36.
An Carl von Gersdorff

[1013] Basel, 28. Sept. 1869


(Vom 7. bis 17. Oktober bin ich in Naumburg)

Mein lieber Freund, nun sollst Du hören, was Dein letzter Brief gewirkt hat: auch ich gehöre, seit dem Empfang desselben, nicht mehr zu den »Sarkophagen«. Es kam mir ins Gedächtnis, wie ich in Leipzig selbst einmal einen schüchternen Versuch machte, nach der Lektüre Shelleys, Dir die Paradoxie der Pflanzenkost samt ihren Konsequenzen vorzuführen: leider an unpassender Stelle, bei »Mahn«, während vor uns die bewußten Kotelletts mit Allerlei standen. Verzeih das gemeine Detail der Erinnerung, über die ich selbst ganz erstaunt bin: aber der Kontrast Deiner Natur und der Pflanzenkost-Weltanschauung[1013] erschien mir damals so kräftig, daß selbst jene Einzelheiten sich mir einprägten.

Nach diesem ersten Bekenntnis, nun gleich das zweite: ich bin nämlich bereits wieder überzeugt, daß das Ganze eine Marotte ist, noch dazu eine recht bedenkliche. Doch zweifle ich, ob ich jetzt gerade alle Gründe bei der Hand habe, die mir inzwischen dagegen eingefallen sind. Ich verlebte nämlich wieder, wie ich es jetzt häufig tue, ein paar Tage bei einem, der jahrelang dieselbe Abstinenz geübt hat und davon reden darf, nämlich bei Richard Wagner. Und er hat mir, nicht ohne wärmste Beteiligung seines Gemüts und mit kräftigster Ansprache, alle die inneren Verkehrtheiten jener Theorie und Praxis vorgeführt. Das wichtigste für mich ist, daß hier wieder ein Stück jenes Optimismus mit Händen zu greifen ist, der unter den wunderlichsten Formen, bald als Sozialismus, bald als Totenverbrennung – nicht Begrabung, bald als Pflanzenkostlehre und unter unzähligen Formen immer wieder auftaucht: als ob nämlich mit Beseitigung einer sündhaft-unnatürlichen Erscheinung das Glück und die Harmonie hergestellt sei. Während doch unsre erhabne Philosophie lehrt, daß wo wir hingreifen, wir überall in das volle Verderben, in den reinen Willen zum Leben fassen und hier alle Palliativkuren unsinnig sind. Gewiß ist die Achtung vor dem Tiere ein den edlen Menschen zierendes Bewußtsein: aber die so grausame und unsittliche Göttin Natur hat eben mit ungeheurem Instinkt uns Völkern dieser Zonen das Entsetzliche, die Fleischkost angezwungen, während in den warmen Gegenden, wo die Affen von Pflanzenkost leben, auch die Menschen, nach demselben ungeheuren Instinkte, mit ihr sich genügen lassen. Auch bei uns ist, bei besonders kräftigen und stark körperlich tätigen Menschen, eine reine Pflanzenkost möglich, indes nur mit gewaltigem Auflehnen gegen die Natur: die sich auch in ihrer Art rächt, wie es Wagner persönlich auf das allerstärkste empfunden hat. Einer seiner Freunde ist sogar das Opfer des Experiments geworden, und er selbst glaubt längst nicht mehr zu zu leben, wenn er in jener Ernährungsart fortgefahren wäre. Der Kanon, den die Erfahrung auf diesem Gebiete gibt, ist der: geistig produktive und gemütlich intensive Naturen müssen Fleisch haben. Die andre Lebensweise bleibe den Bäckern und Bauern, die nichts als Verdauungsmaschinen sind. – Der andre Gesichtspunkt ist ebenso[1014] wichtig: es ist unglaublich, was eine so abnorme Lebensweise, die nach allen Seiten hin Kampf verursacht, an Kraft und Energie des Geistes aufzehrt, die somit edleren und allgemein nützlicheren Bestrebungen entzogen werden. Wer den Mut hat, für etwas Unerhörtes durch seine Praxis einzustehn, der sorge dafür, daß dies auch etwas Würdiges und Großes sei, nicht aber eine Theorie, bei der es sich um die Ernährung der Materie handelt. Und mag man auch einzelnen ein Martyrium für solche Dinge zugestehn: ich möchte nicht zu ihnen zählen, solange auf geistigem Gebiete wir noch irgendeine Fahne hochzuhalten haben. Ich merke wohl, daß in Deiner Natur, liebster Freund, etwas Heroisches ist, das sich eine Welt voll Kampf und Mühe schaffen möchte: aber ich fürchte, daß ganz unbedeutende Flachköpfe diese Deine edle Neigung mißbrauchen wollen, indem sie ihr ein solches Prinzip unterzuschieben suchen. Wenigstens halte ich jene vielverbreiteten literarischen Produktionen für berüchtigte Lügenfabrikate, allerdings vom ehrlich-dummen Fanatismus diktiert. Kämpfen wir, und wenn es geht, nicht für Windmühlen. Denken wir an den Kampf und die Askese wahrhaft großer Männer, an Schopenhauer, Schiller, Wagner! Antworte mir, teurer Freund.

