33.
An Friedrich Ritschl

[1009] Basel, 10. Mai 1869


Hochverehrter Herr Geheimrat, Sie werden gewiß gerne hören, daß es mir hier wohl geht, und daß demnach die guten Wünsche Ihres Briefes, der mich hier bald nach meinem Eintreffen überraschte, zeitig[1009] anfangen in Erfüllung zu gehn. Einstweilen wenigstens ist mir alles neu genug, um auch amüsant zu sein (NB. doch nicht alles: z. B. nicht die ungefähr 50 Visiten mit rückwirkender Kraft und die ewigen neuen Gesichter und Bekanntschaften). Daß ich genug zu tun habe, um mich nicht zu langweilen, ersehen Sie aus folgendem Überblick. Jeden Morgen der Woche halte ich um 7 Uhr meine Vorlesung, und zwar die drei ersten Tage über Geschichte der griechischen Lyrik, die drei letzten über die Choephoren des Aeschylus. Der Montag bringt das Seminar mit sich, das ich für meinen Teil ungefähr nach Ihrem Schema eingerichtet habe: Vischer macht Anstalten, bald einmal von der Direktion desselben zurückzutreten. Gerlach präpariert sich zu seinen Seminarübungen nicht. – Dienstag und Freitag habe ich am Pädagogium zwei mal zu unterrichten, Mittwoch und Donnerstag einmal: dies tue ich bis jetzt mit Vergnügen. Bei der Lektüre des Phaedo habe ich Gelegenheit, meine Schüler mit Philosophie zu infizieren; durch die hier unerhörte Operation der Extemporalia wecke ich sie sehr unsanft aus ihrem grammatikalischen Schlummer. In meinen Vorlesungen habe ich sieben Mann, womit man mich hier zufrieden zu sein heißt. Die Studenten sind durchweg fleißig, schlingen unsinnig viel Vorlesungen in sich hinein und kennen den Begriff des Schwänzens kaum vom Hörensagen. – Über die Basler und ihr aristokratisches Pfahlbürgertum ließe sich viel schreiben, noch mehr sprechen. – Vom Republikanismus kann einer hier geheilt werden. –

Um schließlich auf die Theognidea zu kommen: so ist es mir eigentlich verdrießlich, den alten Leutsch, der offenbar keine rechte Lust hat mit den Papierchen herauszurücken, brieflich anzugehen: aber es soll nächstens doch geschehen. Eine Einsicht in jene Papiere wird mich zur Entscheidung bringen, ob ich nicht doch die ganze Arbeit dem bewußten Dr. Fritzsche überlasse. Wenn ich nur irgendwie wüßte, was dieser eigentlich im Schilde führt. Ich fände es seinerseits sehr vernünftig und auch ganz schicklich, wenn er einmal an mich schriebe.

Mit dem Wunsche bei Ihnen, verehrter Lehrer, in gutem Andenken zu bleiben und der Notiz, daß ich nächstens mir als besonderes hêdysma eines schönen Nachmittages gönnen werde, Ihrer Frau Gemahlin zu schreiben bin ich Ihr ergebenster

Friedr. Nietzsche[1010]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1009-1011.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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