92.
An Malwida von Meysenbug

[1111] Steinabad, 11. August 1875


Hochverehrte Freundin, es ist nicht Undankbarkeit, sondern Not, was mich so lange verstummen machte, das glauben Sie mir wohl gern. Ich weiß nichts Besseres als daran zu denken, wie ich doch in den letzten Jahren immer reicher an Liebe geworden bin; und dabei fällt mir Ihr Name und Ihre treue tiefe Gesinnung immer zuerst mit ein. Wenn mir nun die Möglichkeit fehlt, solchen, die mich lieben, Freude zu machen, ja selbst der Glaube daran, so fühle ich mich ärmer und beraubter als je – und in so einer Lage war ich. Es war mir, meiner Gesundheit wegen, so aussichtslos zumute, daß ich glaubte, ich müßte nun unter-ducken und wie an einem heißen drückenden Tage nur eben unter der Schwüle und Last so fortschleichen. Alle meine Pläne veränderten sich danach und immer überlief's mich schmerzlich bei dem Gedanken: deine Freunde haben Besseres von dir erwartet, sie müssen nun ihre Hoffnungen fahren lassen und haben keinen Lohn für ihre Treue. – Kennen Sie diesen Zustand? Ich bin jetzt über ihn wieder hinaus, weiß aber nicht, auf wie lange – doch mache ich wieder Entwürfe über Entwürfe und suche mein Leben in einen Zusammenhang zu bringen – ich tue nichts lieber, nichts angelegentlicher, sobald ich nur einmal wieder allein bin. Daran habe ich einen förmlichen Barometer für meine Gesundheit. Unsereins, ich meine Sie und mich, leidet nie rein körperlich, sondern alles ist mit geistigen Krisen tief durchwachsen, so daß ich gar keinen Begriff habe, wie ich je aus Apotheken und Küchen allein wieder gesund werden könnte. Ich meine, Sie wissen und glauben das so fest wie ich und ich sage Ihnen etwas recht Überflüssiges!

Das Geheimnis aller Genesung für uns ist, eine gewisse Härte der Haut wegen der großen innerlichen Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit zu bekommen. Von außen her darf uns wenigstens so leicht nichts mehr anwehen und zustoßen; wenigstens quält mich nichts mehr als wenn man so auf beiden Seiten ins Feuer kommt, von innen her und von außen. – Meine durch die gute Schwester eingerichtete Häuslichkeit, die ich in den nächsten Tagen kennenlernen werde, soll für mich so eine neue feste harte Haut werden, es macht mich glücklich, mich in mein Schneckenhaus hineinzudenken. Sie wissen, nach[1111] Ihnen und einigen wenigen strecke ich die Fühlhörner immerdar mit Liebe aus, verzeihen Sie den tierischen Ausdruck.

Ihnen und allen, die Ihnen am Herzen liegen, das Beste wünschend

Ihr allzeit getreuer Friedrich Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1111-1112.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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