30.
An Erwin Rohde

[1003] [Leipzig, 16. Januar 1869]


Mein lieber Freund, ich hatte neulich allen Grund, an den Gliedern zu zittern und den Brief jäh abzubrechen; denn es ist ein großer Streich auf mein Haupt gefallen, und die gemeinsamen Pariser Pläne flattern in alle Lüfte. Und mit ihnen flattern meine schönsten Hoffnungen. Ich hatte es noch einmal recht wohl haben wollen, bevor ich an die Berufskette gelegt würde, ich hatte sehnlich begehrt, den tiefen Ernst und den zauberhaften Reiz eines Wanderlebens auszukosten, noch einmal das unbeschreibliche Glück, Zuschauer und nicht Mitspieler zu sein, mit dem treusten und verständnisreichsten Freunde zu schlürfen. Ich dachte mir uns beide, wie wir mit ernstem Auge und lächelnder Lippe, mitten durch den Pariser Strom hindurchschreiten, ein paar philosophische Flaneurs, die man überall zusammen zu sehen sich gewöhnen würde, in den Museen und Bibliotheken, in den Closeries des Lilas und der Notre dame, überallhin den Ernst ihres Denkens und das zarte Verständnis ihrer Zusammengehörigkeit tragend. Und was soll ich eintauschen gegen eine solche Wanderschaft, gegen solche Freundesnähe! Ach, liebster Freund, ich glaube, so ist es dem Bräutigam zumute wie mir: nie erschien mir unsre holde Ungezwungenheit, unsre ideale Sommerbummelei so beneidenswert wie jetzt.

Bevor ich nun das Folgende ausspreche, bitte ich Dich darum, eine Sache, die noch nicht ausgetragen ist, als ein strenges freundschaftliches Geheimnis zu betrachten, an dem fremde Nasen noch gar nicht zu schnüffeln haben.

Lieber Freund, ich habe die wahrscheinliche, ja sichere Aussicht, allernächster Zeit an die Universität Basel berufen zu werden: ich habe mich darauf einzurichten, von Ostern an akademischer Lehrer zu sein.

Mein Titel wird zunächst der eines Profess. extraord. sein, mein Gehalt[1003] 3000 fr. betragen und meine Stellung es mit sich bringen, an der obersten Klasse des dortigen Pädagogiums wöchentlich 6 Stunden zu geben. Nachdem diese ganze Berufung erst in Szene gesetzt ist, würde es eine unverzeihliche Laune sein, wieder sich auf die Hinterfüße zu stellen.

Der Ursprung aber dieser märchenhaften Geschichte ist dieser. Der dortige Erziehungsrat, von Kiessling benachrichtigt, daß er nächstens Basel verlassen würde – mit was für vorteilhaften Aussichten, kann Dir gleich sein – jener Erziehungsrat also, der sehr vortreffliche Vischer fragt bei Ritschl, seinem alten Ratgeber in solchen Fällen, an und erkundigt sich bei dieser Gelegenheit nach einem Menschen meines Namens, von dem man den Eindruck habe, daß er aus guter Schule sei.

Das Folgende kannst Du Dir denken: wie Ritschl mich kommen läßt, wie ich in eine glückliche Bestürzung gerate, in der ich einen ganzen Nachmittag, spazierengehend, Tannhäusermelodien sang, wie Ritschl über mich Bericht erstattet und wie nun schließlich Vischer wieder schreibt usw. Wozu Dich noch behelligen mit dem, was noch mitten durchschwimmt, mit den eifrigen, ja gierigen Bewerbungen anderer usw.

Nun kann ja noch ein kleiner Dämon alles wieder über den Haufen werfen; und geschieht dies, so bin ich der letzte, der den Kopf hängen läßt. Ich habe von Anfang an mich daran gewöhnt, in dieser Geschichte eine großartige Zufälligkeit zu sehen. Sollte sie sich plötzlich in jenes lächerliche Mäuslein verwandeln, von dem der Dichter singt – immerhin! Wir sind nicht so leicht tot zu machen! (Pluralis maiestatis!) Viel schmerzlicher wird mir sein – oder würde mir sein –, wenn unsre Pariser Zukunftsträume spurlos in den Lüften zerflattern sollten.

Lieber Freund, ich halte meinen Finger an meinen Mund und gebe Dir einen recht kräftigen Händedruck. Wir sind doch recht die Narren des Schicksals: noch vorige Woche wollte ich Dir einmal schreiben und vorschlagen, gemeinsam Chemie zu studieren und die Philologie dorthin zu werfen, wohin sie gehört, zum Urväter-Hausrat. Jetzt lockt der Teufel »Schicksal« mit einer philologischen Professur.

Übrigens sind zunächst die Aussichten dieser Professur vortrefflich.[1004] Steigerungen des Ranges und des Gehaltes sind schon nach kurzen Terminen vorgesehen; und alles, was ich höre oder erhorche, spricht dafür, daß ich mit freidenkenden und nobeln Behörden – unerhört! auf preußische Taille! – zu tun habe.

In der nächsten Zeit muß ich nun schnell promovieren; wärest Du vielleicht so gefällig eine Korrektur der sehr kurzen Dissertation (Corollarium disput. defont. Laert.) zu übernehmen? Meine Zeit ist mir sehr teuer geworden. Gott weiß, was ich alles in den nächsten Monaten zu tun habe! Schopenhauer lächelt ob dieses Stoßseufzers: denn was bringen wir Schächer mit unsrer polypragmosynê zustande!

Und so lebe wohl und verzeih, wenn Du kannst, die Treulosigkeit Deines treusten Freundes. 's gibt halt keine Treue auf der Welt. Das Leben ist mir recht schwül, ich spüre so etwas wie das Herannahen des Sommers. –

Noch eine Notiz. Kürzlich hat mich Richard Wagner zu meiner größten Freude, brieflich grüßen lassen. Luzern ist mir nun nicht mehr unerreichbar. Am Ende dieses Monates reise ich nach Dresden, um die Meistersinger zu hören. Schließlich freue ich mich darauf mehr als auf alles, ausgenommen unsre Pariser Reise.

Es lebe die Kunst und die Freundschaft!

F. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1003-1005.
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