9.
An Gustav Krug und Wilhelm Pinder

[940] [Pforta,] 12. Juni [1864]

am Sonntagsmorgen geschrieben


Meine lieben Freunde, es ist wahrhaftig nicht der erste Brief, den ich nach unserer Trennung voneinander beginne, aber ich hoffe es wird der erste sein, den ich vollende und wirklich absende. Öfter habe ich mich aus den Mühseligkeiten der Gegenwart herausgehoben, indem ich ein Blatt Papier nahm, an Euch die Aufschrift richtete und frohe und trübe Gedanken gleichsam vor Euch aussprach.

Ihr habt mir so angenehme und der alten Liebe so volle Briefe gegeschrieben, das muß ich hoch, sehr hoch schätzen. Denn die leichten[940] Schaumwellen eines freien Lebens löschen leicht die alten Bilder von der Tafel der Seele ab. Verzeiht mir, wenn ich einen solchen Gedanken ausgesprochen habe. Aber gedacht habe ich ihn.

Unsre Aussichten auf eine neue Vereinigung an derselben Stätte scheinen sich nicht zu erfüllen. Wenigstens vorderhand ist kaum daran zu denken. Zwingt mich nicht weiter, mit Zahlen und Berechnungen Gründe anzugeben. Das kann ich nicht. Aber wir treffen uns jedenfalls noch einmal, ob ich nun in Bonn oder anderswo studiere; ich suche Euch sicher einmal in Eurer selbstgeschaffnen Häuslichkeit auf. Wenn Euch etwas daran liegt, von meinen gegenwärtigen Studien etwas zu erfahren, so hört dies: Ich schreibe eine große Arbeit über Theognis, nach einer freien Wahl. Ich habe mich wieder in eine Menge von Vermutungen und Phantasien eingelassen, denke aber die Arbeit mit recht philologischer Gründlichkeit und so wissenschaftlich als mir möglich zu vollenden. Ich habe mir schon einen neuen Standpunkt bei der Betrachtung dieses Mannes errungen und urteile in den meisten Punkten verschieden von den gewöhnlichen Ansichten. Die besten Sachen, die darüber geschrieben sind, habe ich gründlich durchstudiert.

Nun eine Bitte, und eine recht lästige. Es ist vor kurzem in dem Düppelkampfe auch ein junger Philolog Rintelen aus Münster gefallen. Dieser Mann promovierte mit einer dissertatio de Theognide Megarensi. Und um diese Dissertation möchte ich Euch ersuchen. Vielleicht wendet Ihr Euch persönlich an einen Professor oder an den Bibliothekar. Sie wird jedenfalls vorhanden sein. Ihr tut mir einen ungemeinen Gefallen; es ist das Neuste, was über Theognis geschrieben ist. Sobald Ihr es auftreiben könnt, übersendet es mir. Ich kann meine Arbeit nicht eher anfangen, als bis ich diese Schrift gelesen habe.

Das ist naiv von mir, aber ich kann nicht anders. Wer täte mir wohl den Gefallen eher, als Ihr, meine lieben Freunde? Aber nun erscheint es fast, als ob ich den Brief nur dieses Wunsches halber geschrieben hätte?

Meine Abhandlung über die Naturanschauung im griechischen und deutschen Volksepos muß natürlich jetzt völlig ruhen. Und bei so manchem andern tut es mir leid, daß ich auf die Universität gehe, ohne es vollendet zu haben.

Meine Hundstagsferien werden mit fortwährenden Studien aller[941] Art ausgefüllt werden. Ich habe Mutter und Schwester gebeten Naumburg für diese Zeit zu verlassen, damit ich einsam bin.

Musik tacet. Wenn ich etwas Zeit habe, so spiele ich meistens in Gegenwart mehrerer musikliebender Menschen und muß improvisieren mit deren wohlfeiler Bewunderung. Trotzdem fühle ich mich ganz entsetzlich brach.

Gestern war hier ein Konzert oder vielmehr eine Vorlesung, denn das Konzert war die Nebensache. Der junge Koberstein las zuerst die Kraniche des Ibycus unter eines Gewitters Begleitung, sodann die berühmte Antonioszene aus Julius Cäsar, recht gut beides und so, daß man viel daraus lernen konnte.

Zur Shakespearefeier habe ich früh ein Gedicht vorgetragen, und Koberstein hat eine gute Rede gehalten. Nachmittags lasen wir vor einem großen Publikum Heinrich den IV. Ich habe den Heinrich Percy mit viel Aufregung und Wut gelesen.

Ich bitte Dich, lieber Gustav, auf das inständigste, etwas der kleinen Kompositionen, von denen Du in Deinem Briefe sprachst, zuzusenden und möglichst bald. Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser etc. so sehnet sich meine Seele nach so etwas.

So, nun wende ich die vierte Seite um, und wieder wird bald meine abgerissne Unterhaltung auf meine Namensschrift und gute Wünsche hinauslaufen. Und wenn Euch diese Zeilen alle mit ihrer melancholischen Färbung vor die Augen treten, so werdet Ihr wohl nicht in der Stimmung sein und auch nicht sein wollen, diese Färbung auf Eure Seele zu übertragen. Ich möchte es auch um alles in der Welt nicht. Je froher Ihr Euch fühlt, je mehr Ihr das Leben genießt, um so höher ist auch meine Freude, und ich bin ein Narr, wenn ich Euch durch melancholische Briefe die Laune verderbe. –

So lebt recht wohl, meine lieben Freunde, erfüllt mir meine Bitte und vergeßt mich nicht.

Euer Fritz

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 940-942.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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