2.
An Elisabeth Nietzsche

[931] [Pforta, Ende November 1861]

von Deinem Bruder


Liebe Liese. Da ich Dir lange schon einen Brief schuldig war, will ich Dir jetzt einen recht feinen schreiben, wenn nicht meine klobige Feder mich daran hindern sollte. Ich werde Dich wahrscheinlich von weiter nichts als von – Weihnachten unterhalten können. Es ist ja auch jetzt unser Lieblingsgedanke und ist es alle Jahre um diese Zeit gewesen. Stelle Dir nun recht gemütlich einen meiner ersten Ferienabende vor, wie wir in warmer Stube, mit oder ohne Lampe dasitzen und uns gegenseitig unsre Wünsche vorzählen. Währenddem bereiten drüben Mama und Tante Rosalie geheimnisvolle Werke und


– wir lauschen,

wenn sie heimlich Worte tauschen;[931]

und ein ungewöhnlich Rauschen,

bald ein Flüstern, bald ein Knistern

macht uns nach den Wundern lüstern,

und das geisterhafte Weben,

Hin- und wieder 'nüber Schweben

macht uns beben usw.


Ich hoffe, Du wirst mit Deinen Wünschen noch nicht so entschlossen sein, daß ich Dir nicht wenigstens einige Vorschläge zur Güte machen könnte. Ich habe eine ziemliche Anzahl wünschenswerter Bücher und Musikalien aufgeschrieben und will Dir so einiges mitteilen. Von letztern z. B. scheint mir sehr passend für Dich ein Werk Schumanns, desselben, der die zerbrochne Fensterscheibe komponiert hat.

Und zwar sind es seine schönsten Lieder überhaupt; es ist »Frauenliebe und Leben«, Gedichte von Chamisso, und muß so ungefähr 20 Sgr. kosten. Der Text ist gleichfalls wunderschön. Von Büchern kann ich Dir zuerst zwei theologische Werke anempfehlen, die Dich und mich sehr interessieren werden. Ich habe sie selbst aus dem Munde Wenkels loben gehört, für Dich sicherlich bedeutungsvoll. Beide sind von Hase, dem berühmten in Jena lebenden Professor, den ich selbst beinahe einmal gehört hätte, der nämlich der geistvollste Verfechter des idealen Rationalismus. »Das Leben Jesu« (1,6) ist das eine und Kirchengeschichte (2 T. 6) das andre. Beide oder vielmehr jedes einzeln ungefähr 1 [T.], 15 Sgr. – Schreib an mich, wenn Du die spezielle Adresse haben willst. Oder willst Du Dir vielleicht ein englisches Buch wünschen? Ich an Deiner Stelle würde ganz entschieden Byron englisch lesen, der 1 T. 25 Srg. kostet. Ich könnte Dir noch verschiedne Bücher aufschreiben, nun will ich meine Wünsche sagen. In Hinsicht auf Musik also wünsche ich mir Paradies und die Peri von Schumann für Klavier solo arrangiert. Das ist etwas Entzückendes für jedermann, also auch für Dich. Dann Shelleys poetische Werke übersetzt von Seybt. Das erste kostet etwa 2 Taler, wenn es durch Gustav besorgt wird. Das letztere 1 T. 10 Srg. Ich würde mich ganz ungemein freuen, wenn ich beides bekäme, denn es sind meine einzigen Wünsche. Da fällt mir übrigens etwas ein, das ich Dir doch erzählen muß. Ich war nämlich Sonntag Mittag zu Herrn Dr. Heinze zu Tisch eingeladen, wo sehr fein gegessen wurde und noch hübscher[932] gesprochen. Dann ist Dr. Volkmann der neue Lehrer bereit, englische Privatstunden zu geben. Es haben sich eine Menge gemeldet, ich denke aber doch erst Ostern beizutreten. Augenblicklich studiere ich ja Italienisch noch privatim. Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, wo das erste Buch Mose gelesen, Deutsch, wo das Nibelungenlied in der Ursprache gelesen wird, Französisch, wo in der Klasse Karl XII. gelesen, in einem Kränzchen mit dreien außer mir Athalie, Italienisch wo im Kränzchen Dante gelesen wird. Wenn das nicht vorläufig genug ist, da weiß ich nicht, besonders da im Lateinischen zugleich Vergil, Livius, Cicero, Sallust gelesen, im Griechischen Ilias, Lysias, Herodot gelesen wird. Nun leb wohl und freu Dich über diesen bedenklich langen Brief

Sonntag auf Wiedersehn in Almrich

Dein Fritz

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 931-933.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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