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[1126] Basel, den 27. Sept. 1876
Hochverehrter Freund! Sie haben mir durch den kleinen Auftrag, welchen Sie mir erteilten, Freude gemacht: es erinnerte mich an die Tribschener Zeiten. Ich habe jetzt Zeit, an Vergangenes, Fernes wie Nahes, zu denken, denn ich sitze viel im dunkelen Zimmer, einer Atropin-Kur der Augen wegen, welche man nach meiner Heimkehr für nötig fand. Der Herbst, nach diesem Sommer, ist für mich, und wohl nicht für mich allein, mehr Herbst als ein früherer. Hinter dem großen Ereignisse liegt ein Streifen schwärzester Melancholie, aus dem man sich gewiß nicht schnell genug nach Italien oder ins Schaffen oder in beides retten kann. Wenn ich Sie mir in Italien denke, so vergegenwärtige ich mir, daß Ihnen dort die Inspiration zum Anfange der Rheingold-Musik kam. Möge es für Sie immer das Land der Anfänge bleiben! Sodann werden Sie die Deutschen eine Zeitlang los, und es scheint dies hie und da nötig zu sein, um etwas Ordentliches für sie tun zu können.
Sie wissen vielleicht, daß ich auch im nächsten Monat nach Italien gehe, aber nicht, wie ich meine, als in ein Land der Anfänge, sondern des Endes meiner Leiden. Diese sind wieder auf einem Höhepunkte; es ist wirklich die höchste Zeit: meine Behörden wissen, was sie tun, wenn sie mir ein ganzes Jahr Urlaub geben, obgleich dieses Opfer für ein so kleines Gemeinwesen unverhältnismäßig groß ist; sie würden mich nämlich auf eine oder die andere Weise verlieren, wenn sie mir[1126] nicht diesen Ausweg eröffneten; ich habe in den letzten Jahren, dank der Langmütigkeit meines Temperamentes, Schmerzen über Schmerzen eingeschluckt, wie als ob ich dazu und zu nichts weiterem geboren wäre. Der Philosophie, welche dies etwa lehrt, habe ich praktisch meinen Tribut in reichem Maße gezahlt. Diese Neuralgie geht so gründlich, so wissenschaftlich zu Werke, sie sondiert förmlich, bis zu welcher Grenze ich den Schmerz aushalten kann, und nimmt sich zu dieser Untersuchung jedesmal dreißig Stunden Zeit. Alle vier bis acht Tage muß ich auf eine Wiederholung dieses Studiums rechnen: Sie sehen, es ist die Krankheit eines Gelehrten; – aber nun habe ich es satt, und ich will gesund leben oder nicht mehr leben. Völlige Ruhe, milde Luft, Spaziergänge, dunkele Zimmer – das erwarte ich von Italien; mir graut davor, dort etwas sehen oder hören zu müssen. Glauben Sie nicht, daß ich morose bin; nicht die Krankheiten, nur die Menschen vermögen mich zu verstimmen, und ich habe immer die hilfbereitesten, rücksichtsvollsten Freunde um mich. Zuerst nach meiner Rückkehr den Moralisten Dr. Rée, jetzt den Musiker Köselitz, denselben, der diesen Brief schreibt; auch Frau Baumgartner will ich unter den guten Freunden nennen; vielleicht freut es Sie zu hören, daß die französische Übersetzung meiner letzten Schrift (Richard Wagner in Bayreuth) von der Hand dieser Frau im nächsten Monat gedruckt wird.
Käme der »Geist« über mich, so würde ich Ihnen einen Reisesegen dichten; aber dieser Storch hat sein Nest neuerdings nicht auf mir gebaut: was ihm zu verzeihen ist. So nehmen Sie denn mit den herzlichsten Wünschen fürlieb, die Ihnen als gute Begleiter folgen mögen: Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin, meiner »edelsten Freundin«, um dem Juden Bernays einen seiner unerlaubtesten Germanismen zu entwenden.
Treulich, wie immer der Ihrige Friedrich Nietzsche
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