108.
An Sophie Ritschl

[1129] [Sorrent, Januar 1877]


Verehrteste Frau, nur andauernde Krankheit und das wirkliche Unvermögen, Briefe zu schreiben, konnte der Grund sein, welcher mich abhielt, so lange Zeit abhielt, Ihnen mein tiefstes Mitgefühl zu erkennen zu geben; denn ich habe auf ein Jahr Basel verlassen und hier in Sorrent Genesung suchen müssen und fange eben erst an, die Gesundheit aus der Ferne zu sehen.

Wie oft ist die Gestalt des großen geliebten Lehrers an mir seit jener Trauerbotschaft vorübergeschwebt, wie oft durchlief ich im Geiste jene nun schon so fernen Zeiten eines fast täglichen Zusammenseins mit ihm und erwog die zahllosen Beweise seiner wohlwollenden und wahrhaft hilfreichen Gesinnung. Ich bin glücklich, noch aus dem letzten Jahre ein kostbares Zeugnis seiner unveränderten Milde und Herzlichkeit für mich in einem Briefe zu besitzen und mir vorstellen zu dürfen, daß er, auch wo er mir nicht recht geben konnte, mich doch vertrauensvoll gewähren ließ. Ich glaubte, daß er den Tag noch erleben würde, da ich ihm öffentlich den Dank und die Ehre geben könnte, so wie es längst mein Herz wünschte, und in einer Art, daß auch er vielleicht sich daran hätte freuen können. Heute trauere ich nun an seinem Grabe und muß, meiner üblen Gesundheit nachgebend, auch mein Totenopfer noch auf eine unbestimmte Zukunft verschieben.

Was mit ihm, abgesehen von allem persönlichen Verluste, überhaupt verloren gegangen ist, ob nicht in ihm der letzte große Philologe zu Grabe getragen wurde – das weiß ich nicht mit Sicherheit zu beantworten. Aber ob die Antwort so oder ganz anders ausfalle – daß in seinen Schülern eine nie erhörte Fruchtbarkeit seiner Wissenschaft verbürgt sei –, jede Antwort fällt zu seiner Ehre aus: es ist ein gleich[1129] großer Ruhm, der letzte der Großen oder der Vater einer ganzen großen Periode zu heißen.

Empfangen Sie die wärmsten Wünsche eines Ihnen immerdar aufrichtig ergebenen und mit Ihnen trauernden Freundes.

Ihr Friedrich Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1129-1130.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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