F. N.


Ich fange noch einen neuen Bogen an, weil es mich wirklich sehr bekümmert, mit Dir hierin nicht übereinstimmen zu können. Indes, um Dir meine wohlmeinende Energie zu zeigen, habe ich dieselbe Lebensweise bis jetzt eingehalten und werde dies solange tun, bis Du selbst mir die Erlaubnis gibst anders zu leben. – Warum muß man doch die Mäßigkeit gleich bis zum Extrem ausdehnen? Offenbar deshalb, weil es leichter ist, einen ganz äußersten Standpunkt festzuhalten als auf jener goldnen Mitte ohne Fehl zu gehen.

Das gebe ich ja zu, daß man in den Gasthöfen durchaus an eine »Überfütterung« gewöhnt wird: weshalb ich in ihnen nicht mehr essen mag. Ebenfalls ist mir ganz klar, daß eine zeitweilige Enthaltsamkeit von Fleisch, aus diätetischen Gründen, äußerst nützlich ist. Aber warum, um mit Goethe zu reden, daraus »Religion machen«? Dies liegt aber in allen solchen Absonderlichkeiten unvermeidlich eingeschlossen, und wer erst für Pflanzenkost reif ist, ist es meist auch für sozialistisches »Allerlei«.

Auch in diesem Punkte hat Schopenhauer mit der unfehlbaren[1015] Sicherheit seines großen Instinktes das Richtige gesagt und getan. Du kennst die Stelle.

Doch will ich von diesem Punkte nicht mehr reden. Wohl aber noch von allem, was sich auf unsern Meister bezieht – dessen Bild ich, beiläufig, noch nicht bekommen habe. Ich stehe jetzt wirklich in einem Zentrum von Schopenhauerischen Fäden, in alle Welt ausgespannt. Wenn wir einmal wieder zusammenkommen, werde ich Dir von Wenkels Schopenhauertum erzählen, ebenso von Wagners, der durchaus durchdrungen und geweiht ist von dieser Philosophie: ich werde Dir die denkwürdigsten und gedankenreichsten Briefe meiner Freunde Dr. Rohde (in Florenz) und Dr. Romundt (Leipzig) vorlesen, die alle auf das tiefste und bestimmendste von jener Philosophie gepackt sind. Um schließlich von mir zu reden, so durchdringt jene mir innerlichst sympathische Weltanschauung von Tag zu Tag mehr mein Denken, auch mein wissenschaftliches: wie Du es vielleicht merken wirst, wenn ich Dir bald einmal meine Basler Antrittsrede im Manuskript zuschicke. Sie handelt »Über die Persönlichkeit Homers«: man muß schon tüchtig sich in Schopenhauer hineingelebt haben, um an ihr zu fühlen, wo alles der bestimmende Zauber seiner eigentümlichen Denkart mächtig ist.

Im nächsten Winter werde ich Gelegenheit haben in unserem Sinne nützlich zu sein, da ich Geschichte der vorplatonischen Philosophie und eine Vorlesung über Homer und Hesiod angekündigt habe. Auch werde ich zwei öffentliche Reden halten »Über die Ästhetik der griechischen Tragiker, zb. über das antike Musikdrama«, und Wagner wird dazu aus Tribschen herüberkommen.

Ich habe Dir schon geschrieben, von welchem Werte mir dieser Genius ist: als die leibhafte Illustration dessen, was Schopenhauer ein »Genie« nennt.

Mit meiner akademischen Tätigkeit, deren erstes Semester ich nun glücklich beendet habe, darf ich wohl zufrieden sein. Merke ich doch an meinen Zuhörern die geweckteste Teilnahme und wirkliche Sympathie für mich, die sich darin äußert, daß sie oft und gerne sich bei mir Rats erholen.

Aber es ist ein anstrengendes Leben, das glaube mir.

Ach wenn ich doch nicht alle diese Worte hätte schreiben müssen![1016] Alle Wärme, Unmittelbarkeit und Energie des Gefühls sind dahin, wenn erst das Wort, in Alizarintinte gehüllt, auf dem Papier steht. Und doch erwarte ich etwas von dem Briefe. Oder darf ich dies nicht?

Jedenfalls doch eine baldige Antwort?

In herzlicher Gesinnung und treuer Freundschaft,

auch mit bestem Gruße an Deine guten Freunde

Friedr. Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1013-1017.
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