127.
An Mathilde Maier

[1152] Interlaken, 15. Juli 1878


Verehrtestes Fräulein, es ist nicht zu ändern: ich muß allen meinen Freunden Not machen – eben dadurch, daß ich endlich ausspreche, wodurch ich mir selber aus der Not geholfen habe. Jene metaphysische Vernebelung alles Wahren und Einfachen, der Kampf mit der Vernunft gegen die Vernunft, welcher in allem und jedem ein Wunder und Unding sehen will, – dazu eine ganz entsprechende Barockkunst der Überspannung und der verherrlichten Maßlosigkeit – ich meine die Kunst Wagners –, dies beides war es, was mich endlich krank und kränker machte und mich fast meinem guten Temperamente und meiner Begabung entfremdet hätte. Könnten Sie mir nachfühlen, in welscher reinen Höhenluft, in welcher milden Stimmung gegen die Menschen, die noch im Dunst der Täler wohnen, ich jetzt hinlebe, mehr als je entschlossen zu allem Guten und Tüchtigen, den Griechen um hundert Schritt näher als vordem: wie ich jetzt selber bis ins kleinste, nach Weisheit strebend lebe, während ich früher nur die Weisen verehrte und anschwärmte – kurz wenn Sie diese Wandelung und Krisis nur nachempfinden können, oh so müßten Sie wünschen, etwas Ähnliches zu erleben!

Im Bayreuther Sommer wurde ich mir dessen völlig bewußt: ich flüchtete nach den ersten Aufführungen, denen ich beiwohnte, fort ins Gebirge, und dort, in einem kleinen Walddorfe, entstand die erste Skizze, ungefähr ein Drittel meines Buches, damals unter dem Titel »Die Pflugschar«. Dann kehrte ich, dem Wunsche meiner Schwester folgend, nach Bayreuth zurück und hatte jetzt die innere Fassung, um das Schwer-Erträgliche doch zu ertragen – und schweigend, vor jedermann! – Jetzt schüttele ich ab, was nicht zu mir gehört, Menschen, als Freunde und Feinde, Gewohnheiten, Bequemlichkeiten, Bücher; ich lebe in Einsamkeit auf Jahre hinaus, bis ich wieder, als Philosoph des Lebens, ausgereift und fertig verkehren darf (und dann wahrscheinlich muß).

Wollen Sie mir, trotz alledem, so gut bleiben, wie Sie mir waren, oder vielmehr, werden Sie es können? Sie sehen, ich bin auf einem Grad der Ehrlichkeit angelangt, wo ich nur die allerreinlichsten menschlichen Beziehungen ertrage. Halben Freundschaften und gar[1152] Parteischaften weiche ich aus, Anhänger will ich nicht. Möge jeder (und jede) nur sein eigner wirklicher Anhänger sein!

Ihnen von Herzen dankbar zugetan

F. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1152-1153.
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