50.
An Wilhelm Vischer (-Bilfinger)

[1037] [Basel, vermutlich Januar 1871]


Verehrtester Herr Ratsherr, für die nachfolgende Kombination brauche ich in besonderem Maße Ihren wohlwollenden Rat und Ihre mir schon mehrfach bewährte wahre Teilnahme. Sie werden sehen, daß ich das Wohl der Universität ernsthaft ins Auge gefaßt habe, und daß deren wirkliches Interesse mich zu der folgenden, etwas ausführlichen Auseinandersetzung nötigt.

Es wird Ihnen von meinen Ärzten mitgeteilt worden sein, in welchem Grade ich wieder leidend bin und daß an diesen unerträglichen Zuständen Überanstrengung schuld sei. Nun habe ich mich wiederholt gefragt, woraus dieser sich in der Mitte fast jeden Semesters einstellende Zustand der Überanstrengung zu erklären sei; und ich mußte mir sogar überlegen, ob ich nicht meine Universitätstätigkeit überhaupt abzubrechen habe, als eine für meine Natur ungeeignete Lebensweise. Schließlich bin ich aber in dieser Beziehung zu einer anderen Auffassung gelangt, die ich Ihnen jetzt vortragen möchte.

Ich lebe hier in einem eigentümlichen Konflikt, und der ist es, der mich so erschöpft und selbst körperlich aufreibt. Von Natur auf das stärkste dazu gedrängt, etwas Einheitliches philosophisch durchzudenken und in langen Gedankenzügen andauernd und ungestört bei einem Problem zu verharren, fühle ich mich immer durch den täglichen mehrfachen Beruf und dessen Art hin und her geworfen und aus der Bahn abgelenkt. Dieses Nebeneinander von Pädagogium und Universität halte ich kaum auf die Länge aus, weil ich fühle, daß meine eigentliche Aufgabe, der ich im Notfalle jeden Beruf opfern müßte, meine philosophische, dadurch leidet, ja zu einer Nebentätigkeit erniedrigt wird. Ich glaube, daß diese Schilderung auf das schärfste das bezeichnet, was mich hier so aufreibt und mich zu keiner gleichmäßigheiteren Berufserfüllung kommen läßt, was andererseits meinen Körper erschöpft und bis zu solchen Leiden anwächst, wie die jetzigen sind: die, wenn sie öfter wiederkehren sollten, mich rein physisch zwingen würden, jeden philologischen Beruf aufzugeben.

In diesem Sinne erlaube ich mir, mich bei Ihnen um die durch Teichmüllers Weggang erledigte philosophische Professur zu bewerben.[1037]

Was meine persönliche Berechtigung, den philosophischen Lehrstuhl zu ambitionieren, betrifft: so muß ich allerdings mein eignes Zeugnis voranstellen, daß ich dazu Potenz und Kenntnisse zu besitzen glaube und mich sogar, alles in allem, für jenes Amt befähigter fühle als für ein rein philologisches. Wer mich von meinen Schul- und Studentenjahren kennt, ist nie über die Prävalenz der philosophischen Neigungen im Zweifel gewesen; und auch in den philologischen Studien hat mich vorzugsweise das angezogen, was entweder für die Geschichte der Philosophie oder für die ethischen und ästhetischen Probleme mir bedeutsam erschien. Sodann stimme ich völlig Ihrem Urteile bei und mache es für mich geltend, daß bei der augenblicklichen etwas schwierigen Lage der Universitätsphilosophie und bei der geringen Zahl der wirklich geeigneten Bewerber derjenige einiges Anrecht mehr hat, der eine solide philologische Bildung aufzuweisen hat und bei den Studierenden die Teilnahme für eine sorgfältige Interpretation des Aristoteles und Plato wecken kann. Ich erinnere daran, daß ich bereits zwei Kollegien angekündigt habe, die in diesem Sinne philosophischer Natur waren »Die vorplatonischen Philosophen mit Interpretation ausgewählter Fragmente« und »Über die platonische Frage«. So lange ich Philologie studiere, bin ich nie müde geworden, mich mit der Philosophie in enger Berührung zu erhalten; ja meine Hauptteilnahme war immer auf Seiten der philosophischen Fragen, wie mir mancher bezeugen kann, der mit mir umgegangen ist. Von hiesigen Kollegen möchte z. B. Overbeck darüber einigen Aufschluß geben können, von auswärtigen keiner mehr als mein Freund Dr. Rohde, Privatdozent in Kiel. Es ist eigentlich nur dem Zufall zuzuschreiben, daß ich nicht von vornherein für Philosophie meine Universitätspläne gemacht habe: dem Zufall, der mir einen bedeutenden und wahrhaft anregenden philosophischen Lehrer versagte: worüber man bei der jetzigen Konstellation der philosophischen Zustände an Universitäten sich gewiß nicht wundern darf. Gewiß aber würde hierin einer meiner wärmsten Wünsche erfüllt, wenn ich auch hier der Stimme meiner Natur folgen dürfte: und ich glaube hoffen zu können, daß nach Beseitigung jenes vorhin erwähnten Konflikts auch mein körperliches Befinden ein bei weitem regelmäßigeres sein wird. Als befähigt für eine philosophische Lehrstelle werde ich mich bald genug[1038] öffentlich ausweisen können: meine gedruckten Arbeiten über Laertius Diogenes sind jedenfalls auch für meine philosophisch-historischen Bestrebungen geltend zu machen. Für pädagogische Fragen und Untersuchungen habe ich immer Teilnahme gehabt: darüber lesen zu dürfen wird mir eine Freude sein. Von neueren Philosophen habe ich mit besonderer Vorliebe Kant und Schopenhauer studiert. Sie haben aus den letzten zwei Jahren gewiß von mir den guten Glauben gewonnen, daß ich das Unpassende und Anstößige zu vermeiden verstehe und daß ich unterscheiden könne, was sich im Vortrag vor Studierenden schickt, was nicht.

Wenn ich Ihnen nun meine Kombination völlig darstellen darf, so hatte ich geglaubt, daß sie in Rohde einen überaus geeigneten Nachfolger für meine philologische Professur und Stelle am Pädagogium finden würden. R., mir seit vier Jahren auf das genaueste bekannt, ist von allen jüngeren Philologen, die mir vorgekommen sind, der allerbefähigtste und für jede Universität, die ihn erwirbt, ein wahrer Schmuck; zudem ist er wirklich noch zu haben, während ich höre, daß man in Kiel damit umgeht, durch Gründung einer neuen philologischen außerordentlichen Professur ihn dauernd dort festzuhalten. Ich kann nicht genug aussprechen, wie sehr mir das Dasein hier in Basel durch die Nähe meines besten Freundes erleichtert würde. – Die ganze Konversion der Dinge könnte sofort mit dem Beginn des neuen Sommersemesters beginnen, so daß also keinerlei Lücken in der Besetzung der Stellen einträte. Ich meinerseits wäre sofort bereit, Ihnen die Ankündigung meiner philosophischen Vorlesungen zu machen und würde durch eine regelmäßige Antrittsvorlesung im Anfange des Sommers meine neue Stellung inaugurieren.

Lassen Sie sich, verehrtester Herr Ratsherr, von der Sonderbarkeit der vorgeschlagnen Kombination nicht erschrecken und würdigen Sie dieselbe einer Erwägung.

Um Ihre Nachsicht, Ihren Rat, Ihre Teilnahme bittend

bin ich in hochachtungsvoller Ergebenheit der Ihrige

Dr. Fr. Nietzsche Prof. o. p. der klass. Philol.[1039]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1037-1040.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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