[Aus dem Jahre 1867]

[125] Meine Herren, es geziemt sich heute, wo wir den ersten Schritt in das vierte Semester unseres Vereines tun, unsre Blicke vorwärts und rückwärts zu werfen, rückwärts, um aus der Vergangenheit zu lernen, vorwärts, um uns der Ziele bewußt zu werden, die wir in dem neuen Zeitraume anstreben wollen. Unser Verein hat sich bisher als lebensfähig bewiesen: das ist schon viel, aber nicht genug. Er hat auch die Kinderschuhe schon ausgezogen, seine ersten tappenden Versuche sind geglückt, so daß er jetzt schon sicherer einherschreiten kann. Eine Anzahl strebsamer Philologen, die seit den Anfängen des Vereins immer zugenommen hat, kommt wöchentlich zusammen, um sich untereinander anzuregen und auszubilden, in dem Bewußtsein, daß die Kontrolle, die jugendliche Geister gegeneinander üben, ein höchst wirksames Mittel der Bildung ist. Die Wirksamkeit des Vereins in sich selbst ist nicht zu bestreiten: wir erleben vor unsern Augen lebhafte Debatten und werden in sie hineingezogen, wir hören Vorträge über die mannigfaltigsten Gebiete und Fragen der Philologie, ja wir dürfen nicht verkennen, daß der Verein im ganzen eine vortreffliche Universalität der Interessen vertritt und nach keiner Seite hin eine ausschließliche Neigung verrät: so nützlich Steckenpferde für das Individuum sind, so wenig für einen Verein. Soweit können wir den Verein loben: in zwei Punkten aber ist nötig, sich die Mängel klarzumachen, an denen er bis jetzt noch leidet. Wir haben mitunter noch Vorträge anzuhören, für die im Kreise des Vereins die Voraussetzungen fehlen und die deshalb ohne die wünschenswerte Debatte zu erzeugen ad acta gelegt werden. Gewiß dürfen wir den Vortragenden selbst einen Vorwurf nicht ersparen: sie haben öfters das Thema unglücklich gewählt, entweder zu weite Gebiete zu umfassen gesucht, ohne es im engen Zeitraum einer Stunde zustande zu bringen oder sie haben zu viel Kenntnisse als vorhanden vorausgesetzt und mit diesen gerechnet.[125] Im ganzen aber glaube ich, daß die Vortragenden selbst weniger gefehlt haben als die Zuhörer. Es geziemt mir nicht eine Kritik über die Vorbereitungen anderer Mitglieder, aber von mir selbst darf ich sagen, daß ich mich nicht immer mit dem Stoffe des Vortrags im voraus vertraut gemacht hatte. Es ist aber unmöglich, einen Vortrag, die Sicherheit der Voraussetzungen, den verschlungenen Gang der logischen Deduktion, etwaige absichtliche und unabsichtliche Auslassungen und Mängel richtig zu durchschauen, wenn wir dem Stoffe des Vortrags gegenüber eine tabula rasa sind. Während ich also als Wunsch auszusprechen wage, daß jeder von uns durch eine genügende Vorbereitung für den einzelnen Abend sich dem Verein so nutzbar wie möglich mache, stelle ich den dritten Antrag, daß jeder der beabsichtigt einen Vortrag zu halten, zwei, drei, vier Wochen vorher sein Thema beim Namen nennt und auch die einschlägige Literatur andeutet.

Die Wirksamkeit des Vereins nach innen kann sich also noch vermehren, wie sie sich bis jetzt immer vermehrt hat. Schlimm steht es mit der Wirksamkeit nach außen, mit dem Einfluß des Vereins auf die philologische Studentenschaft. Noch vor wenigen Semestern galt es als ausgemacht, daß im ganzen die Leipziger Philologenschaft von sehr militärischen Interessen bewegt werde, daß die magere Pfründe eines Schullehrers für die meisten das zu erstrebende Ziel ihrer Studien sei. Ich denke, daß dem nicht mehr so lange sein wird. Wir wollen einmal die Intentionen unsers Vereins als die antipodischen auffassen. Denn zufällig haben wir alle, die wir hier zusammengekommen sind, einen ziemlich ausgeprägten wissenschaftlichen Trieb. Es sei fern von mir, in diesem Triebe einen ethischen Vorzug vor jenen Utilitariern zu sehn: denn Trieb ist Bedürfnis und Bedürfnis ist Zwang. Zu tun aber wie man gezwungen ist, ist jedenfalls kein ethischer Vorzug, ebensowenig wie zu speisen, wenn man hungrig ist. Aber es gibt oder gab hier in Leipzig viele, die nicht hungrig sind nach der Wissenschaft. Das sind die Utilitarier. Was würde es nützen, ihnen Speise zu geben? Mit diesen also haben wir grundsätzlich nichts zu tun, wohl aber mit jener großen Schar von noch unentschiedenen Naturen, die sich gern anlehnen wollen, weil sie sich selbst noch nicht Stütze sind, die gern sich einer Strömung hingeben und die daher leicht durch den[126] auf einer Universität herrschenden Geist bestimmt werden. Hier beginnt unsre Aufgabe: die bezeichneten Naturen sind die notwendigen Bestandteile unsers Vereins, weil in ihnen sich immer der Nachwuchs der Mitglieder erzeugen muß. Diesen müssen wir es bequem machen, unsern Sitzungen beizuwohnen, diese müssen wir in das philologische Fahrwasser hineinzuleiten suchen. Kurz, wir wollen in unserm Verein noch mehr Zuhörer haben und diese gerade aus den jüngsten und jüngeren Semestern des Triennium.

Ich habe die Punkte bezeichnet, auf denen die Erweiterung der innern und äußern Wirksamkeit des Vereins beruht. Damit wissen wir unsre nächsten Ziele, damit erkläre ich das vierte Semester unsers Vereins für eröffnet.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 125-127.
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