21.
An Paul Deussen (Fragment)

[971] [Naumburg, September 1866]


Lieber Freund, wenn ich nur irgend etwas über Dein Geschick wüßte. Und wahrlich, es ist nicht meine Schuld. Ich muß annehmen, daß mein letzter Brief von Ende August nicht an Dich gelangt ist: denn offen gestanden, ich würde es ebensowenig verzeihen als begreiffen können, wenn Du gerade diesen Brief unbeantwortet gelassen hättest. Also nehme ich den milderen Fall an, der mir allerdings sehr ungelegen gekommen ist: viele Briefe von mir könnten verloren gegangen sein an Stelle dieses einen, in dem ich Dich auf das angelegentlichste bat. Dein theologisches Bärenfell abzustreifen und Dich als jungen philologischen Löwen zu gebärden.

Ad vocem Bärenfell. Ich bitte mir dies nicht übel zu deuten. Gewiß wirst Du tüchtig gearbeitet haben, aber ich bin nicht mehr imstande, diese Arbeit zu schätzen, wenn ich an eine Bedingung dabei nicht glaube: nämlich, daß diese Art Arbeit Dein Beruf sei. Ich glaube daran nicht, weil Du nach Deinem eignen Zeugnisse nicht daran glaubst. Und selbst wenn Du jetzt anders darüber denken solltest, wie Du zur Zeit Deines letzten Briefes dachtest: ich fürwahr für meinen Teil werde mich nie überzeugen lassen, daß Du in Deinem Berufe arbeitest, so lange Du Dich für ein theologisches Examen vorbereitest.

Lieber Paul, es ist wirklich keine Kleinigkeit, in den Zwanzigerjahren längere Zeit über seinen Beruf im unklaren zu sein. Wir Menschen haben nur wenige wirklich produktive Jahre: diese sind unvermeidlich mit dem bezeichneten Lebensalter entflohen. Die originalen Ansichten, die unser ganzes späteres Leben ausführen, mit Beispielen und Erfahrungen belegen und bekräftigen soll, werden in diesen Jahren geboren: da aber unser Beruf uns unser Leben hindurch begleitet, so ist es nötig, daß in ihm jene Ansichten und Einsichten gefunden werden. Unser philologisches Studium hat aber die Eigenart, daß, um in ihm[971] etwas Neues zu erkennen, um eine bahnbrechende Methode zu finden, auch zugleich ein Grad von Gelehrsamkeit und Routine d. h. Erfahrung und Übung nötig ist. Also viel gelernt und viel verdaut, aber noch viel mehr gesucht, kombiniert, erschlossen.

Dazu gehört Zeit, viel Zeit. Ich beherzige immer die Klage Ritschls, der sich seine Studentenzeit wieder ersehnte, weil es die einzige Zeit des Lebens wäre, wo man viel und zusammenhängend arbeiten könnte. Nun, lieber Freund, Du weißt, wohin alles dies zielt. Es ist mir nicht bekannt, wie viel davon in Deiner Macht steht. Jedenfalls fürchte ich, daß Du nicht wie jeder andre Körper durch Deine eigne Schwere gefallen (und ich kann Dein theologisches Studium nur als Deinen Fall bezeichnen) bist, sondern gezogen von anderen. Wer diese sind, ist allerdings nicht gleichgültig, aber in Anbetracht der für das Leben entscheidenden Wichtigkeit dieses Schrittes dürfen diese »anderen« nicht in Betracht kommen.

Du siehst, daß ich immer noch die Hoffnung auf Deinen philologischen »Flug« nicht aufgegeben habe. Diese Hoffnung muß also sehr stark sein. Ich ärgere mich, wenn ich an Deine »Theologie« denke, und deshalb verzeihe, wenn ich mich auch in diesem Briefe von ihr wegwende.

Je mehr ich und je heller ich, in den Vorhöfen der Philologie stehend, in ihre Heiligtümer einblicke, um so mehr suche ich für sie Jünger zu gewinnen. Das ist ein Studium, bei dem es manchen Tropfen Schweißes kostet, das aber auch wirklich jede Mühe lohnt. Die kräftige und kräftigende Empfindung einer Lebensaufgabe stellt sich dem wirklichen Philologen bald genug ein. Es soll uns ja nicht, lieber Paul, auf eine Lebensversicherungsanstalt und zeitige Pfründe ankommen. Aber wohl ersehnen wir beide Veitreibung jenes melancholischen Zustandes, wo der junge Geist noch keine Bahn gefunden hat, auf der er gesund einhergehen kann, wohl ersehnen wir beide ...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 971-972.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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