55.
An Gustav Krug

[1046] Basel, 13. Nov. 71


Diesen Gruß,

lieber Freund,

zum Angebinde,[1046]

daß Dich nicht

Ärgernuß

nage und schinde,

sondern daß

Frohgemüt

Dich führe und leite,


Freunden zum Trost,

Feinden jedoch

zu ewigem Neide!


Dieses carmen ist nach einer eignen barbarischen Weise abzusingen, die ich auch zu Deinen Ehren erfunden habe. Bei unserer nächsten Zusammenkunft will ich sie mündlich weiter fortpflanzen. Auf Papier geschrieben verdorrt sie.

Welche angenehme Erinnerung habe ich von mei nen Naumburger Herbsttagen mitgenommen! Seit langer Zeit habe ich nicht so im Genusse der Freundschaft, der Heimat, der Vergangenheit und Gegenwart geschwelgt, und ich bin meinen werten Freunden herzlichen Dank schuldig. In einer ganz seltnen Weise hat sich das Wohlgefühl über jene hellen und warmen Herbsttage bei mir noch hinterdrein manifestiert, in einer Weise, die Deine Teilnahme erwecken wird, mein lieber Freund. Du weißt daß ich seit sechs Jahren nichts mehr komponiert habe (seit jenem Kyrie habe ich nicht mehr die Feder zu einem Notenkopfe gespitzt) und siehe! oder höre!

Inzwischen ist ein sonderbares Opus fertig geworden, gleichsam aus der Luft gefallen. Das erste Motiv war nur, etwas von meinen früheren Sachen vierhändig zuzurichten, so daß ich es mit meinem Kollegen Overbeck zu spielen vermöchte. Ich verfiel auf jene »Silvesternacht«: aber kaum hatte ich das Notenpapier gekauft, so verwandelte sich alles unter meinen Händen, und von dem ersten Takte an ist es etwas völlig Neues geworden. Der lange Titel dieses vierhändigen Satzes, dessen Ausführung 20 Minuten dauert, lautet: »Nachklang einer Silvesternacht, mit Prozessionslied, Bauerntanz und Mitternachtsglocke«. –

Du weißt, wie erstaunt ich war, Dich noch bei frischer Komponierstimmung anzutreffen, und ich kam mir wer weiß wie verwelkt oder auch »weise« vor, daß ich darin mich seit 6 Jahren resigniert hatte. Und nun hinterdrein! Du siehst, was Dein Beispiel an mir gefruchtet[1047] hat! Im übrigen bin ich jetzt, wo ich das Werk hinter mir habe, fast auf dem früheren Punkte und denke nicht daran weiter zu komponieren: weshalb ich sagte, diese Komposition sei aus der Luft gefallen. Jedenfalls klingt sie gut: sie hat etwas Populäres, gerät nie ins Tragische, wenn auch ins Ernste und Wehmütige. Mitunter ist sie triumphierend, ja auch schmerzlich ausgelassen, kurz – wenn Du Dich unserer Ferienstimmungen erinnern willst, der Spaziergänge über den Knabenberg, bis auf »das Ding an sich«, so wirst Du eine Exemplifikation dieser »dionysischen Manifestation« haben. Das Ganze ist auf wenig Themen aufgebaut, in der Tonfarbe freilich orchestral, ja förmlich gierig nach Orchestration, aber Du weißt – hier kann ich nicht mehr mit. Die Geburtstage sind der 1te bis 7te November: es ist ein so reinliches Manuskript, daß ich mit Overbeck es immer aus der ersten Niederschrift bis jetzt gespielt habe. Jetzt schreibe ich es nochmal ab, um meiner ausgezeichneten und verehrten Freundin, Frau Cosima W., ein Geburtstagsgeschenk machen zu können.

Jetzt macht das neue Semester seine Ansprüche: meine Interessen sind auf Plato und auf lateinische Epigraphik gerichtet. Da höre ich die Muse der Tonkunst nur noch aus weiter Ferne –

Ich sinne darüber nach, wie ich Dir einmal einen Eindruck von meiner Komp. verschaffe. Jedenfalls bei unserem nächsten Zusammensein. Denn schließlich bist Du der einzige, der etwas Teilnahme für solche Extravaganzen haben wird: bei anderen Menschen setze ich nur ein gewisses Mißtrauen in diesem Punkte voraus. Was tut es und wem schadet es, wenn ich mich alle 6 Jahre einmal durch eine dionysische Weise von dem Banne der Musik freikaufe! Denn so betrachte ich diesen musikalischen Exzeß, als einen Freibrief. Es ist ein Nachklang, auch für meine musikalische Lebenszeit, ein Silvesternachklang aus einem Musikjahre. – Jetzt hoffe ich, daß durch meinen rapiden Verlauf auch wiederum Dein Quartett gefördert wird: daß wir wieder einmal, nach alter Germania-Gewohnheit, eine »Synode« halten und dieselbe mit einem »Konzert eigner Kompos.« schließen können. – Möge Dich und unsern lieben gemeinsamen Freund Wilhelm ein guter Genius, auch auf allen juristischen Bahnen, führen und leiten.
[1048]

Freunden zum Trost,

Feinden jedoch

zu ewigem Neide!


F W Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1046-1049.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
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