissen um dieses Ziel, gelebt haben. Dann wohnt ein überströmender Reichtum vielfältigster Kräfte und zugleich die behendeste Macht eines »freien Wollens« und herrschaftlichen Verfügens in einem Menschen liebreich beieinander; der Geist[462] ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu Hause, wie die Sinne in dem Geiste zu Hause und heimisch sind; und alles, was nur in diesem sich abspielt, muß auch in jenen ein feines außerordentliches Glück und Spiel auslösen. Und ebenfalls umgekehrt! – Man denke über diese Umkehrung bei Gelegenheit von Hafis nach; selbst Goethe, wie sehr auch schon im abgeschwächten Bilde, gibt von diesem Vorgange eine Ahnung. Es ist wahrscheinlich, daß bei solchen vollkommenen und wohlgeratenen Menschen zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen von einem Gleichnis-Rausche der höchsten Geistigkeit verklärt werden; sie empfinden an sich eine Art Vergöttlichung des Leibes und sind am entferntesten von der Asketen-Philosophie des Satzes »Gott ist ein Geist«: wobei sich klar herausstellt, daß der Asket der »mißratene Mensch« ist, welcher nur ein Etwas an sich, und gerade das richtende und verurteilende Etwas, gut heißt – und »Gott« heißt. Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur fühlt, bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Tiere: diese ganze lange ungeheure Licht- und Farbenleiter des Glücks nannte der Grieche, nicht ohne die dankbaren Schauder dessen, der in ein Geheimnis eingeweiht ist, nicht ohne viele Vorsicht und fromme Schweigsamkeit – mit dem Götternamen: Dionysos. – Was wissen denn alle neueren Menschen, die Kinder einer brüchigen, vielfachen, kranken, seltsamen Zeit, von dem Umfange des griechischen Glücks, was könnten sie davon wissen! Woher nähmen gar die Sklaven der »modernen Ideen« ein Recht zu dionysischen Feiern!

Als der griechische Leib und die griechische Seele »blühte«, und nicht etwa in Zuständen krankhafter Überschwänglichkeit und Tollheit, entstand jenes geheimnisreiche Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung. Hier ist ein Maßstab gegeben, an dem alles, was seitdem wuchs, als zu kurz, zu arm, zu eng befunden wird – man spreche nur das Wort »Dionysos« vor den besten neueren Namen und Dingen aus, vor Goethe etwa oder vor Beethoven oder vor Shakespeare oder vor Raffael: und auf einmal fühlen wir unsere besten Dinge und Augenblicke gerichtet. Dionysos ist ein Richter! – Hat man mich verstanden? – Es ist kein Zweifel, daß die Griechen die letzten Geheimnisse »vom Schicksal der Seele«[463] und alles, was sie über die Erziehung und Läuterung, vor allem über die unverrückbare Rangordnung und Wert-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen Erfahrungen zu deuten suchten: hier ist für alles Griechische die große Tiefe, das große Schweigen – man kennt die Griechen nicht, solange hier der verborgene unterirdische Zugang noch verschüttet liegt. Zudringliche Gelehrten-Augen werden niemals etwas in diesen Dingen sehen, soviel Gelehrsamkeit auch im Dienste jener Ausgrabung noch verwendet werden muß –; selbst der edle Eifer solcher Freunde des Altertums, wie Goethes und Winckelmanns, hat gerade hier etwas Unerlaubtes, fast Unbescheidenes. Warten und sich-vorbereiten; das Aufspringen neuer Quellen abwarten; in der Einsamkeit sich auf fremde Gesichte und Stimmen vorbereiten; vom Jahrmarkts-Staube und -Lärm dieser Zeit seine Seele immer reiner waschen; alles Christliche durch ein Überchristliches überwinden und nicht nur von sich abtun – denn die christliche Lehre war die Gegenlehre gegen die dionysische –; den Süden in sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimnisvollen Himmel des Südens über sich aufspannen; die südliche Gesundheit und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern; Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer – denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdeckung unsrer »neuen Welt« –: wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages begegnen kann? Vielleicht eben – ein neuer Tag!

[1051]


Die deutsche Philosophie als Ganzes – Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen – ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen – ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überallhin, in alle Heimaten und »Vaterländer«, die es für Griechen-Seelen gegeben hat! Freilich: man muß sehr leicht, sehr dünn sein, um über diese Brücken zu[464] schreiten! Aber welches Glück liegt schon in diesem Willen zur Geistigkeit, fast zur Geisterhaftigkeit! Wie ferne ist man damit von »Druck und Stoß«, von der mechanischen Tölpelei der Naturwissenschaften, von dem Jahrmarkts-Lärme der »modernen Ideen«! Man will zurück, durch die Kirchenväter zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen; man genießt noch den Ausgang des Altertums, das Christentum, wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und antiker Werturteile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen – immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens, immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen Geschmack im Norden Europas Herr geworden ist und welcher an dem großen »ungeistigen Menschen«, an Luther, seinen Anführer hatte: – in diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille fortzufahren in der Entdeckung des Altertums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie, vor allem der Vorsokratiker – der bestverschüt teten aller griechischen Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später urteilen wird, daß alles deutsche Philosophieren darin seine eigentliche Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu sein, und daß jeder Anspruch auf »Originalität« kleinlich und lächerlich klinge im Verhältnis zu jenem höheren Anspruche der Deutschen, das Band, das zerrissen schien, neu gebunden zu haben, das Band mit den Griechen, dem bisher höchst gearteten Typus »Mensch«. Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras erfunden hat, – wir werden von Tag zu Tag griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Wertschätzungen, gleichsam als gräzisierende Gespenster: aber dereinst hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!

[419]
[465]

Es gibt nur Geburtsadel, nur Geblütsadel. (Ich rede hier nicht vom Wörtchen »von« und dem Gothaischen Kalender: Einschaltung für Esel.) Wo von »Aristokraten des Geistes« geredet wird, da fehlt es zumeist nicht an Gründen, etwas zu verheimlichen; es ist bekanntermaßen ein Leibwort unter ehrgeizigen Juden. Geist allein nämlich adelt nicht; vielmehr bedarf es erst etwas, das den Geist adelt. – Wessen bedarf es denn dazu? Des Geblüts.

[942] [466]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 452-467.
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