75.
An Richard Wagner

[1080] [Basel, Mitte November 1872]


Geliebter Meister, nach allem, was mir in der letzten Zeit widerfahren ist, habe ich wahrhaftig am allerwenigsten ein Recht, irgendwie mißmutig zu sein, denn ich lebe wirklich inmitten eines Sonnensystems von Freundesliebe, trostvollem Zuspruch und erquickenden Hoffnungen. Doch gibt es einen Punkt, der mich augenblicklich sehr beunruhigt: unser Wintersemester hat begonnen und ich habe gar keine Studenten! Unsre Philologen sind ausgeblieben! Es ist eigentlich ein Pudendum und ängstlich vor aller Welt zu verschweigen. Ihnen, geliebter Meister, erzähle ich es, weil Sie alles wissen sollen. Das Faktum ist nämlich so leicht zu erklären – ich bin unter meiner Fachgenossenschaft plötzlich so verrufen geworden, daß unsre kleine Universität Schaden leidet! Das quält mich sehr, weil ich wirklich derselben sehr ergeben und dankbar bin und am allerwenigsten ihr schaden möchte; jetzt aber feiern meine philologischen Kollegen, auch der Ratsherr Vischer, etwas, was er in seiner ganzen akademischen Laufbahn noch nicht erlebt hat. Bis zum letzten Halbjahr war die Philologenzahl immer im Wachsen – jetzt plötzlich wie weggeblasen! Doch entspricht es dem, was mir aus andern Universitätsstädten zu Ohren kommt. Leipzig natürlich blüht wieder in Scheelsucht und Dünkel, alles verurteilt mich und selbst diejenigen, »die mich kennen«, kommen nicht über den Standpunkt hinaus, mich wegen dieser »Absurdität« zu bemitleiden. Ein von mir sehr geachteter Philologieprofessor in Bonn hat seine Studenten einfach damit beschieden, mein Buch sei »barer Unsinn«, mit dem man rein nichts anfangen könne; jemand, der so etwas schreibe, sei wissenschaftlich tot. So ist mir denn auch von einem Studenten berichtet worden, der erst nach Basel kommen wollte, dann in Bonn zurückgehalten wurde und nun an einen Baseler Verwandten schrieb, er danke Gott, nicht an eine Universität gegangen zu sein, wo ich Lehrer sei. Glauben Sie nun, daß Rohdes edelmutige Tat etwas anderes erzeugen wird als Haß und Mißgunst zu verdoppeln und gegen uns zwei zu richten? Das nämlich erwarten wir, Rohde und ich, mit der größten Bestimmtheit. Das wäre aber allenfalls noch zu ertragen, aber der einer kleinen Universität von mir erwiesene Schaden, einer Universität, die mir viel Vertrauen geschenkt[1080] hat, schmerzt mich sehr und dürfte auf die Dauer mich zu Entschlüssen drängen, die bei mir schon aus andern Rücksichten immer von Zeit zu Zeit einmal auftauchen. – Übrigens kann ich dieses Winterhalbjahr gut benutzen, da ich jetzt nur noch, als einfacher Schulmeister, auf das Pädagogium angewiesen bin.

Das also war der »dunkle Punkt«, sonst nämlich ist alles Licht und Hoffnung. Ich müßte ein sehr moroser Maulwurf sein, wenn ich nicht durch solche Briefe, wie Sie sie mir schicken, zum Freudesprung begeistert würde. Also Sie kommen! Ich preise mein Glück und den Zahnarzt, denn diese Überraschung hätte ich nie zu träumen gewagt. Wollen Sie es diesmal vielleicht mit den »Drei Königen« versuchen? Ich halte sie für besser als Euler, in diesem Sommer habe ich mit meiner Schwester dort gegessen und einen sehr vergnügten Tag mit Fraulein von Meysenbug und dem Brautpaar Herzen-Monod verlebt.

Ihre herrliche Schrift über Schauspieler und Sänger hat bei mir wieder die Sehnsucht erregt, es möge jemand einmal aus Ihren ästhetischen Forschungen und Feststellungen einen zusammenfassenden Bericht machen, um zu zeigen, daß inzwischen sich die ganze Kunstbetrachtung so verändert, vertieft und bestimmt hat, daß von der traditionellen »Ästhetik« im Grunde nichts mehr übrig bleibt. Ich hatte auf dem Splügen gerade auch über die choreographische Bestimmtheit der griechischen Tragödie nachgedacht, über den Zusammenhang der Plastik mit der Mimik und Gruppenbildung der Schauspieler: gerade auch dies glaubte ich erkannt zu haben, wie viel Äschylus selbst jenes Beispiel gegeben hat, von dem Sie reden: so daß selbst in unsren Texten durch wundersame Zahlensymmetrien sich Symmetrien der Bewegung erraten lassen; und ich knüpfte an Ihre Tragödien die herrliche Hoffnung, daß von hier aus Maß, Ziel und Regel für einen deutschen Stil der Bewegung, der plastischen Wirklichkeit sich finden müsse. Mit diesen vorbereitenden Gedanken las ich Ihre Schrift wie eine Offenbarung. –

Nun kam Rohdes Schrift: nicht wahr, ich hatte ein Recht zu behaupten, nach dem Erscheinen des Pamphlets, daß ich selbst im kleinsten Nebenpunkte recht habe? Es ist doch immer hübsch, wenn man dies dann durch einen zweiten bewiesen liest. Denn mitunter wird man gegen sich selbst mißtrauisch, wenn die ganze Fachgenossenschaft[1081] so einmütig in feindseligem Widerspruche ist. Was hat aber der arme Freund leiden müssen, um sich so lange mit einem solchen »Troßbuben« herumzuschlagen! Wenn er es ausgehalten hat, so hat ihm der Hinblick auf Sie, geliebter Meister, den Mut und die Kraft gegeben. Wir sind nun beide so glücklich, ein Vorbild zu haben – und wie beneidenswert stehe ich da, einen solchen Freund wie Rohde zu besitzen, nicht wahr?

Als Kuriosum erzähle ich noch, daß ich neulich von einem Musiker über einen Operntext zu Rate gezogen wurde, im Grunde mit dem Wunsche, ich möge ihn selbst machen. Ich habe ihm eine weise Epistel geschrieben und sehr abgeraten: dagegen solle er eine gute Kantate komponieren, nämlich die »Walpurgisnacht« Goethes noch einmal, nur besser als Mendelssohn! Ob er wohl folgen wird? – Das Ganze ist aber doch sehr spaßhaft. –

In der Hoffnung, daß Sie, bei Ihrer Wanderung im lieben niederträchtigen Deutschland, den bewährten Bayreuther Glücksgriff haben, und mit dem Wunsche, recht bald eine Weisung zu erhalten, was etwa für Ihren hiesigen Aufenthalt vorzubereiten wäre, sage ich Ihnen heute von ganzem Herzen Lebewohl! und auf Wiedersehn!

Ihr alter Getreuer F. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1080-1082.
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