29.
An Erwin Rohde

[1001] [Leipzig, 10. Januar 1869]


Mein lieber Freund, bevor ich heute auf alle unsre gemeinsamen Herzensdinge kommen kann, will Bileams Eselein einige Worte verlauten lassen. Selbiges Getier wundert sich nämlich sehr über jenen nach Hamburg geschickten Druckbogen, jetzt aber ist es durch den Obersten der Drugulinschen Druckerei aufgeklärt und denkt fürderhin wie ein aufgeklärter Setzer. Die erste Korrektur nämlich habe ich besorgt: da es aber Träumerei ist, durch einen einzigen Angriff dem Setzer seine Liebhabereien für verrückte Worte und barbarisches Griechisch zu verleiden, so wurde Dir – dem als Autor natürlich eine ganz andre Autorität zur Seite steht (um mit R. Wagner zu reden) – die zweite Korrektur übertragen und mir nun hinwiederum die dritte: welche auch bereits besorgt ist. Hoffen wir denn also, daß das neugebackne Geschöpfchen bald munter und guter Dinge umherspringe, Glaukidion in Backfischrollen vergleichbar. Der Himmel schenke Dir und mir immer so gute Hebammen wie den Dr. Engelmann: dem Du vielleicht schon ein paar Zeilen geschrieben hast, zumal er den[1001] Wunsch hat, Dich kennenzulernen. – Und damit verstummt das Eselein, und die Menschen dürfen wieder reden.

Ach lieber Freund, was für einen schönen Weihnachtsgruß hast Du mir nach Naumburg geschickt. Am ersten Festmorgen war es, und Festglocken läuteten. Die ganze Welt ist an diesem Morgen beschenkt und deshalb ein wenig besser als im ganzen andern Jahr. Ich selbst zog mit geblähter Nase die warme Temperatur der Heimat ein: siehe, da kam der Briefträger und machte meine Freude voll. Wer sich als Einsiedler zu fühlen gewöhnt hat, wer mit kalten Blicken durch alle die gesellschaftlichen und kameradschaftlichen Verbindungen hindurchsieht und die winzigen und zwirnfädigen Bändchen merkt, die Mensch an Menschen knüpfen, Bändchen so fest, daß ein Windhäuchchen sie zerbläst: wer dazu die Einsicht hat, daß nicht die Flamme des Genies ihn zum Einsiedler macht, jene Flamme, aus deren Lichtkreis alles flieht, weil es von ihr beleuchtet so totentanzmäßig, so narrenhaft, spindeldürr und eitel erscheint: nein, wer einsam ist vermöge einer Naturmarotte, vermöge einer seltsam gebrauten Mischung von Wünschen, Talenten und Willensstrebungen, der weiß, welch »ein unbegreiflich hohes Wunder« ein Freund ist; und wenn er ein Götzendiener ist, so muß er vor allem »dem unbekannten Gotte, der den Freund schuf« einen Altar errichten. Ich habe hier Gelegenheit mir die Ingredienzen eines glücklichen Familienlebens in der Nähe anzusehn: hier ist kein Vergleich mit der Höhe, mit der Singularität der Freundschaft. Das Gefühl im Hausrock, das Alltäglichste und Trivialste überschimmert von diesem behaglich sich dehnenden Gefühl – das ist Familienglück, das viel zu häufig ist, um viel wert sein zu können. Aber Freundschaften! Es gibt Menschen, die an ihrer Existenz zweifeln. Ja, es ist eine ausgesuchte Gourmandise, die nur wenigen zuteil wird, jenen ermatteten Wanderern, denen der Lebensweg ein Weg durch die Wüste ist: sie tröstet ein freundlicher Dämon, wenn sie im Sande liegen, ihnen netzt er die verdorrten Lippen mit dem Götternektar der Freundschaft. Diese wenigen aber singen in den Klüften und Höhlen, wo sie ungestört vom Weltlärm ihren Göttern opfern, schöne Hymnen auf die Freundschaft, und der alte Oberpriester Schopenhauer schwenkt dazu den Weihkessel seiner Philosophie.

An der mit NB. bezeichneten Stelle kam eine Nachricht, die mich[1002] in die Stadt rief, sobald der Bogen vollgeschrieben war: jetzt zurückgekommen zittre ich an allen Gliedern und kann mich nicht einmal dadurch befreien, daß ich Dir mein Herz ausschütte. Absit diabolus! Adsit amicissumus Erwinus!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1001-1003.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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