82.
An Malwida von Meysenbug

[1093] Basel, 11. Febr. 1874


Verehrte Freundin! Ich wußte gar nicht mehr, wo ich Sie mit meinen Gedanken suchen sollte; von Gersdorff erfuhr ich nur, daß Ihre Bayreuther Existenz ein Ende erreicht habe; nun höre ich, wo Sie sind, einsam und krank, so daß ich am liebsten gleich Ihnen nachgereist wäre, wenn es nur irgendwie mit meinem Amt, mit meinen Pflichten verträglich wäre. Dafür verspreche ich Ihnen einen Besuch in Rom. Oder wäre es nicht in Erwägung zu ziehen, ob Genf oder Lugano Ihrer Gesundheit wohltut; zeitweilig habe ich selbst daran gedacht,[1093] Ihnen Basel vorzuschlagen, denn bis jetzt haben wir einen milden und sonnigen Winter gehabt, und erst seit gestern gibt es Schnee und wirkliche Kälte. Wenigstens weiß ich, daß der Unterschied unseres Klimas mit dem Bayreuther bedeutend ist, und daß wir das Blühen der Bäume fast vier Wochen früher haben. Sehen Sie in diesem Vorschlage nichts, als den herzlichsten Wunsch, Ihnen einmal wieder nähergerückt zu sein; denn ein Leiden haben wir miteinander gemeinsam, welches schwerlich andere Men schen so stark empfinden, das Leiden um Bayreuth. Denn, ach, unsere Hoffnungen waren zu groß! Ich versuchte erst, gar nicht mehr an die dortige Not zu denken, und, da dies nicht anging, habe ich in den letzten Wochen so viel als möglich daran gedacht und alle Gründe scharf geprüft, weshalb das Unternehmen stockt, ja weshalb es vielleicht scheitert. Vielleicht teile ich Ihnen später etwas von diesen Betrachtungen mit; zunächst, nämlich etwa in vierzehn Tagen, bekommen Sie etwas anderes von mir, die von Ihnen erwartete Numero 2 mit dem Titel »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Die Numero 2 erinnert mich daran, daß man gestern in Ludwigsburg David Strauß begraben hat.

Und was macht Frau Monod, und ist es wahr, daß sie einen Knaben geboren hat?

Sie sehen, ich diktierte bis jetzt, also geht es meinen Augen nicht gut. Doch jedenfalls besser. Ach könnte ich Ihnen helfen! Oder irgendwie nützen! Ich denke mit Mitleiden an Sie Arme und bewundere, wie Sie das Leben zu ertragen wissen. Dagegen gerechnet bin ich ein Glücksprinz und muß mich schämen. Meine Wünsche sind um Sie!

Ihr Friedr. Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1093-1094.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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