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[1161] [Naumburg, Januar 1880]
Lieber Herr Doktor! Herzlichen Dank! Gerade dieser Tage dachte ich Ihrer, es verlangte mich mit Ihnen einmal wieder zu reden; es gibt niemanden Vertrauenswürdigeren als Sie. Aber um einen Brief zu wagen, muß ich durchschnittlich vier Wochen warten, bis die erträgliche[1161] Stunde kommt – und hinterdrein habe ich's noch zu büßen! Deshalb Verzeihung, wenn alles auf meiner Seite beim alten bleibt – – schweigend, aber in Liebe.
Meine Existenz ist eine fürchterliche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte – diese erkenntnis-durstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit siege. Im ganzen bin ich glücklicher als je in meinem Leben: und doch! Beständiger Schmerz, mehrere Stunden des Tags ein der Seekrankheit engverwandtes Gefühl, eine Halb-Lähmung, wo mir das Reden schwer wird, zur Abwechslung wütende Anfalle (der letzte nötigte mich drei Tage und Nächte lang zu erbrechen, ich dürstete nach dem Tode). Nicht lesen können! Sehr selten schreiben! Nicht verkehren mit Menschen! Keine Musik hören können! Allein sein und spazieren gehen. Bergluft, Milch- und Eier-Diät. Alle inneren Mittel zur Milderung haben sich nutzlos erwiesen, ich brauche nichts mehr. Die Kälte ist mir sehr schädlich.
Ich will in den nächsten Wochen südwärts, um die Spazierengehn-Existenz zu beginnen.
Mein Trost sind meine Gedanken und Perspektiven. Ich kritzele auf meinen Wegen hie und da etwas auf ein Blatt, ich schreibe nichts am Schreibtisch, Freunde entziffern meine Kritzeleien. Das letzte, womit meine Freunde fertig geworden sind, folgt nebenbei: nehmen Sie es gütig auf, auch wenn es vielleicht Ihrer eignen Denkungsart weniger willkommen ist. (Ich selber suche keine »Anhänger« – glauben Sie es mir! –, ich genieße meine Freiheit und wünsche diese Freude allen zur geistigen Freiheit Berechtigten.)
Ihre liebe Frau steht vor mir als eine edle und starke Seele, welche mir wohl will. Ich bin und bleibe Ihr
getreuer F. Nietzsche
Naumburg. –
Ich habe schon einige Male längere Bewußtlosigkeiten gehabt. Im letzten Frühjahr hatte man mich in Basel aufgegeben.
Nach der letzten Untersuchung hat die Sehkraft wieder erheblich abgenommen.[1162]
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